Donnerstag, 4. November 2004
I am mesmerised by my own beat
Like a heartbeat
(Wire, "Heartbeat")
"Die Frau ist nett", sagt sie leichthin. Er ist erstaunt, wen sie alles kennt. Man interessiert sich eben, denkt der Mann und beschließt, fortan diese Länder mit "I" zu meiden. Iowa, Indonesien, Indien und so weiter. Immer.
Nicht aber die Industrieruine. Am Fuße des Kraftwerks trieben sie sich einst rostige Nägel ins Fleisch. Ein Zeichen der Liebe, besiegelt mit einer geteilten Flasche dünnen Bieres. Ihre Stiefel sinken tief in den morastigen Schlick.
"Macht nichts", meint sie. "Die sind dicht."
Er hält ihren Arm und betrachtet die Narben. Sie sind noch immer nicht richtig verheilt. Sie trägt eine Uhr. Dabei ist es doch immer zu früh. Oder zu spät. Sie nimmt seinen Unterarm, leckt leicht darüber, schaut ihn an dabei. Wir hätten nicht herkommen sollen, denkt er.
Das ruhige monotone Brummen der Anlage summt im Hintergrund wie ein heiliges Mantra. Eine Litanei für künstlich perforierte Körper. Öffnungen für erweiterte Wahrnehmung. Vielleicht. Der Industriemensch pulsiert entlang seiner elektrischen Drähte, wie ein Roboter. Aufgeschreckt durch Radiophone und dem lilafarbenen Glühen der Magic Wands. Abgestumpfte Tiere.
"Did you ever conceive that you too can leave exactly when you like?"
(Wire, "I Feel Mysterious Today")
An den zerfallenden Mauern der Maschinenhalle hält er Ausschau.
Nach kleinen Zeichen. Etwas Eingeritztem. Ein silberner Fisch. Ein verbogener Stacheldraht. Verschlungene Initialen. Weiter vorn gibt ein zerfetztes Stück Eisenzaun eine Öffnung frei. Drüben ist das andere Land. "Hier," sagt er. Er reicht ihr ein Stück von seinem Proviant. Sie nimmt es, sieht ihn wieder an dabei. "Ich gehe allein", sagt sie.
"Ja," sagt er und betrachtet einen Wetterballon, der am Horizont verglüht. Immer allein.
Nur heute war bedingungslos.
Donnerstag, 4. November 2004
Heute ist ja angeblich Tag des Mannes, man mag es kaum glauben. Tag des rumlungernden Mannes vielleicht.
Ich wartete heute auf den fest eingeplanten Anruf aus Halle/Saale. Der kam aber nicht. Dann fiel mir ein - ha, die haben ja möglicherweise noch gar kein Telefon!
Es wird ja wohl kaum an etwas anderem gelegen haben.
Der Anruf hätte mir eigentlich im nächsten Jahr vier sorgenfreie, wenn auch arbeitsreiche Monate in einem fernen Land bescheren sollen. Was sage ich, in einem sehr fernen Land. Aber wenn die kein Telefon haben...
Dann also 1-Euro-Jobs, z.B. Nackt-Putzen. Oder Blutspenden.
Tag des Mannes. Phh.
Tag des gestrandeten Matrosen. Das wär mal ein Tag.
Dienstag, 2. November 2004
I wear my memories like a shroud
I try to speak but words collapse
Echoing
Trick or Treat
Trick or Treat
The bitter and the sweet
I wander through your sadness
Gazing at you with scorpion eyes...
(Siouxsie and the Banshees, "Halloween")
Gestern wagten sich das erste Mal kleine Kinder im Schutze ihrer älteren Schwestern bis vor meine Türe. "Süßes oder Saures" riefen helle Stimmchen hinter grüngrauen Gummimasken hervor.
Ha, Euch geb' ich gleich Saures, ihr Lorbasse! dachte ich. Aber nur kurz. Dann holte ich noch ein paar abgestandene American Cookies hervor. Fanden die gut, die kleinen Racker. Was wissen die schon vom wahren Horror hinter dreifach verriegelten Türen.
Samstag, 30. Oktober 2004
Ich bin sehr ergriffen. Mequito war so freundlich und hat einen Text von mir gelesen. Und zwar derart berührend, daß selig Elmar Gunsch nichts dagegen ist.
(Weitere Werke aus der Reihe "Blogger lesen Blogger"
übrigens hier bei Herrn Waldar und bei Herrn LeTeil.)
Wer drangvolle Enge zu den angenehmeren Eigenschaften eines Museumsbesuchs zählt, kann sich neuerdings in die Edward-Hopper-Ausstellung in Köln wagen. Werktags wie am Wochenende drängen sich ADS-herausgeforderte Schulklassen und feuilletongefixte Rentnergangs zwischen kunstbeflissene Gesamtschullehrer, um in schwitzender Masse vor allem eins zu erleben: Bilder, die nach landläufiger Meinung so etwas wie Leere und Einsamkeit vermitteln.
Das Werk Edward Hoppers leidet seit 20 Jahren unter einem schlimmen Schicksal: Es wurde für die Welt der Postershops und Wandkalender kanonisiert. Der plakative Stil mit seiner reduzierten Farbigkeit und seiner meist nur unterschwellig transportierten Erotik spricht an und schmerzt die wenigsten. Dem Maler tut man damit naturgemäß unrecht. Die Schau, die Hoppers größte "Hits" versammelt, bietet zudem Gelegenheit, sich noch einmal von Farbigkeit und Pastosität der Originale zu überzeugen, die bei aller Ikonenhaftigkeit und Abgegriffenheit der Sujets doch noch Wirkung zeigen. Freudianer, die bei amerikanischer Kunst ja fast immer auf ihre Kosten kommen, können sich auch eine Freude machen und genüßlich all die roterhellten Fenster-Öffnungen zählen, hinter denen nachlässig bekleidete Frauen ihren Gedanken nachhängen.
Wer die gaffende Menge vor "Nighthawks" überragt, erkennt auch endlich, daß auf dem wohl berühmtesten Gemälde Hoppers weder Humphrey Bogart noch Donald Duck abgebildet sind, wie einem die Postergalerien dieser Welt weißmachen wollen. So ist Bildung eben nicht nur Wissen, sondern konstante Rückversicherung und unerschrockenes Betreten längst erforscht geglaubter Kellerräume.
Edward Hopper noch bis zum 9. Januar 2005 im Museum Ludwig in Köln.
Donnerstag, 28. Oktober 2004
Immer wieder betrachte ich mit Erstaunen, vielleicht auch dem Neid des Außenstehenden, den Erfolg einiger Weblogs, die sich vorzugsweise mit Themen rund um die geschlechtliche Vereinigung beschäftigen.
Um diesem kleinen verpuschelten Blog heute mal ein wenig Würze zu geben, möchte ich einen (zugegeben nicht ganz neuen) Link auf explizite Bildinhalte legen. Feingeister sehen es mir bitte nach, aber bei Vollmond muß das eine oder andere bekanntlich einmal raus.
Im Alter von nur 40 Jahren starb im August 1965 der Undergroundpoet
Jack Spicer. Der Mann, der die Poesie liebte wie das Radio ("The radio that told me about the death of Billy the Kid..."), ging an den Worten zugrunde.
"My vocabulary did this to me", waren seine letzten - Worte.
In Wahrheit erlag er seiner Trunksucht, aber das mag dasselbe gewesen sein.
Man muß mit Worten vorsichtig sein.
Niemals aber darf man zagen und Worte gänzlich verweigern.
Seid heute mal nett zu einander.
Dienstag, 26. Oktober 2004
In den 70er Jahren konnte man in Nordrhein-Westfalen eigentlich nur einen Sender hören: BFBS, den Service der britischen Rhine-Army. Anders als der verschnarchte WDR, der über Mal Sondocks "Hitparade" nicht hinauskam, gab es bei den Briten cooles Top-40-Zeugs und garantiert keine deutschen Schlager. (Leider quasselten die Moderatoren immer in die Enden der Songs, so daß man zum Mitschneiden doch wieder auf Mal Sondock ausweichen mußte.)
Die Tatsache, daß es eben auch nur Top-40-Sachen waren, störte nicht, denn man kannte ja nichts anderes. Bis, ja bis auf jenen Abend als ich BFBS einschaltete, merkwürdig grummelnde Takte Musik hörte und dann diese Stimme, die man nie vergißt:
"Hello, my name is John Peel - and this is some of my music."
Und man sagt das so leicht und vor allem im Nachhinein, aber ich habe es damals sofort gespürt: Hier ändert sich gerade mein Leben. Zum ersten Mal hörte ich Musik, die mich wirklich elektrisierte, die unheimlich war und irgendwie gewalttätig und melancholisch und verzweifelt. Kurz, es war Musik wie ich selber war.
Es dauerte ein paar Tage - und dann noch ungläubige Wochen - bis ich kapierte, daß hier nicht Poltergeister aus meinem Weltempfänger lärmten, daß das ganze kein Versehen war. John Peel kam wieder, Woche um Woche.
Ich hörte Siouxsie, Buzzcocks, Wire, Joy Division, The "mighty" Fall, die Bunnymen und ab und an The Cure. Bekanntes wie die Slits, Cocteau Twins oder später dann die Smiths. Aber auch eher Obskureres wie Ausgang, X-Mal Deutschland oder They Might Be Giants. Später auch Farm Life, Jesus and Mary Chain und die Primitives. Viel Reggae auch und Dance-Hall-Dub und immer laut. Dazwischen erzählte John Peel von den Musikern, die er traf, den Fans, die ihm schrieben, von Sheila und den Kindern, von Reisen nach Jamaica, he got carried away, aber dann merkte er es, unterbrach sich, anyway, here comes... und weiter ging es weiter mit Hits und Misses.
Wochen um Wochen füllte ich billige Ferro-Kassetten aus der Kaufhalle (Stück 1,25 Mark), die schon nach zwei, drei Monaten dumpf wurden. Woche um Woche war John Peel's Music Gesprächsthema auf dem Schulhof; man diskutierte die Trends, die Songs und Bands, die er spielte, wunderte sich über die, die er nicht oder nicht mehr spielte.
Später, als die zeitgenössische Musik sich erneut in Experimente und Belanglosigkeiten, Tanz und Lustigsein vertändelte, verlor Peels Sendung auf BBC 1 für mich seinen Reiz. Techno und D'n'B gab es auch überall sonst. Für nostalgische Menschen gab es andere Geschenke: Die berühmten Sessions aus dem BBC-Studio erschienen auf EPs und LPs und später auf CD. John Peel als der George Martin der späten 70er und frühen 80er Jahre.
Ein tätiger Mensch - und immer ein Forscher, der auch als "Rock-Opa" viel Gespür für junge Bands und neue Trends besaß. Heute führte ich ein Telefongespräch, in dem ich viel von mir erklären mußte. Bei John Peel fühlte man sich immer verstanden.
Dafür Danke.
She lives in the TV sky
She lives in such pain
She rides in a bulletproof
Stretch limousine
(Neil Young, "Slip Away".)
"Dieser Satz ist falsch." Das ist so ein philosophisches Rätsel. "Alle Kreter lügen", man kennt das. Sagt ein Kreter. Wie also dieses Paradox auflösen?
Ich kann keine Philosophie. Ich habe einiges von Nietzsche gelesen. Einiges von Kant. Als ich auf der Uni war, interessierte ich mich für ein paar dieser Postmodernen. Über Roland Barthes kam ich zu Baudrillard, Derrida, Deuleuze, Guattari, Virilio. Kittler auch. Damals, abgeschieden auf Waltons Mountain hielt ich mich für einen brillanten Kopf, der an eine semiotische Tür klopfte, zu der er keinen Schlüssel besaß. Damals war Verstehen sehr einfach. Man mußte nur eine elektrische Gitarre vor den Lautsprecher eines Verstärkers stellen. Im Feedback der wimmernden Membranen verstand man erst den Skeptizismus von Virilio und landete zwischen E-Dur und a-Moll bei Deleuze.
Wenn man ein Zeitungsfoto mit Nitrolösung überstrich und als Frottage auf ein anderes Papier übertrug, kam man Baudrillard sehr nahe. Manchmal fühlte ich mich als mein eigenes Simulacrum. Und ein kurzer oder besser noch längerer Blick in die Augen eines schönen Mädchens, das im Begriff war, einen unter den Tresen zu trinken, genügte, um selbst zu einem Mythos des Alltags zu werden.
Als der selbstgewisse Rausch der Jugendlichkeit verflog, wurden die Ränder unschärfer. Eine Zeitlang half mir meine schwarze Intello-Hornbrille von Mikli, die ich alsbald benötigte. Nietzscheanische Selbstgewißheit gegen die Kleine Leute Moralität ("Das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Cultur bisher aufzuweisen hat" - Über die Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.) verflüchtigte sich, je mehr ich selbst zum kleinen Mann wurde.
Was war schon wahr, Derrida?
Im Haus der Lüge (Neubauten), der beständigen Interpretation von dem, an das sich andere als wahr klammern mochten, richtete ich mir bald ein Zimmer ein. Sollten andere sich Häuser, Yachten, Pferde und Pferdepflegerinnen erschaffen; ich - in der Hälfte des Lebens - wollte im selbsterrichteten Tübinger Turm eine Hölderin'sche Heimstatt finden. Zeit für morbide Sehnsüchte also.
Vitalisten, Sadisten, Antichristen, Bataillisten - das modische dunklere Ende einer Pubertät ohne LSD-Visionen. Jahrtausendwende und die Hoffnung auf ein eigenes fin de siècle. Aber statt mit Pitigrillis Kokain schmissen die Geliebten im vierten Stock nur mit aufgetragenen Gelüsten um sich. Erstarrtes Bücherleben wird zum Kitsch. Katholischer Mystizismus als Gelsenkirchener Barock im spinnwebumhangenen Herrgottswinkel. Aber den Meister Eckhard konnte ich nicht gut genug rezitieren.
Überhaupt gebrach es mir zusehends an ausschweifendem Interesse. Man schafft es im Leben immer nur bis an diese oder jene Tür. Innerhalb dieses Feldes sollte doch ein Garten abzustecken sein. Man muß doch nicht sein verrücktes Pferd auf eine Prärie treiben, deren Weite man nie gewachsen sein wird.
"Ich als Hörender, zumal wenn ich ein Solipsist bin, bestimme, ob das, was ich beim Hören imaginiere, eine sinnvolle Aussage oder nur ein mir spaßmachendes Geräusch ist." (Steffen Dietzsch. Kleine Kulturgeschichte der Lüge. 1998.)
Mein Problem ist einfach: Alles was Du gesagt hast, ist wahr.
Montag, 25. Oktober 2004
Tod im Morgengrauen: Ein Exemplar der Gattung Sciurus vulgaris.
Man kann es nicht länger leugnen: Der Herbst ist da. Die Eichhörnchen fallen bereits von den Bäumen. Kindergarteneinsatztruppen schwärmen in bunten Gummistiefeln durch das Laub und sammeln in bestickten Brotbeuteln eine reiche Ernte. Zurück in den Basis-Camps ihrer Kindertagesstätten stecken sie mit kreativem Eifer Streichhölzer in die erstarrten Nager und basteln Räuchermännchen oder surrealistische Giraffen, um sie den erstaunten Erziehungsberechtigten und stolzgeschwellten Patchwork-Eltern zu präsentieren.
Im Rheinland war es am Wochenende ungefähr 23° C warm - und ich habe ohne Übertreibung drei fette Mücken erschlagen (zwei davon mit Graham Greene, Erzählungen). In Notwehr, denn ich zähle - ebenfalls ohne Übertreibung - ungefähr fünf Stiche an verschiedenen, hier aus Schicklichkeit nicht näher zu bezeichnenden Körperstellen.
Kurz gesagt, die Welt ist aus den Fugen.
Dennoch: Vergesst das Zähneputzen nicht.