Donnerstag, 24. März 2005
Sie sind wie Staub, der hält noch eine Weile,
Die Haare fallen schon auf ihren Wegen,
Sie springen, daß sie sterben, nun in Eile,
Und sind mit totem Haupt im Feld gelegen.
(Georg Heym, "Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen", 1912.)
Mit einer Lenore-Stimme, die direkt aus den dunkelsten, salpeter- verkrusteten Kellern des efeuumwölkten Hauses Usher zu kommen schien, gab sie mir Antwort. Ein grabestiefes, völlig unmoduliertes Hauchen, wie das leichte Stöhnen des Windes, der durch ein verwittertes Mausoleum fährt. "Wow", bemerkte meine Begleiterin trocken. "Die klingt, als hätte sie erst gestern einen Selbstmordversuch unternommen. Das wäre doch mal eine Frau für Dich!"
Leider sprach ich das schwarzgewandete morbide Mädchen an der Kasse nicht an, weil die Ausstellung mich ablenkte und auf andere Gedanken brachte. Das zeigt, daß die Kunst immer über der Liebe steht und auch recht daran tut.
Aber schön wäre es doch, das aufregend morbide Mädchen mit nach Hause zu führen und mit ihm einen gemütlichen Sonntagnachittag zu verbringen. Ich stellte die Flaschen mit dem zimmerwarmen Selbstmitleid ins hintere Regal, holte die Grüne Fee für die Liebe zu Dritt und zündete - der romantischen Stimmung wegen - ein, zwei Grablichter an. Wir sähen uns tief in die schmerzgeprüften Augen, vertrieben uns die Geister der Vergangenheit, prosteten uns zu und überlegten, wie wir sogar die Toten mit unserer Liebe zum Leben erwecken könnten.
Dann würden wir ein Auge oder zwei in den Katalog von
Van Dyke's Taxidermy werfen und überlegen, welches Zubehör wir noch bräuchten, um Saatkrähen, Ratten oder Eichhörnchen präparieren zu können, ohne daß ausgerechnet deren unschuldige kleine Körper für immer in sich zusammenfallen oder ihr Aussehen ins Unschöne verändern würden.
Unsere Liebe wäre ewiglich, die des schönen morbiden Mädchens und meine. Irgendwann legte ich ihr eine Hand auf den ringelbestrumpften Oberschenkel und strich ihr durchs opheliarote Haar. Wir verglichen unsere Narben und ich flüsterte "Niemalsmehr". Sie sähe mich an, ein wenig scheu vielleicht oder mit dem Anflug eines Lächelns, und hauchte mit ihrer lebensleeren Stimme "Hast du noch was von dem Zwirn?" oder "Reich mir bitte mal das andere Auge" - so was in der Art. Wir wären glücklich in unserer kleinen, zerstörten Welt. Ich würde sie zeichnen oder fotografieren, wie sie die kleinen Rattenkörper stopft und in putzige Positionen formt. Dann sähen wir uns eine Folge der Addams-Familie an und abends, in meinem schmalen Krankenhausbett, lägen wir eng aneinander- geschmiegt, und ich würde zum Einschlafen eine Geschichte von Edward Gorey lesen. Die vom Glücklosen Kind, vielleicht.
Sie würde mir alles glauben. Weil sie weiß, daß ich alles erfunden habe.

Sonntag, 20. März 2005
Statt Bussen verkehren im Hamburger Hafen Fähren, das liegt auf der Hand.
Seit letztem Jahr gehört es zu meinen unregelmäßigen Sonntagnachmittags- vergnügen, mit der Linie 62 die Elbe runterzutuckern und nach Finkenwerder überzusetzen. Hier kann man aussteigen, umssteigen - oder einfach sitzen bleiben, die Sonne genießen, die Aussicht auf Docks und gaffende Spackos an der Strandperle dazu. Manche ziehen sich eine Tageskarte und einen Vorrat an Reisegetränken und verbringen manch lustige Stunde an Bord von "Harmonie" und "Simba", dem König unter den Löwenfähren. Als Übung für meine Ambitionen als professioneller Kreuzfahrtbegleiter schon einmal ein guter Start. Beim nächsten Mal singe ich auch.
(Bilder im Kommentar)

Samstag, 19. März 2005
At night it gets cold and
You'd dearly like to turn away
The escape that fills
that makes you want to turn on heel
Alone, alone, alone, alone
(New Order,
"Procession")
Heute in der Therapiegruppe sollten wir was malen und frei assoziierte Begriffe dazuschreiben. Ich schrieb "Schlüsselkind", "Holzleiter", Gasmaske" und "Strumpfhalter". Ehrlich gesagt, schrieb ich das nur, um die fette Carola aus meiner Gruppe zu ärgern, die neulich erzählt hatte, wie sie sich mal ihre Strumpfhalter zerrissen hatte, weil sie an einer Holzleiter hängengeblieben war. Ich habe die Geschichte nicht geglaubt, aber Regel Nummer eins lautet "Erzählen - nicht Interpretieren". Dafür ist ja die Therapeutin da, die sich die ganze Zeit über Notizen macht und dann ein paar Fragen stellt.
Ich würde gerne was mit Tina anfangen. Die berichtet ab und an von ihren Albträumen, die ich irgendwie sexy finde, aber Regel Nummer zwei lautet "Don't fuck the Patientenkreis". Ich habe trotzdem vor ein paar Tagen Bernd nach ihrer Nummer gefragt, weil ich weiß, daß er sie hat. Bernd ist Tinas Exfreund und besucht dieselbe Gruppe, weil sie beide das gleiche Problem haben. Einander. Einmal war ich mit Bernd ein Bier trinken und habe ihn über Tina ausgefragt. In seinen Augen lag Hoffnung, in meinen bloß Gier.
Seither weiß ich, daß Tina nie Unterwäsche trägt, und Carola weiß das auch. Deshalb versuchte sie, sich mit dieser Strumpfhaltergeschichte wichtig zu machen. Ständig will sie alle übertrumpfen. Natürlich hat sie von uns allen die schwerste Kindheit gehabt. Einmal lachte ich ihr ins Gesicht, seither ist unsere Beziehung ein wenig gespannt. Heute fing sie an zu heulen, als ich meine Schlüsselwörter vorlas. Sie beschwerte sich, ich wolle mich über sie lustig machen, dabei ahnte sie gar nicht, daß sie recht hatte. Sonst hätte sie das erste Mal im Leben wirklich geheult.
Patrick drohte heute damit, die Gruppe zu verlassen. Das macht er ungefähr alle zwei, drei Wochen, obwohl er für sein pathetisches Gehabe nur Häme von Tina und Carola erntet. Ich glaube, Bernd hat Tina nie richtig rangenommen, dabei ist sie geil bis unter die Haarspitzen. Leider findet Tina meine Probleme langweilig, weshalb ich die gerne ein wenig aufbausche. Tina ritzt sich immer die Unterarme und hat dadurch alle Aufmerksamkeit für sich. Nur Bernd schaut dann beleidigt aus dem Fenster. Carola erschien in der nächsten Stunde mit einem verbrühten Bein, was sie stolz herumzeigte und dabei ihren Rock ein wenig zu weit hochzog. Ich sagte trocken, man könne auch verbrühte Beine rasieren - schon allein, weil ich mal gelesen hatte, daß zynische Männer auf manche Frauen anziehend wirken. Aber nur Tina kicherte anerkennend. Carola fing an zu weinen, und die Therapeutin schalt mich vor allen Leuten.
Neulich ging es um Wünsche. Ich sagte, ich würde gerne mal einen Kuchen mitbringen. Das fanden alle toll. Ich sagte, ich würde aber Rasierklingen darin einbacken. Daraufhin mußte ich den Raum verlassen. Die Therapeutin meinte nachher, meine sozialen Kompetenzen seien "fragwürdig". Ich sagte, das sei doch egal, ich ginge doch eh immer allein nach Hause. Sie wurde etwas lauter. Fragen wie, was eigentlich mit mir los sei, was ich mir einbildete usw. schallten durch den Flur.
Ich war etwas betroffen, obwohl ich weiß, daß die Therapeutin große Stücke auf mich hält. Oder vielleicht gerade deshalb. Dann mußte ich in die Tanzgruppe zur Körperarbeit. Das ist ein bißchen dämlich, wir müssen da zu Musik Szenen wie "Speck in der Pfanne" oder "Die Geburt" mimisch nachstellen.
Die Tanztherapeutin ist Tantrikerin und hat schon mit jedem und mit jeder aus der Gruppe was gehabt, außer mit mir. (Einmal wollte sie sich an einem Sonntag mit mir verabreden, ich sagte ihr aber, ich sei Katholik und müsse am Sonntag den ganzen Tag in die Kirche. Sie ist nicht getauft und glaubte mir jedes Wort.)
Am liebsten bin ich in der Tränengruppe. Das heißt "Affektive Emotionskonvulsionstherapie" und ist so gruppendynamisches Heul-Psychodrama. Man sitzt dabei im Kreis, hält sich die Hand und jeder versucht, eine möglichst traurige Geschichte zu erzählen. Ich gewinne jedes Mal.

Dienstag, 15. März 2005
And still out there through the window
At six in the morning. The essence survives.
Berlin...Berlin...
(Fischer Z., "Berlin")
Die Versprechen unserer Jugend versinken nach und nach im Geruch eingemotteter Träume.
Heute koch' ich,
morgen kauf' ich einen Bauwagen.
Übermorgen mach' ich Sophie Rois ein Kind.

Sonntag, 13. März 2005
Aus dem Schmodder recken sich die Lebensgeister. Das mag man jetzt symbolisch sehen, kindlich faszinierend ist es immer wieder.
Gesprächsfetzen und Erinnerungsreste geistern durch meinen Kopf. Ein unheimlicher Wandschrank, wie in einer Geschichte von Edward Gorey.
"Jedenfalls liegt das maßgebliche Konzept dieser thematischen Konzeption in der Erinnerung an eine bedeutende Zäsur, die der Frau nicht nur einen Platz in der Kunst, sondern auch in der Kneipe erkämpft hat", schreibt Till Briegler in der SZ (25.1.2005).
Endlich mal eine vitalistische Betrachtung, die ich unterschreiben kann. Gerade singen die Les Hurlements d'Léo vom wogenden Leben zwischen Tischen und Tresen. Vielleicht heißt es auch "unter den Tischen" und "hinter dem Tresen" - so gut ist mein Französisch nicht.
Extreme Menschen können auch extrem faszinierend sein, geisterte es in den letzten Tagen auch ab und an durch Gespräche. Das macht sie so extrem gefährlich. Vor Tagen fürchtete ich, ich müsse das Telefon erschießen.
"Doch wenn man schreit/und ist nervös gleich/dann werd ich bös' gleich/und bleibe still", heißt es in dem Schlager von 1919 ("Hallo, du süße Klingelfee").
"Wenn ich dich scheiden seh/das macht mir heut schon Kummer/ich kriege keine Nummer/beim Selberwählen jetzt/ist doch immer besetzt."
Wann wird es den ersten Schlager über Blogger geben?
Selberwählen. Ganz genau. Oder nur Bilder schauen, nicht reden. Pflanzen beim Keimen zusehen. Immer mehr Pflanzen, gieriges Treiben, bis alles erstickt. Sein Leben in ein schwül-dekadentes Treibhaus verwandeln. Entropie. Dann wieder alles Geranke, alle Ornamente abschneiden, zerhacken, mit Energie durchblitzen wie ein zackiger Holzschnitt. Nur noch Schwarz und Weiß.

Samstag, 12. März 2005
Die wirklich sehr zarten Erwähnungen von Kuchen in letzter Zeit erinnerten mich an eine alte Geschichte von Lyssa, die ja einst die sehr schöne Frau als stehende Wendung einführte (übrigens auch ein hübscher Spruch für ein T-Shirt). Dieselbe hat ja immer noch kein Blog - und das ist wohl für alle besser. Denn so schön wie meine sehr flüchtige Bekannte auch ist und so gut sie auch Kuchen backt - ein Blatt vor den Mund nehmen kann sie nicht.
Ihren Geschlechtsgenossinnen begegnet sie oft spottend, Männern aber auch. Man könnte sagen, daß sie generell dem Phänomen "Mitmensch" leicht ungeduldig gegenüber eingestellt ist. Erzähle ich ihr irgendetwas Possierliches über eine Frau, heißt es oft, "Hat die ihre Tage?". Berichte ich über meine Tage, heißt es, "Zick' nicht rum, sei ein Mann!" Beklage ich mich, weil in irgendeinem Blog stand, "kid37 ist ein Vollpfosten!" - zieht sie nur leicht einen Mundwinkel nach oben und bemerkt trocken: "Diese Blogger sind manchmal erstaunlich hellsichtig."
Dabei ist sie ein weitaus geselligerer Typ als ich. Solange man ihr nicht auf die Nerven fällt (mir kann man ja zu oft zu lange auf die Nerven fallen). Dann neigt sie ungefragt zu messerscharfen Analysen oder schlagfertigen Repliken, die kaum Raum für Interpretationen, wohl aber für fruchtlose Diskussionen lassen. Das Beste ist, man lacht einfach mit. Denn sie ist eine Frau und dazu noch furchtbar klug, also befindet man sich als Mann gleich doppelt im Unrecht.
Zum Glück hat die sehr schöne Frau auch ein paar negative Eigenschaften, sonst wäre es ja nicht auszuhalten. So hat sie einen grauenhaften Musikgeschmack und interessiert sich generell für "Kram". Außerdem kann sie von ungefähr allen 5.000 Kinofilmen, die sie je sah, die komplette Darstellerliste herunterbeten und anstrengungslos aus dem Kopf aus jedem Buch zitieren, das sie jemals las. Das ist zwar völlig nutzlos, nervt aber schlichter gestrickte Menschen wie mich ungemein.
Jedenfalls kenne ich die sehr schöne Frau schon sehr lange und muß sagen, sie hat mit mir manches Mal schweres Gepäck tragen müssen. Oder wollen. Wie auch immer. Trotz diesem oder jenem mußte ich aber feststellen, daß man sich nicht nur auf die Kuchen der sehr schönen Frau stets verlassen kann.
Und dafür möchte ich Danke sagen.

Freitag, 11. März 2005
Haha, wie surreal. Habe gerade "Taste the new Snatch" gelesen. Dämliche internationale Claims.
Andererseits...

Mittwoch, 9. März 2005
Liebe Mit-Hypochonder,
gerade stelle ich fest, daß die Scheibe norwegischer Zuchtlachs (wer sowas ißt, hat es nicht anders verdient, ich weiß), die ich gerade gegessen habe, vor ein paar Tagen schon entsorgt gehört hätte. Solange ich also noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin die Finger auf die Tastatur bekomme, möchte ich noch schnell zwei, drei Dinge sagen.
Es war nett mit Euch, Ihr konntet mir alle nicht das Wasser reichen habt mich oft erfreut, und wie Erich Mielke schon sagte: "Ich liebe euch doch alle."
Eine Bitte: Wer mich noch schnell per Mail beschimpfen will, wie es heute gleich zwei, drei Menschen versuchten (Mondphase? Ich habe leider nicht so ein Plug-in in meinem Blog), denke sich doch bitte mal etwas anderes als "Arschloch" aus. Das habe ich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren schon so oft gehört. Ich kenne sogar Menschen, die kann man nachts um drei wecken und zu einem solchen Statement bringen. Ein bißchen origineller darf es in einer solchen Hop-oder- Top-Situation ruhig sein.
Das war es aber auch schon. Sollte ich gleich also komplett wirres Zeug faseln verstörter als sonst wirken oder mich gar nicht mehr melden - nun, die Antwort kennt nur das Mindesthaltbarkeitsdatum.
(Ob wohl eine Flasche Wodka zur inneren Desinfektion das Mittel der Wahl ist?
Ist ein Assistenzarzt im Publikum?)

Dienstag, 8. März 2005
"Eigentlich wollten wir Kollegen K. für den Job, aber nun nehmen wir auch dich. Also, äh, gerne auch dich." Die Abteilungsleitung verplapperte sich heute. Das paßte gut zum Spiel beim Mann mit dem Geldsack, der die Leute shanghait und bezahlt. "Jeder ist ersetzbar - auch du. Ich selbst natürlich auch, haha." Draußen gäbe es 5,2 Millionen, die würden das gerne machen, was ich mache. "Man kommt sich da natürlich erpresst vor, ich weiß." Ich weiß es auch. Man kommt mit dem Betriebsrat. Die Entlassungen gerade, du verstehst. "Der fragt sich, warum ich mich nicht einklage", antworte ich ruhig. "Oh. Nun ja..." Dann kommt das Lied, Wenn ich könnte, wie ich wollte... und ich halte mir innerlich die Ohren zu. Als er bei Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich ankommt, fahre ich dazwischen.
"Ich persönlich muß sehen, wie es weitergeht. Offenbar geht es das nicht."
Ich fasse die Fakten zusammen. Ich trage mehr Verantwortung, das werde aber nicht honoriert. "Wir sind dir ja auch sehr dankbar...", sagt er. Ich freue mich. "Aber es gibt ja auch keine Alternative in der heutigen Zeit. Oder gibt es eine?" Ich lächle ihn an mit meinem süßen Lächeln. "Du", werde ich vertraulich, "es gibt immer eine Alternative." Er schaut skeptisch. "Herr Sakanachan hält einen Platz auf der Parkbank für mich frei. Aber da muß ich mich bald entscheiden, denn in Zeiten wie diesen, sind auch diese Stellen sehr beliebt."
Ich erkläre, daß ich keinen alten Bauernhof in Mecklenburg finanzieren und auch keinen kleinen Kindern Winterschuhe kaufen muß. Daß ich dies oft bedauerte, aber daß dies auch meine Freiheit bedeute. Er will mir ein Buch über einen Amokläufer leihen, das er gerade liest. Ich bedanke mich.
Ich merke immer wieder, daß ich irgendwie nicht gut genug bin für diese Fabrik. Immer nur bin ich Ersatz, denke ich und gehe die Alternativen durch. Ziegenzüchten in der Steiermark, das wäre was. Oder Fotograf für das Crack Whore Magazine. Manchmal denke ich, wenn es eh keine Perspektive gibt, warum nicht eigene Gartenzwerge entwerfen, anstatt die von anderen Leuten bemalen? Na ja, erstmal wie immer. Erstmal weitermachen. Ich habe jetzt Physiotherapie. Gegen den krummen Rücken.

Montag, 28. Februar 2005
"Das betäuben wir lokal?" fragt sie. "Besser wäre es wohl oder schlagen Sie eine Alternative vor?" - "Wir haben noch einen Hammer für schwierige Fälle." - "Den kenne ich schon von daheim", behaupte ich und tue so, als würde sich dort jemand um mich kümmern.
"Der wirkt bestimmt bei mir nicht mehr, daran bin ich gewöhnt." Sie lacht und strahlt mich mit ihren blauen Augen an. Sie weiß, gleich werde ich kein dummes Zeug mehr reden können. Der Doktor schweigt. Ich weiß, er sehnt sich nach einer Zigarette. Dann legt sie mir das Tuch über das Gesicht, und ich höre für eine geraume Weile nur noch das Geräusch des Bohrers in meinem Kopf.
Wozu habe ich einen Dremel, denke ich und merke, das irgendetwas mit meinem Kreislauf ist. Das Adrenalin aus der Betäubungsspritze wirkt. Mit vielem Zubehör und - am Allerwichtigsten - einer biegsamen Welle. Die kann man für alles gebrauchen. Aber heute morgen lag überall Schnee, eine frische, blütenweiße Decke, und meine Finger waren klamm.
Als sie mir Tuch wieder wegzieht, streicht sie mir mit einer beinahe zärtlichen Geste eine Strähne verschwitzten Haars aus der Stirn. Dann setzt sie mir fürsorglich die Brille auf. Ich kann wieder ihre Augen sehen. "Wie kommen Sie denn jetzt heim?" fragt sie. "Ich nehme mir ein Taxi", lüge ich.
Auf der Treppe denke ich, vielleicht sollte ich wirklich mal eins nehmen. Aber dann nimmt man mir in der Apotheke 35,- Euro für Antibiotika und Schmerzmittel ab, von denen ich zuhause selbst genug habe. Bleibt es also doch bei der U-Bahn. Als ich die Ohrhörer einsetzen will, merke ich, daß ich kein linkes Ohr mehr habe. Irgendwie bekomme ich aber doch den kleinen Knopf in dieses Loch an der Seite meines Kopf gestopft. Autolux, "Here Comes Everybody" oder Xiu Xiu, "Crank Heart". Irgendetwas.
Draußen liegt Schnee. Er sieht gar nicht mehr so weiß und unberührt aus. Auf meinem Gesicht liegt eine Kühlkompresse. Ich wünschte, es wären die kühlen zarten Hände der OP-Schwester. Vorsichtig taste ich mit dem, was mal meine Zunge war, nach der Schraube in meinem Mund.
