Sonntag, 18. Juli 2004
Patti Smith, Hamburg, 15. Juli 2004
ER war irgendwie auch präsent.Da kommt dann eine hagere, ältere Dame, Berufsbezeichnung "Hohepriesterin", lässig auf die Bühne, winkt entspannt ins Publikum und genießt mit geradezu kindlicher Freude die Empathiewelle, für die der englische Begriff "warmer Applaus" eine treffende Bezeichnung ist.
Solche Abende erfordern Begriffe wie „Nostalgie“, "Rührung" und "Größe". In „Würde gealtert“ sei sie, was man von etlichen anderen Musikern ihres Alters nicht sagen kann. Keine Pose, kein Entertainment, sie ist, wie sie ist und nicht jedermanns Sache. Gleich einer mongolischen Schamanin, die mit ihrer Trommel die bösen Geister vertreibt, schüttelt sie die Arme, reckt ihre Hände, bis hinauf in den „25th Floor“.
Für mich war Patti Smith das Bindeglied zwischen Velvet Underground und dem frühen Punk und New Wave. Schwarze Jackets, ein Buch mit den Gedichten Verlaines unter dem Arm. His clothes are black because he is a poet. [...] Art is work. Work is conscious act. Art is a conscious act requiring the harnessing of the subconscious, nuclear energy and the discipline of the spirit. To create and to also create distance. Then there is the inventor – the miracle of the telephone wire – the power corridors of Detroit. Where there is electric power there is violence. Electric violence is man at his highest. („Robert Bresson“)
Musik als Gesamtkunstvehikel. Die Fotos von Mapplethorpe, die Beilagen in den LPs. Zeichnungen. Die Bücher bekam man damals nur über "Pociao's Bookshop", wo auch erste Übersetzungen entstanden. "Ha ha, Houdini", "Witt", "Seventh Heaven". "Kodak" gab es nicht mehr, oder ich konnte es mir damals nicht leisten.
rat/art... a word found deep in the heart... the artist is a mutant who will be once again forceably dealt with... this time within the glittering circus of rock'n'roll. rock'n'roll being the highest and most universal form of expression since the lost tongue. ("Radio Ethiopia")
Rimbaud lesen, trunken sein und Schiffen gleich den Fluß hinabtorkeln. Sich als Sklavenhändler im afrikanischen Norden ein Bein amputieren lassen und heilige Frauen am Siechenbett segnen. Oder die Huren von Babylon, das war bei Patti Smith eins wie das andere. Anders als bei manchen Bataille-Zeloten schienen Drogen und Sexualität nie krude, selbstgenügsame Medizin auf dem Weg zum „freieren Menschen“, sondern bereits darüber hinaus: Mittel und Kunst, eine Form der Kommunikation. Etwas zu sagen haben und etwas sagen. Patti Smith strahlt diese Freiheit aus. Alle Kanäle, alle Venen natürlich früher auch, offen für Geben, Nehmen, Austausch. Die Stimmen Babels, alle vereint. „Radiowellen wie Haare im Wind“ („Radio Ethiopia“). Reden, Predigen, Lieben. I seek pleasure. I seek the nerves under your skin. The narrow archway. („Babelogue“)
Das aber war dann. 80er Jahre. High On Rebellion. Heute stehen fünf Leute und zwanzig Gitarren auf der Bühne. Zwanzig Gitarren, das wäre nichts für Miss Monolog. Aber bei so viel Krach und Kunst und Arbeit müssen frisch gestimmte, glänzende, phallische Instrumente auf der Bühne stehen. „Free Money“ - hoch in die Stratosphäre. Träume. Ab und an malt sie noch selbst mit ihrer Stratocaster ein paar Feedbackwellen in die Luft. Die Band, mit Lenny Kaye und Jay Dee Daugherty nur noch ein Rumpf der alten Patti Smith Group, ein beständiges Gerüst, treu und ohne Sattel.
Ihr persönliches "verrücktes Pferd".
"The Patti Smith Group is a handle to be abstracted... like Radio Ethiopia - the group is a field of exploration..." ("Radio Ethiopia")
Mir gefiel der Set an diesem Abend. Ein guter Mix aus neuen und alten Songs aus dreißig Jahren Rock'n'Roll Nigger. Das gab es nicht, aber "Ghandi" und "City of Bagdad" von aktuellen Album sind live echte Kracher. Rührend die Ausflüge an die Anfänge: "Pissing In A River".
What about it, you're gonna leave me,
What about it, you don't need me,
[...]
Should I pursue a path so twisted?
Should I crawl defeated and gifted?
Should I go the length of a river?
Leider auch "Because The Night", aber solche Zugeständnisse an das hitorientierte Publikum müssen wahrscheinlich sein. Jeder hat da so sein "I Can't Get No Satisfaction" oder "My Generation" im Gepäck. Zwischendurch erzählt sie Geschichten, zeigt Fotos ("This is my Mutter!").
Das Hamburger Publikum, sonst als reservierte Norddeutsche zu selten mehr als einem anerkennenden Kopfnicken bereit, genoß den Abend als Erweckungsritual. Arme in der Luft, hüpfende Köpfe in Reihe eins bis fünf, erstaunlich und erstaunlich angenehm.
"Ja, aber die Fans mußte man doch wahrscheinlich mit dem Rollstuhl reinschieben?" wurde ich despektierlich gefragt. Nein, ich war weder der älteste noch der jüngste. Sehr familiär das ganze, sehr unprätentiös dazu. Auch kein Rockstar-Gehampel. Keine nervende Vorgruppe, pünktlicher Beginn, um elf war der Gottesdienst vorüber. Die Frau hat Familie und weiß, auf welche Disziplin es ankommt. "Gloria" - und ab.
Security und Publikum mächtig entspannt, man nahm sich Zeit für einen Plausch, keiner markierte hier den starken Mann. Der Ausschank hingegen war schwer überfordert. Man dachte sich wohl, an einem solchen Abend sei "Meditatives Zapfen" angesagt. Da wurden nicht schnöde schon mal sieben, acht Biere vorgezapft, nein, jede Bestellung war ein Akt großer persönlicher und individueller Aufmerksamkeit. Das neue Docks, heller, freundlicher, ist auf dem Weg zur Edelgastronomie.
Heute überhörte ich eine kleine Bürgersteigszene. Junges Paar ist mit Kind im Buggy unterwegs. Kleinkind fällt das doch etwas überdimensioniert wirkende Speiseeishörnchen aus der Hand. Großes Geschrei (Pawlow'scher Reflex #1).
Frau keift Mann an (Pawlow'scher Reflex #2): "Kannst du nicht aufpassen?!"
Kurzer Erinnerungsschwurbelflashback in eigener Sache... gelöscht.
[Hier stand ein Text über gewisse Formen emotionaler Erpressung, Instrumentalisierung von Kindern zum Frustabbau, Demütigungsszenarien usw. Das übliche halt.
War aber weder erhellend, noch ergreifend, noch sonderlich gut oder wenigstens betrunken geschrieben und witzig schon gar nicht.]
Festzuhalten bleibt:
So kam der Lakai also um sein Abendbrot, und das Kind ging am nächsten Morgen ungefressen in die Prinzenschule. Damit war ja alles gut.
[Und die Schafe bleiben auch drin, mir zur eigenen Erinnerung.]
Method-Acting: Die Schafe imitieren den Vordermann.
Gelernt durch Anschauungsunterricht: Agententechnik, Grundkurs - Nie Informationen weitergeben, nur Rätselaufgaben. Gegner immer in Unsicherheit wiegen.
Ich werde auf das Thema gelegentlich noch einmal zurückkommen, wenn es mir gerade paßt. Ansonsten belasse ich es mal bei den Pretenders, heute in der Version von Grace Jones:
"Your private life drama baby leave me out
[...]
It's ok on tv 'cause you can turn it off,
But don't try me.
Yes, your marriage is a tragedy
But it's not my concern."
("Private Life")
Sorry for the inconvenience.
Freitag, 16. Juli 2004
Heute, man will nur die "PhotoNews" kaufen, empfängt einen an der Bahnhofsbuchhandlung schon ein eilig gefertigtes, nicht zu übersehendes Schild: "Melissa P. - z. Zt. AUSVERKAUFT!"
Ja, seid ihr denn alle bekloppt? Da schliert sich eine Sexzehnjährige ein paar pimmelstarke Jungmädchenphantasien (Zitat: "In meinem Mund mischten sich die Säfte von fünf Männern.") als elektronisches Tagebuch zusammen, verabredet sich via ("Nichts ist unmöglich") Internet-Chaträume mit, wie sollte es auch anders sein, Sadomasochisten (Zitat: "Ich ließ nichts aus. Gewalt, Erniedrigungen alles!") und Gruppenbumsern, und prompt zieht sich die Verlagsszene wieder gierig ein Stück Skandälchen aus dem Wichsautomaten.
Vor drei Jahren war es die "Catherine M.", die toute la France mit ihren Vulva-Abenteuern ("Ich trieb es mit 50 Männern gleichzeitig.") schockierte, nun fischt man eine verluderte Ragazza aus der italienischen Provinz aus der Gosse von Sodom.
Ihr Lektor konnte wahrscheinlich vor plötzlicher Hosenenge nicht mehr geradeauslaufen, und vor meinem geistigen Auge tauchen schon die Fortsetzungsabdrucke in einer großbuchstabigen Zeitung auf - plaziert wohlmöglich direkt neben der nächsten Treibjagd auf Kinderschänder (oder findet das etwa schon statt?). Die buchstabengewordene Dixieklophantasie schwiemeliger Klötenjongleure ist nun offensichtlich der Hit in der Heavy Rotation der Schnelldreher-Verramscher - und vielleicht auch Thema des Baudrillard-Symposiums am Wochenende im Zentrum fuer Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.
Mach mir schnell ein geiles Simulacrum!
(Jean Baudrillard und die Künste: Eine Hommage zu seinem 75. Geburtstag. 16. - 18. Juli 2004. Symposium und Ausstellung im ZKM | Zentrum fuer Kunst und
Medientechnologie Karlsruhe in Anwesenheit von Jean Baudrillard)
Freitag, 16. Juli 2004
Every night before I rest my head.
See those dollar bills go swirling 'round my bed.
I know they're stolen, but I don't feel bad.
I take that money, buy you things you never had.
("Free Money")
Ich weiß nicht, ob ich mit 58 Jahren noch so die Bühne rocke. Manche halten mich ja schon jetzt für einen Langweiler. Grandioses Konzert, morgen abend hoffe ich, einen ausführlicheren Bericht absetzen zu können.
Hier erst einmal eine persönliche Nachricht für Yvonne Sonne:
Sie haben "Free Money" gespielt, und das halte ich für ein synchronistisch verdammt gutes Zeichen!
Oh, baby, to buy you all the things you need for free.
Piss Factory. Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun. Man kann aber nicht immer essen gehen. Deshalb heute abend mal den Predigten älterer Frauen lauschen. Ich hoffe, es gibt nicht "Dancing Barefoot" oder so was. Da schunkeln bestimmt kurzgeschorene Altonaerinnen zu. An "We Three" wurde ich neulich erinnert, das wäre nett. Das neue Album rockt ja nicht so wirklich. Es ist aber schön, daß es sowas noch gibt.
Let us celebrate our own flesh-to embrace not ones race mais the marathon-to never let go of this fiery sadness called desire.
Mittwoch, 14. Juli 2004
Aus der Reihe, zehn Situationen, in denen du merkst, daß deine Beziehung
im Arsch am Ende ist:
3. Sie kommt im Morgengrauen nach Hause und erzählt detailliert, wie lecker es war.
(Aus dem Buch: Warum nur Appetit holen, wenn man bei Profiköchen auch essen kann? Hamburg, 2003.)
Dienstag, 13. Juli 2004
"Ich bin mit fast allen von der Branche zerstritten. Das ist bekannt. Mein Ehrgeiz wäre es aber, mit allen zerstritten zu sein."
(Franz Xaver Kroetz im Interview mit dem Hamburger Abendblatt.)
Montag, 12. Juli 2004
So, der Preisblogger-Kelch ist nun einmal rumgegangen, von den 8000 deutschen Blogs wurden 12000 nominiert, nun geht es ans Wählen. Wir vom hermetischen Café (Ich mach das jetzt ganz angelsächsisch und spreche im pluralis whatever) möchten da keine offizielle Linie empfehlen und sagen einfach nur LYSSA WÄHLEN. (Die derbe Lu will ja gar nicht, ätsch.) Das geht nämlich so: Lyssa gewinnt dann so ein Abo von dieser Ausrichterzeitschrift ( das Buchpaket braucht sie gar nicht). Und dann, so denke ich mir ganz feist, kann sie mir ihre ausgelesenen Zeitschriften einfach weiterreichen! Schlau? Schlau.
Aber das nur nebenbei, damit es nicht heißt, hätt' ich es doch nur gewußt.
Heute war ja, wie schon seit einer Woche eigentlich, keine Sonne da, die blieb ja bekanntlich in Wien. Ein Tag wie gemalt also für's Wohnzimmer. Auf dem 5. Boden mitten in der Speicherstadt erwarten einen in einer kleinen gemütlichen Stube zwanzig Dioramen zur kleinen und größeren Geschichte. Da überquert Hannibal die Alpen oder führt der blutrünstige Montezuma eine böse Schlacht. Aber man sieht auch Thomas Bernhard im Wald oder Gregory Peck oder Fritz Honka, wie er im Beisein seiner gerade noch vergnügten weiblichen Gäste eine Gummipuppe aufbläst. Jürgen Bartsch steht mit seinem Instrumentenkoffer lauernd auf einem schäbigen 60er-Jahre Hinterhof herum. Ganz große Kunst also, und wer hier an Fischli&Weiss denkt, liegt wohl nicht ganz falsch.
(Das Wohnzimmermuseum. Alter Wandrahm 7/5. Boden. 20457 Hamburg. Öffnungszeiten: montags 16-21 Uhr, samstags 11-14 Uhr. Eintritt frei.)
Kleiner, beschaulicher, schmaler war's als letztes Jahr. Die kulturfördernde Politik des Senats dieser freien Stadt Hamburg trägt ihre Früchte. Bald sollen die Grundkurse der Kunstpädagogik und der Freien Kunst weiter zusammengeschmolzen werden. Das geht Hand in Hand mit der Kahlschlagpolitik in Sachen Filmförderung. Die Damen und Herren im Rathaus sind nämlich schlau: Sie fördern eine Hamburger "Media School" (muß ja immer angelsächsisch benannt werden, damit der Unsinn dahinter wenigstens modern klingt) mit ein paar lockeren Millionen, streichen dafür die Filmförderung (die z.B. zuletzt einen Film wie "Gegen die Wand" ermöglicht hat), damit die Absolventen dieser "School" bloß nicht anfangen, in Hamburg zu arbeiten.
Aber noch kann man sich Jahr für Jahr, den fiesen Dreck , die feinen Spitzen, witzigen Ergüsse und natürlich auch die tastenden Versuche, zittrigen Experimente und durchgeknallten Materialstudien dieser ehemals ruhmvollen Kunstakademie zu Gemüte ziehen. Ein erbaulicher Nachmittag, bei dem man sogar ein wenig kleine Kunst erwerben konnte. Denn Kunst, schreibt Euch das hinter die Ohren, kann man ansehen. Kann man aber auch kaufen. Wissen bloß die wenigsten.
(Ist auch rentabler als irgendwelche Rentenfonds.)
(Ein paar dokumentarische Bilder in den Kommentaren)
Samstag, 10. Juli 2004
Cornelia Remi a.k.a. Real-Icon klärt nachhaltig darüber auf, daß popkulturelles Wissen allein zu wenig ist, um Fernsehwerbung goutieren zu können.