Mittwoch, 15. Dezember 2004


Rustikale Landpartie


Berlin empfängt mich mit der knackigen Kälte eines in massige Häuserschluchten gefangenen Kontinentalklimas. Am Bahnhof Zoo wechsel ich in ein schnelleres Auto, an dem zwei Reifen just am Morgen noch aufgestochen wurden (nü, das ist Berlin). Die jüngere Kollegin holt mich ab. Wir kennen uns nicht wirklich und machen Smalltalk, während Blutengel aus den Lautsprechern sickert. Sie kommt aus dem rauhen Osten und erzählt ein paar noch rauhere Geschichten, während sie sich nu aber icke an verhuschten Kleinwagenfahrerinnen auf dem nachgerade überschmückten Ku'damm vorbeidrängt. Ich taste nach dem Haltegriff der Beifahrertüre.

"Nü, dann hup' halt!" grient sie ungerührt, als sich auf der Stadtautobahn drohend ein Tanklaster am Heckfenster aufbaut. "Hier ist 60, ich fahr doch schon 100", schüttelt sie den Kopf. Ich fische nach meiner Reisetablette.
"... fährt der Typ meine Katze tot!" dringt plötzlich an mein Ohr.
"Ist ja frech", antworte ich geistesabwesend.
"Nü, hatte der aber sonne gebrochene Nase", ruft sie fröhlich.
"Nü? Äh, wie jetzt?"
"Na, icke zu dem hin, feixt der mich an und sagt, er hätt' es mit Absicht getan."
"Unverschämter Kerl!"
"Nü. Hab' ich halt rot gesehen. Hatte der meine Faust im Gesicht."
"Du bist anscheinend recht impulsiv."
"Na ja", fügt sie nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu. "Ich hab mittlerweile einiges gelernt..." - wohlwollend blicke ich zu ihr rüber - "... wie man Menschen wehtut."

Ich sage nichts und überprüfe nervös, ob es noch ein Mobilfunknetz gibt. Wir sind jetzt weit außerhalb Berlins, fahren durch ein stockdunkles Wäldchen. "Gestern war hier ein schwerer Wildunfall. Sah häßlich aus", erzählt sie.
Es gibt kein Mobilfunknetz.

Schließlich sind wir da, ein rustikales Wochenendhäuschen irgendwo an einem Spreeseitenkanal. Eine Hölle aus dunkelgebeiztem Holz, Kuckucksuhren und ererbten Möbeln. "Wie ich immer sage, hier hört einen keiner schreien, haha. Du hast hoffentlich keine Angst," fragt sie und schaut mich auf einmal an.
"Nein", lüge ich. "Ich mache mir nur Sorgen um meine Nase, haha." Es ist eisig kalt. Fröstelnd klappe ich den Mantelkragen hoch und versuche, die Dunkelheit mit meinen Blicken zu durchdringen. Irgendwo dahinten liegt der Bootssteg. "Nachts schleicht hier einer ums Haus. Der hat mir auch die Reifen zerstochen. Was bin ich froh, daß ich heute nicht alleine hier schlafen muß!" Aufmunternd schaut sie mich an. "Ich brech dem die Nase", beruhige ich sie und huste, weil meine Stimme nach oben gerutscht war.

Nach überstandener Nacht in einem eiskalten Bett erledigte ich schnell noch das Pflichtprogramm. Russische Avantgarde im Gropius-Bau, Topographie des Terrors, dann eine kleine interessante Schau von biologischen Modellen an der Humboldt-Universität. Überdimensionierte Kartoffelkäferlarven (die amerikanische Krankheit, man erinnert sich) und Glasmodelle von filigranem Tiefseeweichgetier. Hübsch und zerbrechlich. So war meine Kollegin auch.