Montag, 17. Januar 2011


Personenschaden

Einer reichlich entglitzerten Woche den frühen Freitag abgerungen, stille Freude auf eine Heimkehr noch vor der Tagesschau (früher: ...till the cows come home). Mit den letzten Seiten des Stadlers in der U-Bahn bequem gemacht, bis zum vorzeitigen Zugstillstand, Feuerwehreinsatz am Berliner Tor, Umwege also mit der S-Bahn, deren eine Linie zuerst ausfällt (Zugschaden), dann aber doch noch fährt. An der Station geht der Einsatz gerade zu Ende, Transportwege werden freigeräumt, Menschen in orangefarbenen Westen drängen hektisch, man spürt schon, das sind zu viele, das sieht nicht so gut aus, als schon die Rolltrage vorbeieilt und dazu Bilder, die ich auch nicht hätte sehen müssen, unablässig pumpende Hände, denen man wünscht, daß ihnen die Kraft nicht versagt, der aufgeblähte Bauch, der wie ein bleicher Walfisch auf den Strand geworfen unter den rhythmischen Stößen hilflos hin- und herwogt.

Die Kinks singen and the kitchen sink is leaking, auch das ist wie aus dunklen Tiefe einer anderen Epoche gehoben, ich betrachte die tintenfleckigen Finger, denke an die eigene frivole Buchhaltung dieser Woche: die schicksalstaggeplagte Frau, immer Zigarette rauchend, zwei Kinder und ein totgeglaubter Mann, dabei innerlich immer aufrecht, immer widerborstig, eingeklebt in eine heimatmuseal nachgestaltete, nostalgische Vergangenheitsbebilderung, Sepia-Resistance wie die großen Produktionsfirmen sie sich vorstellen.

Wie manche immer unzufrieden sind, ihnen nie etwas gut genug ist. Immer just das falsche Restaurant, die guten Plätze immer zu weit hinten, die Möbel immer zentimeterweit am falschen Platz. Und das sind nur die banalen Dinge, die lächerlichen, aber an so einem Freitag, wenn die Bäuche pumpen und wir nur Alkohol im Regen am Büdchen trinken, nehmen, was da ist, während wir auf den Ersatzbus warten, denke ich, mein eigner Ein-Mann-Widerstand, schön nostalgisch in ein heimatmuseales Erinnerungsbuch verpackt, ganz so, als wäre es von TeamWorx ausgestattet, fick dich einfach.


 


Donnerstag, 13. Januar 2011


Arbeiter & Arbeiter

oh my god my girlfreind got me the best christmas present...
she got me the whole box set of ALL the Beatles' albums...
every single one ... and all i got her was a engagement ring...
god i need to step it up.. ahaha

[Q]

Oft muß man von jungen Menschen hören...

...die Beatles, z. B., seien "überschätzt". Dann recke ich die Arme gen Himmel, rufe Jesse, John & Yoko und doziere über die Bedeutung der Fab Four, unleugbar!, wie sie meinen nostalgischen Kinderwagen in Schwingungen versetzten und diesen wie sonst nur die Entwicklung der populären Musik mit immer neuen Wendungen rasant beschleunigten. Außerdem, so sage ich, haben sie den Teleprompter erfunden, heute von den Bühnen dieser Welt nicht mehr wegzudenken. Und blieben dabei immer menschlich!

So ist das eben, nichts kommt von nichts. Und die Leute sehen immer nur das Beet und nie den Spaten. Wenn das tägliche Love Me Do fertig ist, dann heißt es natürlich, ja, etwas derartiges hätten's wir fein auch schon gekonnt. Eh kloa. Oder sie sagen, ja du, du arbeitest bloß auf der Schiffswerft, da hat man es gut, wir hingegen müssen... Oder sie denken, so ein Lied liegt morgens fertig ans Kopfkissen gepinnt, auf daß man es nur nehmen müsse, auf dem Weg zur Drogenhölle kurz beim Studio halt machen und einsingen - und zack! Welthit.

Aber auch hinter den kleinen Blüten steckt harte Arbeit. Offene Ohren, offene Augen, alles einsaugen, verdauen, fermentieren und dann in die Form zwingen, Bleischürze um (wegen der Strahlung des ungezähmten Materials), mit dicken Gummihandschuhen die schweren Zangen halten, dazu die Dämpfe, diese schlimmen Dämpfe, die einem erst zu Kopf und später tief in die Lungen steigen. Gut, wenn man wenigstens einen hat, der einem den Text hält.


 


Freitag, 31. Dezember 2010


Herein - Heraus

A missed train
doesn't indicate a cloudy journey

(Am. Proverb)



Viel wäre noch zu erzählen gewesen. Einreihen könnte ich mich in die Schlange derer, die Geschichten von der Bahn berichten. Andererseits: Ich kann dieses Gejammer nicht mehr hören! Zwei Stunden Verspätung! Herrje, möchte man rufen. Oder: laßt euch ein Leben schenken! Ich könnte Kunde tun von einer Fahrt in den heiligen Abend, dem Schein eines Kometen am Himmel folgend, und einer Verspätung von sechs Stunden. Man muß das aber in Relation setzen zur eigentlichen Fahrtzeit, die bei (gemäßigten) Temperaturen im Sommer auch schon vier Stunden dauert. Da sind zehn Stunden insgesamt nicht zu viel. Immerhin liegt Schnee. Und auch Eis. Vereinzelt war sogar von "Winter" die Rede. Und es kostet nicht mehr! Ich kenne jetzt alles: abgerissene Oberleitungen, vereiste Weichen, vereiste Bremsen, Bahnhöfe ohne Wartesäle, den Nahverkehr und seine Möglichkeiten in und um Münster, Hamm und Dortmund, HBF. Orte, die auf -bögge enden wie in Ober-, Unter-, West- und Nordbögge (oder ähnlich), Momente, in denen verzweifelte Mütter ihre Säuglinge auf dem Vierertisch eines Großraumwagens wickeln, den weihnachtlichen Geruch von Ochs und Esel, der sich in der Folge entwickelt, den angestrengten Blick hinaus ins eisvernebelte Dämmerlicht, nachschauend, ob es nun -bögge oder Bethlehem heißt, das sportliche Cheer up! einer zufälligen Notgemeinschaft, die letzten lauwarmen Tropfen aus der Thermoskanne.

Darüber lohnt kaum ein Wort. Es war ja nur die Hinfahrt. Die Rückfahrt dauerte ebenfalls zehn Stunden, ließ mich die halbe Nacht auf dem Dortmunder Hauptbahnhof verbringen oder besser in dem in einen Container untergebrachten McDonalds, die Taschen gefüllt mit Verzehrgutscheinen, der Güte eines landesweit bekannten Verkehrsunternehmens zu verdanken, auf Anschlußzüge wartend, die irgendwie "aus dem Süden" kamen, aber von dort, wo "gar nichts mehr" ging. Ich kenne jetzt alles. Den tröstlichen Schein des Dortmunder "U"s bei Nacht, die Diskussion mit Bahnangestellten, ob Dortmund nun Champion's League sei oder nicht, das lustige Spiel "wir sagen Züge nach Mitternacht gleich gar nicht mehr an, behaupten aber das Gegenteil", das Gefühl der Ohnmacht vor sogenannten "Service Points", untergebracht in Containern, aus denen eine bullige Wärme lockt, während man selbst seine Füße schon lange nicht mehr spürt, das Miniatureisenbahngefühl, wenn Züge im Hauptbahnhof Hannover zweihundert Meter in die eine Richtung fahren, bloß um wieder zurückzusetzen (Portemonnaie vergessen vielleicht oder eine Warnweste), um dann in die ganz andere Richtung nach Hamburg zu fahren, gegen zwei Uhr morgens von Zugchefs belehrt zu werden, daß man ja "nur aus Kulanz überhaupt mitgenommen" würde, den Geruch vollgestopfter Abteile in einem Nightliner, den Wunsch, einfach bis Kopenhagen durchzufahren, auf Kulanz natürlich, sich gegen sechs Uhr morgens auf dem Hamburger Hauptbahnhof ausgespuckt zu fühlen, nur um zu sehen, daß die U-Bahn gerade vor der Nase wegfährt. Aber dafür nur ein müdes Lächeln.

Auf dieser nicht kleinen Odyssee durch deutsche Weihnachstnächte habe ich viele Menschen kennengelernt. Gefaßte, aufgelöste, entspannte, verbissene. Zugbegleiter von großer Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Augenmaß, andere, die vielleicht in einem Job am Hamburger Hafen, wo man nur Container umlädt, glücklicher wären. Ich sage das mal ganz kulant. Familiengeschichten habe ich gehört, manche freiwillig, manche, das Mobiltelefon macht Zeugenschaft möglich, auch unfreiwillig. Ich habe eine Entwicklungshelferin kennengelernt, die in Haiti arbeitet, und mit einer anderen Frau, die wie ich gestrandet war, ihren Geburtstag im Gastraum des McDonalds am Dortmunder Hauptbahnhof begangen, der eine Anmutung zwischen türkischem Kulturcafé und Abfertigungshalle Tallinn besitzt (wobei, ich kenne Tallinn gar nicht und tue der Stadt vielleicht Unrecht). Grelles Licht, Plastikstühle um Resopaltische, sonst nichts. Am Ende kam raus, sie arbeitet im selben Winkel des Schaugeschäfts wie ich, nur auf der anderen Seite des Werktisches, also ließen wir noch Namen tropfen wie Eiswasser in den Schnee, sagten ha! oder auch mal haha! - bis die Nacht rum war und Weihnachten und das Gefühl von zwanzig Jahre Interrail.

Wie jung man also plötzlich wieder wird. Nächte am Dortmunder Hauptbahnhof zum Beispiel, wenn man nach der "Disco" (wie das damals noch hieß) in dieser neonlichternen Trümmerstimmung mit anderen Zertanzten auf die erste S-Bahn wartete. Wenn man die jungen Leute heute dort beobachtet, junge Mädchen, die 15-Zentimeter-hoch durch den Schnee staksen, Grüppchen, die von hier nach da ziehen, in unsichtbar gelenkten Schüben, merkt man, es hat sich nichts verändert. Wir sind nur die anderen.

Nächste Runde also. Am Himmel über den östlichen Stadtteilen kann ich bereits die Ziellinie sehen. Erste Raketen klären die Luft und künden: 2011 wird bunt.

Achtet darauf, was Silvester passiert. Goldene Regel: Feiert nur mit Menschen, die auch um Mitternacht mit euch anstoßen wollen. Ich fahr jetzt mit der Bahn in die Nacht und kehre erst nächstes Jahr zurück. Ich hab da jetzt Bock drauf. Einen guten Rutsch.


 


Freitag, 24. Dezember 2010


Sieben



Wir werden sieben. Was hält im Leben sonst schon so lang? Was wir schenkten, wie wir uns verschenkten, wie wir liebten, uns immer verrieten. Es heißt, in dunklen Zeiten müssen wir selber ein Licht werfen. Durch Fotoalben blättern, mit Sternen werfen, ein Funkeln sein. Alles erinnern. Frohes Fest, ihr Rocker.


 


Dienstag, 21. Dezember 2010


2010, zweite Lieferung

Kaum war der Schnee geschmolzen, stand schon die zweite Hälfte des Himmels Jahres vor der Tür, und plötzlich stehen sogenannte "Ereignisse" dichtgedrängt, während ich wie die 8-er Kugel beim Billard hin- und hergestoßen werde und versuche, erst als letzter versenkt zu werden.

Juli

Kunst kommt vom Angucken, da macht die Jahresausstellung in der HfbK keine Ausnahme. Summender Sommer mit Picknick am See, leichten Tagen und geringeltem Besuch, bei dem ich denke, ach Freunde, jetzt braucht ihr auch nicht mehr ankommen. Schwitzen bei der großen Rock & Wrestling-Kapitänsmesse. Verloren und doch gewonnen, am Ende aber, das muß man so sagen, wieder verloren.

August

Väterchen Kid ist zu Besuch, ich baue ein Schloß und Brüderchen heiratet. Es summt wie ein weiterer Wespenschwarm: Neben viel Aufregung habe ich jetzt eine Schwägerin und eine lustige Schwippschwägerin. Zum Einjährigen erzähle ich bei Feuerlöscher TV ganz staatsstragend was übers Gängeviertel, werde aber trotzdem nicht zum neuen Kultursenator ernannt. Schlingensief ist plötzlich tot.

September

Bloß raus jetzt, die Luft wird knapp! Zur spätsommerlichen Frische geht es nach Ahrenshoop, ich lebe quasi auf dem Rad, entdecke das Verunsichern von Waldwegen und schaue den Schwalben bei Sturzflügen zu. Noch mal Peter Hein, R'n'R-Kunst und das Gefühl, den Wagen über die letzten Meter bringen zu müssen. Die Bilanz ist gemischt, und am Ende reicht es nur für den zweiten Platz.

Oktober

Dann endlich Herbst. Ari Up ist tot. Grinderman aber lebt. Mit verbundenen Augen tippe ich auf das Buch auf meinem Schreibtisch, auf dessen Titelumschlag "Istanbul" steht, und fliege nach Istanbul.

November

Nachwirkungen: Ich schreibe ganz viel über Istanbul und hätte wie Sheherazade noch weitere 1001 Geschichten erzählen können, will aber nicht langweilen. Hamburg soll ja auch sehr schön sein.

Dezember

Nachdem schon Katzen Eingang in dieses Blog fanden, schreibe ich über Essen. Und als sei dies nicht schon bedenklich genug, falle ich einen weiteren, bislang unerwähnt gebliebenen Sturz ins Leere: Ich schreibe meine erste Rezension bei Amazon. Das war's dann wohl. Am Ende aber darf man den Glauben nicht verlieren, ob im Privaten, ob im Politischen: We're no longer their obedient toys. Denn auch wenn es die Apologeten anders sehen: We Shall Overcome.

Am Ende das zerknirschte Gefühl, mich nicht für alle Geschenke, die ich dieses Jahr auf die ein oder andere Weise erhielt, adäquat bedankt zu haben. Man hätte so gerne alles im Lot. Aber wie heißt es? Blogger are people, too, der Rest ist Aufgabe für 2011:
Patti Smith's humility and sincerity is a nice lesson for people who try and be cool.

Immer weitermachen.


 


Freitag, 17. Dezember 2010


2010, erste Lieferung

Ich glaube, die letzten anderthalb Jahre waren die arbeitsreichsten seit langem. Nebeneffekt: Nach Zeiten eher prekärer Einkommens- und Beschäftigungsverhältnisse bleibt am Ende des Monats zur Abwechslung etwas übrig, das nicht gleich in Altersvorsorge oder ähnlich dunkle Kanäle versickert. Macht auch nicht glücklich, füllt aber den Schuhschrank Kühlschrank. Und: Ich kaufe jetzt auch bei Edeka. Die Balance Arbeit - Lebenszeit allerdings kippt. Andererseits kann nächstes Jahr in diesem Wechselwindgewerbe eh alles wieder anders sein.

Neben der Arbeit noch sogenannte "Projekte", Zeit der Ernte ist aber noch lange nicht. Auch keine Zeit für Theaterspiele, mir ist nach klaren Strukturen, Menschen, die Ja und Nein sagen und dies auch so meinen. Kleine Reisen, Ausflüge, und mehr mit Hunden denn mit Katzen gespielt. Ein gutes Jahr, es hätte ruhig länger dauern dürfen.

Januar

Jahreswechsel, man sollte sich Momente merken. Rheinischer Sound locker aus dem Sessel gelesen. Unverdrossene Schneespaziergänge: Schneidender Wind, frostige Luft, die wie Nadeln in die Haut dringt. Es wird Zeit, Zeichen zu setzen.

Februar

Amphibienmonat, vorsichtiges Stapfen auf Eis, ein kurzer Gruß aus der Ferne, der mich noch einmal seufzen läßt, dann soll aber auch gut sein, beschließe ich. In 20 Jahren werde ich recht behalten haben. Mit Ulrich Wickert bei 24 gewesen, meine Mutter wäre aus dem Häuschen gewesen. Wegen Wickert, nicht wegen "24". Herrn Krüger und den famosen Happy Grindcore zugeschaut, wie sie das Haus wegrocken und dabei lustige Hüte tragen. ("Ist das was mit Kunst, he?" schreit einer.) Anschließend taub. Den ganzen Monat über gab es zudem so etwas wie einen Skandal, bei dem sich der Betrieb bis aufs vergilbte Unterhemd entblößte. Sehr lustig.

März

Menschen äffen den Titel meines neuen Bestsellers nach, was ich belustigt zur Kenntnis nehme. Das wird der Durchbruch! Ein kurzer Spuk in der kleinen Stadt, man hätte einen tchechischen Puppentrickfilm daraus drehen können. Während auf der komplett anderen Seite des Empfindens immer noch kaum eine Spur von Frühling zu vermerken ist. Auch daran aber sei erinnert: Your hair is beautiful.

April

Der macht, was er will. Ich aber auch. Endlich wieder Anradeln, dann hungrig nach Hause und das Osterlamm bewundern. So viel Anmut war selten, Tränen im Knopfloch, stilles Gebet. Zum Chorgesang dann Leatherface. Hamburg sein.

Mai

Plötzlich ist der Frühling da, meine Güte, so bunt muß man es doch auch nicht gleich treiben. Der Frühling kommt, die nächste geht. Reisende halte ich schon lange nicht mehr auf, ja oder ja, nein oder nein, und wer lieber mit anderen Männern tanzt, soll halt gehen. Ich bin trotzdem sauer, was ist mit diesem geschworenen Eid? Ich flüchte mich zu Mama, die ist aber gar nicht da. Andere Menschen, wie diese Zeit immer vergeht, sind schon 30 Jahre tot. Die Hamburger Kulturbehörde trägt ebenfalls eine Schaufel in der Hand. In Ohlsdorf ist noch Platz!

Juni

Die, habe ich beschlossen, bleibt. Die Achse Hamburg-Wien indes hält ihr Jahrestreffen in Wuppertal ab. Kleines Kind, das ich manchmal bin, werfe ich Klötzchen, schaue die Trööööt-WM und keuche selbst durch die wetterleuchtende Landschaft. Himmel, so viel Sport. Schnell was essen.


 


Montag, 29. November 2010


Trockener Wochenendbericht




Mein Bruder und ich wurden bekanntlich bei der Geburt getrennt und wuchsen 20 Jahre versetzt voneinander auf. Da ich aber gut ein halbes Jahr jünger aussehe als ich wirklich bin, fällt das auf den ersten Blick nicht weiter auf. Und doch ist dieser Generationensprung ein wertvolles Korrektiv, zeigt es mir, daß manchen Namen, Farben und Ereignissen, die ich für völlig präsent halte, offenbar etwas gestriges anhaftet.

Hamburg hingegen ist für meinen volljährig gewordenen Bruder und seine frischgetraute Braut neu, und die Hansestadt, die in der Nacht endlich ihre Spagat-Koalition abschafft, zeigt sich glücklicherweise auch darüber hinaus von einer entspannten Bandbreite. Das Wetter spielt Bayrischer Wald, Winterausgabe: Schnee auf Baumwipfeln, ein zugeeister Kanal vor dem Fenster, vernebelte Fernsicht und all überall vermummelte Gestalten, während die Ungläubigen aus dem Bergischen Land behaupten, aus mediterraner Milde angereist zu sein und meine Warnungen ignoriert zu haben. Sie müssen sich meinen selbstkomponierten Schlager "Auf St. Pauli darfst du eine blöde Mütze tragen" anhören und werden dann ohne weitere trockene Bemerkungen erst einmal mit Hut und Handschuhen ausgestattet. Touristen.

Zur Abhärtung schleppe ich sie überall mit rum, halte Vorträge über das hanseatisch-portugiesische Erbe, die Bedeutung der finnischen Seemannsmissionen für die Rettung der Weihnachtsmärkte und weitere, weitgehend frei erfunde Themen. Wir kreuzen die Elbe, werfen einen Blick auf das Disney-Schiff, lassen uns in einem Kaufhaus von einem Verkäufer schmunzelnd versichern, es handele sich dort um "teure Angebote" und entdecken einen neuen Laden im ehemalig alternativen Viertel. Ich plausche unverfänglich entspannt mit der Besitzerin, bis diese unvermittelt und ein wenig zu betont einen Satz mit "also, mein Mann und ich..." beginnt. Also bitte, meine ich später auf der Straße, das mit dem Augenzwinkern muß ich noch dosieren lernen, und mein Bruder ergänzt dazu sehr trocken etwas, was sich gut in einer Satiresendung machen würde.



Das Hauptthema bleibt die Frage, ob man dieses Astra wirklich trinken könne. Da man in unserer Familie die Dinge gerne selbst überprüft, gehen wir zum Flaschenzählen und Vergleichstrinken auf den Kiez, ich muß dem jungen Paar ein paar Läden zeigen, in dem man sich mit müden Beine bequem unter dem Tisch ausschlafen kann, den Kopf auf einen Plüschhocker gelehnt. Kometen-Grind'n'Soul also, dem Hausherrn folgen wir ins Queen Calavera, wo ein Teil der Harbour Pearls Shake'n'Shimmy Ausziehtanz zeigt, und folgen wie die heiligen drei Könige dem Leuchtsignal und der ausgelegten Tiki-Wiki-Spur durch den geheimen Tunnel hinüber zu den Autoschrauber-Rock'n'Rollern gleich neben diesem sehr lauten Laden und weiter über die Hasenschaukel zu einem wagemutigen Finale auf der Ballermannmeile. Und zwar genau so.

Unterwegs versuche ich La Reimann, der ich zufällig begegne, damit zu beeindrucken, daß ich ja das tolle Buch über den Ratinger Hof besitze, was sie ganz trocken damit kontert, eine der Geschichten darin geschrieben zu haben. Zerknirscht muß ich hier und an dieser Stelle einer erweiterten Öffentlichkeit gegenüber zugeben: Ich bin bislang nur dazu gekommen, ein wenig oberflächlich in dieser tollen Edition zu blättern, möchte aber trotzdem sagen: Das gehört unter jeden vernünftig dekorierten Weihnachtsbaum!

Tief in der Nacht zeigt St. Pauli erneut seine große Aufrichtigkeit, als uns an der U-Bahn ein Typ anspricht, der Flyer für ein Tattoo-Studio verteilen will. Ob wir eins hätten, wünschten oder ändern wollten? fängt er seinen einstudierten Spruch an, um dann nach einer Gedankensekunde zu enden: "Ist doch auch irgendwie scheiße jetzt, um diese Zeit." Und zieht weiter, ehe wir im Chor eine trockene Antwort formulieren können und macht Faxen mit seinen Flyern, die Herbstblättern gleich um netzbestrumpfte junge Damen segeln, die auf dem Bahnsteig stehen und dem Winter trotzen, die uns einhüllen in eine tintenbedruckte Wolke, während irgendwo Musik spielt, während du an einem anderen Ort bist.

>>> Geräusch des Tages: Link Wray, Rumble


 


Sonntag, 14. November 2010


TagundNachtgleiche




In dem Schuppen wurde das Rauchverbot sehr selektiv ausgelegt, und ich merke wieder: Ich brauche einfach länger zum Regenerieren. Das Nikotin vom Passivrauchen jedenfalls reicht wohl bis zum nächsten Jahr. Obwohl der Kollege tief in der Nacht einen famosen Sixties-Soul-Schrabbel-Ska-Schweineorgel-Set auflegt, tanzt leider niemand auf dem Tisch, und ich habe nicht das richtige T-Shirt dafür an. Macht aber nichts, zumal ich zuvor eine Imkerin kennengelernt habe. Ich nutze die Gelegenheit, Näheres über Aufwand und Gewinn, praktische Abläufe und, es geht ja nicht ohne, bürokratische Hürden zu erfahren. Versicherung, Steuern, Anmeldung, man glaube nicht, man könne es einfach so Summen lassen. Man muß sich kümmern, auch um das Kleinste noch.

Allgemeines Rumpeln und Pumpeln, Wiederentdecken und Aufstöbern, ein, zwei trinken sich selbst unter den Tisch, proklamieren das Ende vom Anfang, dann hinaus und zur Lumpensammler-S-Bahn, stotternd nach Haus. Halb fünf, Licht aus.


 


Montag, 8. November 2010


Wird auch immer kürzer

Gerade Alain Delon meinem Vater zum Geburtstag gratuliert. Er war gerade beschäftigt, weil er irgendein Gerät ausbauen mußte ("wart' mal, ich stell' dich auf laut"), und brummelte dann ein wenig jojo und neinnein. 2:28 Minuten, sagte das Display. Ich gebe zu, ich habe es durch Nachfragen etwas in die Länge gezogen. Die Wetterdaten haben wir noch getauscht.


 


Sonntag, 7. November 2010


Panorama & Freiheit

Die angenehm kalte, aber sonnige Luft nutzte ich für einen meiner regelmäßigen Spaziergänge durch die von Gott und Welt verlassenen Gewerbegebiete, um tüchtig Auszuhusten und ein wenig zu Fotografieren. Erstmals nun wurde ich von am heiligen Sonntag dort Gewerbe Treibenden mißtrauisch aufgehalten, einer fuhr mir gar mit seinem Auto hinterher, um mich einer Befragung zu unterziehen. Nun ist es ja so: Gibt man zu Protokoll, man fotografiere gerne rostige Eingangstüren oder Dinge dieser Art, könnte man auch gleich behaupten, man nähe sich abends zum Schlafen in einen Pferdekadaver ein. Die Wirkung auf manche Menschen ist dieselbe. Man wird also ungläubig und eher noch eine Spur mißtrauischer beäugt, die Blicke wandern von meinem Gesicht hinab zur Kamera, dann wieder zurück. "Papparazzi?" fragt man.



Wer also gestern noch griente und dachte, jaja, Anger-Management, was soll das denn wieder geben, sieht nun die praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Statt bissig zu kontern mit "die jagen nur Prominente, sind Sie prominent?", reicht ein knappes "Nein", (nie etwas erklären!), das läßt das Gegenüber ins Leere laufen. Und selbst wenn man sich für solche Fälle einen dieser Streetview-Apologeten im Kleinformat in der Fototasche wünschte, der nun wortreich etwas über Gesetze, den freien Fluß von Information, Zensur durch Unterlassung, globale Vernetzung und Gedankendurchfall in Echtzeit vortragen könnte - die Wirkung auf einem kopfsteinbepflasterten, müllübersäten Gehweg im trostlosen Nirgendwo scheint mir ungewiß. An der Türe, also an der Front, so heißt es in der praktischen Philosophie für Türsteher, diskutiert man nicht bereits geführte Diskussionen.

Ich hatte also dieses Schild, das sich vielleicht gegen Erwerbslose wendet, vielleicht aber auch anders gemeint ist - darüber lohnte es zu diskutieren - fotografiert, natürlich vom Bürgersteig aus. Ich trete doch nicht auf den Rasen. Nun aber blicke ich freundlich zurück ins Gesicht dieses Import-Export-Menschen, hinunter auf sein Mobiltelefon, das er griffbereit hält, und wieder hinauf. "Das ist so erlaubt", sage ich. "Privat?" fragt er. Ich huste dir was, krank wie ich bin. Ist eigentlich egal, denke ich, ich bin ja kein Suchmaschinenkonzern, sage aber nur knapp "Ja", schon allein, um ihn wieder ins Leere laufen zu lassen. Wichtig ist, erkläre ich dann doch, daß man auf öffentlichem Grund bleibt. Und ich öffne ihm ein gedankliches Panorama: "Wenn Sie ein Schiff auf der Elbe fotografieren, fragen Sie auch nicht den Kapitän." Er scheint nicht wirklich überzeugt und flüchtet sich in ein "Ich will halt mal nachfragen". Aber gerne doch. Man wünscht sich ein schönes Wochenende, ist ins Gespräch gekommen und geht weiter seiner öffentlichen Wege. Es geht um Details.

Zum Schluß noch die Einnahmen-/Ausgaben-Überschußrechnung:

[x] verloren (im Osten Hamburgs): 1 Okularmuschel DK-21 (Nikon)
[x] gefunden (im Straßengraben, öffentlicher Grund): 1 Gegenlichtblende HB35 (Nikon)

Der Tag nimmt was, der Tag gibt was. Die Blende paßt leider auf keins meiner Objektive, ist also gerne im Tausch gegen die verlorene Augenmuschel abzugeben.