Montag, 8. Oktober 2012


Back in Seven Minutes



Bei Feinkunst Krüger gab es am Samstag den großen Wurf zu sehen. Sozusagen ein grafisches Erntedankfest zum Herbstbeginn. Als glorreiche Sieben zeigen Matt Lock, Patrick Farzar, 4000, Stefan Marx, Ken Kagami, Ingo Giezendanner und Anton Engel Grafiken und Objekte verschiedener Formate. Ein mittlerer Rausch dfer Fülle, sowohl in der Hängung als auch in den Themen der Bilder: Superhelden mit Rumms, Supergeschlechtsteile mit Wumms (paritätisch gegendert), superfiligrane Ausgestaltungen und grobes Nach-Hause-Hämmern sorgten folglich auch beim Publikum für angenehm gelockerte Stimmung.

Die tätowierte Knarre von Patrick Fazar hängt an dünnen Fäden als Mittel zwischen Kolonialisierungsbeihilfe und einer pulvergefüllten Metapher für "austherapiert". Der Künstler wird es anders sehen, selten jedenfalls schienen Kerben auf dem Kolben hübscher. Munteres Plaudern also zwischen Phalli und Wonder-Women, ich war da ganz angetan und völlig neben der Uhr, als es halb zwei ans Auskehren ging.

Entspannte Heimfahrt in den Wandelstadtteil. Wo früher nur russische Schlägerbanden mitfuhren, jetzt ein Gewusel von Szenejugendlichen an den Stationen. Es geht etwas vor im Niemandsland. Ich aber muß vor der Revolution erst ein bißchen Schlafen.

("Back In Seven Minutes". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 27. Oktober 2012.)


 


Sonntag, 23. September 2012


Wie Jon Spencer den Blues ohne mich explodieren ließ



Ach, documenta. Zum Glück kann man es in Hamburg auch bequem vor der Türe haben, wenn nämlich im Rahmen des Reeperbahnfestivals das Flatstock Europe seine Zelte in die letzten Sonnenstrahlen stellt. Die 37. Ausgabe der siebdruckenden Rockposterschau mag ich nicht verpassen, da kralle ich mich mit den Fingerspitzen in den Boden und robbe... also, ich meine, wer will, der kann auch.

Neue Gesichter und Künstler sind dort, aber auch viel Vertrautes. Ich komme schon deshalb kaum voran, weil ich alle zwei Stände auf Bekannte treffe, in den Rücken geboxt, auf die Schulter geschlagen, in die Knie getreten... ich meine, angesprochen werde. Das ist gut fürs Sozialgefüge und die emotionale Herdplatte. Derart weichgekocht kaufe ich ein paar Drucke, darunter ein kleines Set von Kunny van der Ploeg. Die Holländerin hat Softmachines collagiert, die zum Teil unter dem Motto "too beautiful to work" agieren. Die Franzosen Matt und Nick von ElvisDead arbeiten ähnlich wie Thomas Ott mit Schabkarton. Die Drucke erinnern an Linolschnitte, sind aber meilenweit von meinen eigenen dilletantischen Unternehmungen entfernt. Spencer von Petting Zoo stammt aus Brighton, wohin für mich ja immer noch eine Reise offensteht, und hat ein tolles Plakat von Jon Spencers Blues Explosion, dem ich nicht widerstehen kann.

Unter der Hand macht das Wort die Runde, daß die Band vor ihrem eigentlichen Auftritt auf dem Festival einen kleinen Gig in einem Plattenladen in der Nähe gibt. Leider liegt das alles unter meinem derzeitigen Aktionradius von zwei, drei Stunden. Das hätte man sich sonst nicht entgehen lassen dürfen, hätte man nicht. Doch wer beim nächsten Mal noch will, sag ich mir so, kann zwischendurch auch mal nach Hause gehen und dort völlig ungestört den eigenen Blues explodieren lassen. Mußten die also ohne mich rocken. Bislang stand noch nichts in der Zeitung, ich denke, die haben das geschafft. Ich ja auch.

>>> Geräusch des Tages: The Jon Spencer Blues Explosion, She Said


 


Dienstag, 18. September 2012


Visionen aus fernen Zeiten

Seit Tagen geht mir ein Schlager aus den 80er Jahren nicht aus dem Kopf. "Eins kann mir keiner", lallt es da in den Hohlräumen meines schrumpfenden Hirns. "Eins kann mir keiner nehmen", geht das gröhlend weiter wie ein Geier im Sturzflug: "und das ist die pure Lust am Leben". Yeah, sage ich dann, halb gebückt an der Schreibtischkante aufgestützt. Und nochmal: "Yeah!" Denn wie sagte man mir neulich so schön: "Wer will, der kann auch."

Folgsam trat ich mir heute sozusagen selbst in die Kniekehle, ein derber Spaß, nur zur Ermunterung, was sonst, und wankte gen Deichtorhallen. Dortselbst zu sehen die ärztlich nicht weiter betreuten Visionen des Albert Watson. Darauf hatte ich mich ursprünglich seit Anfang des Jahres, als ich erstmals von diesem Projekt hörte, gefreut. Vor fünfzehn Jahren oder so habe ich eine Ausstellung seiner Fotos in Düsseldorf gesehen oder Köln, ich erinnere mich nicht mehr genau. Damals begann ich selbst gerade verstärkt im Mittelformat zu fotografieren und lebte eine Zeit lang quasi nur in der Dunkelkammer, was mich nicht recht weiter, aber immerhin von der Straße wegbrachte. Es war also auch eine technische Begeisterung dabei, die großformatigen sepiagetönten Abzüge Watsons zu sehen, allesamt atemberaubend akribisch ausgefleckt, wo ich beim Vergrößern mit Staub und Flusen kämpfte.

Ja gut. Und es waren die Neunziger. Da gab es noch die Max und den Stern (ach so, höre gerade, den gibt es ja immer noch). Und Stars und Supermodels, und die Frauen waren alle nackt. Also auf den Fotos von Albert Watson. Der hatte 1975 Alfred Hitchcock mit einer toten Gans (das Tier meine ich) fotografiert, hatte damit laut Selbstaussage seinen "Durchbruch" geschafft, wohin, weiß ich nicht, denn die meisten ikonografischen Fotos von Watson stammen eben aus den Neunzigern. Nun ist das alles vorbei.

Ja, es gibt den Stern tatsächlich noch, die von Watson häufig fotografierte Sängerin Sade macht ab und an Musik, sogar die Max erscheint als eine Art Zombiemagazin immer wieder mal am Kiosk und kündet trotzig von einer Zeit, die heute fürchterlich fremd und befremdend erscheint.

Wer will heutzutage noch ernsthaft Porträts von Mick Jagger und David Bowie sehen? Oder cross-entwickelte Glossy-Pics von LackLederLatex-Damen in der Wüste bei Las Vegas? Diese Welt, sollte es sie jemals gegeben haben, ist so tot wie die plattgefahrenen Frösche, die Watson zwischendurch auch immer mal wieder fotografiert hat - in so einer sterilen Studio- und Leuchttischfotografie, Schattenlosigkeit, Hohlkehle mon amour, ästhetisch-technische Spielereien, die ein Hinweis darauf sind, wie einem der Instagram-Dreck in zehn, zwanzig Jahren vorkommen wird.

Fotografie sollte ja im besten Fall ein Fenster sein zu einer Welt, die man so nicht kennt. Weil einem als Betrachter der Zugang fehlt. Und natürlich habe ich keinen Umgang mit Mick Jagger (muß jetzt auch nicht mehr anrufen), daher ist es schön, den Mick Jagger dann mal sehen zu können, aber, und das ist der zweite entscheidende Punkt für gute Fotografie, da ist noch die Frage der Haltung. Man will ja was erfahren, was man nicht schon weiß, über den Jagger zum Beispiel - und da macht es wenig Sinn, ein durchästhetisierte Abbild eines bereits durchästhetisierten "Image" zu fotografieren, auf eine Weise, mit der man für gewöhnlich auch Autos oder Waschpulver oder nackte Körper fotografiert.

Weshalb einem Fotos ja auch Geschichten erzählen sollen. Authentizität war dafür mal ein Begriff (gilt ja auch schon wieder als überholt), weshalb man sich im Sog von direkten, persönlichen Zugriffen auf sehr, sehr eigene Welten wie bei Larry Clark, Nan Goldin und Wolfgang Tillmans dann eben den ganz normalen Leuten und Nachbarn und Freunden auf Flickr zuwendete, ihre Geschichten und Eindrücken verfolgte - und es einem auch scheißegal war, wo die Schärfeverläufe lagen oder ob Lichtsäume und Reflexionen durchs Bild schossen. Die Helsinki Schule machte daraus für die Kunstfotografie eine eigene Richtung, die Max wurde visuell folgerichtig durch Vice und Strecken voller trashiger Kotz- und Partybilder abgelöst. Ein Fenster zu eigenen oder fremden Welten, je nach eigener Lebenswirklichkeit. "Denn eins kann mir keiner..." Schön zu sehen auch im Niedergang der Pornoindustrie, den zu beklagen auch nur Leuten einfallen kann, die meinen, armselige Pseudo-Glamourveranstaltungen wie die Venus und Plauderstündchen mit Dolly und Gina seien der Inbegriff eines auch nur ansatzweise relevanten Gesellschaftslebens. Die Welle der Amateurpornografie in den letzten zig Jahren war dabei möglicherweise emanzipatorischer als die ganze Bloggerbewegung. Jedenfalls bei allem, was man auch dagegen einwenden könnte, ein gelungenes Beispiel für Kill Your FUCKING Idols, mach es selbst. Bauchfalte statt grimassierender Schauspielschule. Könnte man auch mal kuratieren und von der Straße ins Museum holen.

So. Ich bin ein bißchen vom Wege abgekommen, ich wollte ja in die Deichtorhallen. Dort hat man die Werkschau, damit der Anachronismus nicht ganz so augenfällig wird, erweitert ("featuring") durch eines von Watsons aktuellen sozial engagierten "Projekten": Cotton Made in Africa nennt sich das und soll aufmerksam machen. Wozu dann die Leiterin der betreuenden Hilfsorganisation was dichtet vom "Medium der Kunst" und dann geht es nachhaltig weiter mit Bewußtsein und... während man etwas ratlos vor den Porträts steht, die Watson in Benin gemacht hat. Ich weiß nichts von Benin und erfahre auch nicht viel, aber die Menschen dort tragen bunte Sonnenbrillen und Trainingsanzüge und traditionelle Kleidung und stehen vor pittoresken Hintergründen und halten sogar einmal freundlich lächelnd Baumwolle in die Kamera und sehen dabei aus wie Models in einer Modestrecke. "Wirklichkeitssplitter aus dem Leben der afrikanischen Baumwollbauern" (Zitat) sollen das sein, und das ist glücklicherweise offenbar alles sehr schön und gefällig. Und paßt damit ja auch super nach Hamburg.

("Albert Watson: Visions. Feat. Cotton Made in Africa". Deichtorhallen, Hamburg. Bis 6. Januar 2013)


 


Sonntag, 2. September 2012


George hearts Maria

Mars will be perfectly angled to the full moon
and Neptune, ensuring a highly bewitching time.
This full moon gets my vote for one of the most
romantic of all full moons of the year,
if not THE most romantic one of all.

(Astrology Zone)



Na, was diesen vollen Blue Moon angeht, würde ich sagen, da geht doch noch was. Also, da geht doch noch was, liebe Sternenkonstellationen, schaut doch einfach noch mal nach im Vorhersagekatalog. Ich nämlich wie Falschgeld Straße rauf, Straße runter, alle Antennen auf Empfang, hör' aber nur (Zitat Uwe Lewitzky): "In Hamburg sagt man, sieh zu daß du Land gewinnst, du Wichser".

Ich aber unverdrossen dahin, wo der George der Maria ein Herz und ein Auge spendiert. Die vom Helium Cowboy reiten nämlich schon mal voraus, ehe im September dann die weiteren relevanten Hamburger Galerien mit neuen Ausstellungen nach der Sommerpause nachziehen. Lori Zimmer von Art Nerd New York (nebenbei, was macht eigentlich das Art-Nerd-Projekt von Ms Wurzeltod?) hat mehr als zwei Handvoll Künstler auf kleinstem Raum im Raum zusammengebracht - gut für die Alice in uns, die mal kleiner, mal größer werden und durch niedrige Türen schauen kann. Zeitgenössische Künstler zeigen ihre Interpretation dieser Art des Liebesbeweises und verleihen ihm in “George Hearts Maria” eine moderne Perspektive, um so den hoffnungslos Verliebten ihre Anerkennung zu schenken, heißt es auf der Webseite, sehr passend also zum oben erwähnten Blue Moon. Ich nenne das mal einen Besichtigungsgrund, allem und jedem und dem oder der Speziellen ein Auge zu schenken, "auf daß die Liebe ewig währt" (Motto der Schau).

Danach dann Feuerwerk, aber das ist in Hamburg jede Woche. Denkt euch einfach nichts dabei.


 


Sonntag, 24. Juni 2012


LeadAwards 2012



Am Donnerstag bereits, man kommt zu nichts, war die Ausstellungseröffnung der diesjährigen Leadwards, bei der ein wenig nach dem Motto, heute ihr, morgen wir, die Zeitschriftenbranche ihre visuellen Leader kürt. Die große Boulevardzeitung befindet sich erstmals darunter, vielleicht weil sie Jubiläum feiert, vielleicht weil sie mit ganzseitigen Titelstories hin und wieder auch über gestalterische Grenzen geht, wenn inhaltliche und ethische Grenzen auch sonst schon sehr elastisch aufgefasst werden. Was wollte ich sagen? Ach so, Drecksblatt.

Drumherum viele übliche Verdächtige, SZ-Magazin, die Spex (hö, die haben jetzt auch Strecken mit künstlerischer Fotografie?), dazu Vice mit ihrem radical chic, besonders aber hat es mich gefreut, das im Konzert der Etablierten auch das formatkleine, aber inhaltlich großartige, unabhängige Fotomagazin Die Nacht gleich zwei Mal Erwähnung fand. Sehr schön.

Ein wenig diskussionswürdig vielleicht die Wahl der besten "Weblogs". Haw-Lin "setzt Maßstäbe mit ungewöhnlichen Bildwelten in der internationalen Fotoszene", urteilt der Freitag in einer Sonderausgabe über den Sieger. Ich sag nur leise "Aha" und fühle mich an ungefähr jedes fünfte Tumblr-Blog erinnert. Ich zum Beispiel schaue gerne Polarn Per, aber gut, der kommt nicht aus Deutschland. Das sind schöne Scrap-Books, aber kuratorisch? Visuell Maßstäbe setzend? Die Akademie hat entschieden, die medienkooperierende Zeitung lautmalt es nach, und zum Glück darf jeder seine Meinung haben.

("Visual Leader 2012", Hamburg, Deichtorhallen. Bis 26.8.2012)


 


Samstag, 23. Juni 2012


Alice, don't give it away



Ich stand also wie ein verspanntes weißes Kaninchen herum, immer wieder auf die Uhr schauend, die Zeit kontrollierend, meine Güte, die Zeit, die liebe Zeit! Ein Stück weiter wartete eine junge Frau ebenfalls etwas richtungslos in der Zeit herum. Sehr attraktiv Sie fiel mir gleich auf, und da ich, aus einem absonderlichen Grunde oder auch keinem, Blömsche in der Hand hatte, hielt ich es für eine gute Übung, mich an mein weiteres Leben als grauhaariger, im besten Falle harmloser alter Mann zu üben, der dereinst aus seinem Rollator heraus jungen, hübschen Damen Blümchen und ein Lächeln schenkt. Einfach so! Weil ich es kann. "Bitteschön, fürs lange Warten", schnarrte ich also ölig freundlich und übergab der überrascht und aus der Tiefe ihrer offenbar bereits aggressionsgeladenen Gedankengänge mit einem "Hmpf" reagierenden Frollein ein Blümchen aus meinem Gebinde. Gleich dem gebremsten Spiel evozierter Potentiale (für die Hirnforscher unter uns) konnte man förmlich den stark verlangsamten Erkenntnisablauf zwischen reflexartig Hand ausstrecken, Gegenstand in Empfang nehmen, Augen von mir weg auf den Gegenstand lenken, inneres Lexikon durchblättern, auf "Aha, Blume", kenn ich! entscheiden und ein rauhes "Danke" herausstottern. Aber da war ich fast schon weg, die nun fehlende Blume ersetzt durch den Gedanken, "sollte ihr Typ noch auftauchen, wird er eine sehr, sehr, sehr gute Erklärung brauchen". Vielleicht sogar eine Entschuldigung. Besser noch: noch mehr Blumen.

Von meiner eigenen Herzensgüte angenehm berauscht, lenkte ich meine Schritte nun zur Kunsthalle, darin die Ausstellung Alice im Wunderland der Kunst auf dem Spielplan steht. Die kleine Göre, die bei einem älteren Mathelehrer auch eine für manche zweifelhafte, sicherlich aber (s. o.) wohlmeinende Aufmerksamkeit fand, hat ja, seit sie auf der Jagd nach einem Kaninchen in ein tiefes Loch fiel, große Menschen und kleine Menschen zugleich begeistert. ("One pill makes you larger, and one pill makes you small", Q) Neben Fotografien von Lewis Carroll gibt es einige hübsche Positionen zu sehen. William Blakes Porträt der Liddell-Schwestern, Beiträge von Max Ernst und, da muß man durch, Dalí, dazu reizvolle modernere Ansätze, Kiki Smith etwa oder Pipilotti Rist.

Ein wenig fehlten mir Bezüge ins Zeitgenössische. Unter den ausgestellten Buchausgaben hätte sich zum Beispiel die wunderbare Arbeit von Camille Rose Garcia dringend empfohlen. Keine Verweis auch auf Cos-Play-Inszenierungen, aber gut, die Ausstellung heißt eben nicht "im Wunderland der Alltagswelt". Schön ist immerhin der kleine Raum, der sich nur durch eine kleine, sehr niedrige Tür betreten läßt. Habe ich alles geschafft! Allein! Auch ein kleines Wunder.

("Alice im Wunderland der Kunst", Hamburger Kunsthalle. Bis 30.9.2012)


 


Freitag, 13. April 2012


Avec Maman

Sick people die of the need
of companionshsip,
a stroking hand,
a hungering for compassion.

(Louise Bourgeois über Cell I)



Seit Wochen entzückt die neun Meter hohe Bronzespinne auf dem Platz zwischen der Neuen und der Alten Kunsthalle in Hamburg, Louise Bourgeois' Maman, eine wuchtige Mutter, die über der Stadt ihre Fäden webt. Schönes Ausflugsziel also für Mütterchen Kid, so mein Gedanke, als diese zu Besuch in der Hansestadt war.

Kurz hatte ich Bedenken, ob das Hauptwerk der Ausstellung, wirklich so passend für den Anlaß war. "Passage dangereux" ist eines der größten Installationen aus der Werkreihe Cells (Bilder). Vergitterte Räume, die gefüllt sind mit Objekten wie Spiegel, Stühle, rostigem Tand, zusammengeführt als Transiträume von Kindheit, Trauma, Tod, Sex und Einsamkeit. Da liegen verschieden große Glaskugeln auf Stühlen wie in einer Familienaufstellung, sind die abwechselnden Ausbuchtungen und Erker der Gitterverschläge wie Wohnräume gestaltet, man erkennt ein Bad, ein Kinderzimmer, einen Wohnraum, ein Schlafgemach. Mutter aber ist interessiert, drängt sich nah an die Käfige, um einzelne Gegenstände zu identifizieren, stellt Fragen, die ich adhoc auch nicht beantworten kann (für die das Buch The Secrets of the Cells aber ganz hilfreiche Hintergrundinformationen bereitstellt). Ebenso interessiert betrachtet sie auch die handwerklichen Fähigkeiten in der zweiten Werkgruppe, zusammengenähte Stoffbilder, teils abstrakt, teils mit Spinnennetzen (plattgedrückte Regenschirme?) versehen, teils als Gebrauchsgegenstände wie Schutzhüllen für Bücher gestaltet.

In einem weiteren Raum (insgesamt ist die Ausstellung sehr klein), versuchen wir halb-abstrakte Bilder zu deuten, auf denen sich liebende Paare, träumende Föten und schwingende Äste begegnen. Mutter erklärt, was sie sieht, dort ein Kopf, hier eine Tämnzerin. Ich sage, das sind doch medizinische Aufnahmen, erkenne Nervengeflechte, Darmgeschlinge, hier der Magen, dort die Gallenblase, die Bourgeois war da bereits über 90, erkläre ich, sicher mußte sie mal zum Arzt. Mutter meint, sie hätte Lust auf einen VHS-Kurs, selber was malen.

(Louise Bourgeois, "Passage dangereux". Hamburger Kunsthalle. Bis 17.6.2012)

>>> Rainer Crone, Petrus Graf Schaesberg. Louise Bourgeois: The Secret of the Cells. München, London, New York: Prestel, 2008.)


 


Dienstag, 28. Februar 2012


In Schauwerte investieren



Mit diesen vielen jungen Leuten hier auf einmal wird es langsam unheimlich im Viertel. Diesmal strömten sie zum Kunstveranstaltungsraum (so was gibt es hier auch schon) gleich bei mir ums Eck. Der Giger Hans-Ruedi zeigte dort eine Retrospektive. Von wegen passé also, andererseits - sind nicht gerade junge Leute häufig ganz besonders konservativ? Übermäßig neugierig war ich nicht, hatte ich letztes Jahr erst eine Werkschau in Wien gesehen. Aber wenn schon mal was hier im Stadtteil passiert...

Interessanterweise war es doch nicht die Übernahme der Wiener Ausstellung, die Auswahl in Hamburg war eine andere und zeigte deutlich mehr Skulpturen. Die allerdings wirkten ein wenig fremd, weil sie zum Teil aus ihrem Kontext gerissen waren. So war das patinabesetzte Rückteil eines Müllwagens (Passagen) wenig bedrohlich, aber immerhin für Rostfreunde beeindruckend. Gigers Weiterverarbeitung des Motivs ins Obszöne aber fehlte, ebenso wie bei vielen Bildserien. Kein Hinweis auf indizierte Plattencover, befremdliche biomorph-assoziative Formen und Penisparaden. Definitiv undersexed und ein wenig domestiziert wirkte folglich diese Hamburger Werkschau eines großen Verstörungskünstlers. Auch die tragische Geschichte um die einstige Lebensgefährtin, Muse und Model Li Tobler blieb ausgeklammert. Die Schauspielerin hatte sich 1975 mit gerade einmal 27 Jahren erschossen und ließ einen erschütterten Giger zurück. Dieser deutliche Wendepunkt ist immerhin ein weiterer möglicher Schlüssel für Teile seines Werkes, der einer "Retrospektive" gut angestanden hätte. Überhaupt kam die Frühzeit etwas kurz. Die "Atomkinder", Gigers Schülerarbeiten, waren (in Teilen) zu sehen, in Wien gab es darüberhinaus aber auch Dokumente aus frühen Galerie-Zeiten, wo Giger mit aus harten Brotlaiben ausgehölten Schuhen zu Ausstellungen erschien. Dafür gab es das Alien und ein paar andere Monstren, besagte Möbel und viel zu viel hinter Glas. Nicht, daß man bei Airbrushbildern großartig auf Strukturen und Haptik hofft, aber so hermetisch gegen den Alienatem der Besucher geschützt, hätten es auch Posterdrucke sein können.

Die Schau läuft noch bis zum 3. März, wer sie sehen will, muß sich sputen.



Anschließend zur HfBK, diplomierte Kunst anschauen. Im labyrinthischen Gebäude verteilt, zeigte sich großteils ebenso gezähmtes, ganz anders als auf den Jahresaustellungen, wo die Pferdchen freier laufen. Ein, zwei chinesische Malerinnen fielen mir auf, Christin Kaiser bekam darüber hinaus von mir den "Mutpreis", sie hatte gleich das ganze Atelier mit ein paar tausend Litern Wasser geflutet, das teuflische Duo Simon Hehemann und Stefan Vogel, verbrauchten den von ihrer letzten Ausstellung bei Feinkunst Krüger übriggebliebenen Gips und gestalteten einen begehbaren Stalakmitenwald in ihrem Atelierraum. Interessant auch Carsten Bengers Arbeit, weil er dabei die Aktion von The KLF zitierte, die 1994 ihre künstlerischen Einkünfte (eine Million Pfund) auf einer schottischen Insel verbrannten. Heute verbrennen nur noch Nichtkünstler Geld. Das sind dann aber gleich Milliarden.

(H.R. Giger. "Retrospektive". Fabrik der Künste, Hamburg. Bis 3. März 2012; "Absolventenausstellung 2012". HfbK, Hamburg. 23.-26.2.2012)


 


Samstag, 18. Februar 2012


Bitte legen Sie nicht auf



Beim letzten Mal wurden nicht alle Schnitte gemacht, also mußte ich die Tage noch mal in mein zweites Wohnzimmer. Mittlerweile kenne ich mich ja gut aus, die Assistentin routiniert, sie legt mir eine Decke über, während ich mir fast ebenso routiniert den Lärmschutz zurechtrücke, sie will mich schon reinschieben, ich frage "Kontrastmittel?" - ach ja, stimmt, sie zieht mich zurück und legt mir noch schnell einen Zugang. Ich mag diese Teamarbeit, das efffiziente Hand-in-Hand, ohne große Worte und Erklärungen. Auch innendrin fühle ich mich bald heimisch, eigentlich könnte ich mir kleine Fotos an die Röhrenwände pinnen, ein Poster von Bananananamanamananramanana vielleicht. Während diese Industrial-Rhythmen durch die Kopfhörer schreddern, habe ich Zeit für eine kurze Rückbesinnung:

So traf ja neulich schon Besuch aus Berlin ein, sie kommen vielleicht, um sich satt zu essen oder abends mal auszugehen. Wie gut, daß bei Herrn Krüger noch lange Licht ist. Hold The Line heißt die aktuelle Gruppenausstellung. Am Eröffnungsabend beweist sich, wie vorausschauend es war, größere Räumlichkeiten zu beziehen. Bald nämlich müssen etliche Besucher geduldig vor der Türe warten, sie trotzen der Kälte, denn sie wissen, die Kunst wird ihre Herzen wärmen.

Eine Großskulptur von Ellen Sturm dominiert den Raum, eine gemütlich ausgestreckte Nana, der man verstohlen auf die geheime Stelle zwischen den Augenbrauen schaut, während man sich beschämt erinnert, bei den täglichen physiotherapeutischen Übungen geschludert zu haben. Heiko Müller zeigt bedrohliche Waldszenen, ein Bambi in Gefahr, den Jägern blitzt der Wahn aus den Augen, Klaus Waschk, der verbindende Hochschullehrer, brachte die Künstler zusammen und in seinen Zeichnungen das Figurenensemble eines George Grosz in die Hamburger Kohlhöfe. Beachtung verdient das Gewächshaus von Gesa Lange. Fast hätte ich es nämlich übersehen, weil mich der Shabby Chic des alternden Tomatenschutzraums schon genug begeisterte. Aber meine Begleitung wies auf das Atmen und Beben hin. Der aufgeschüttete Boden im Kulturhaus nämlich bewegt sich, pulst und pumpt gar unheimlich, man wartet auf das verräterische Herz, das sich mit einem Schrei freilegt, zum Glück drängt keine Hand im billigen Effekt ins Freie, spritzt keine Flüssigkeit hinaus. Vielleicht, so mutmaße ich, liegt darunten die Braut, Uma Thurman kämpft sich mit der Fünf-Finger-Technik aus dem Sarg und wird gleich im gelben Trainingsanzug durch die Menge brechen. Nichts von alledem aber geschieht, wir beobachten gebannt, überspielen unsere Angst mit amüsiertem Kunstbildungsbürgerlächeln, beobachten argwöhnisch die Wellen, das Toben unter der Erde, während ich mir in der Hosentasche vorsichtshalber meine Wohnungsschlüssel wie einen Schlagring zwischen die Finger stecke. Ich meine, man weiß ja nie, ist eine große Stadt hier und draußen schon dunkel!

Weiter dann ins Nachtcafé, glitzernde Lichter und kilometerweitführendes Reden, ruckzuck drei Uhr, endlich wieder Abende ohne Sperrstunde, ohne Nachtschwester. Simulierter Normalverlauf, auch wenn so vieles so anders ist.

("Hold The Line". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 25. Februar 2012.)


 


Montag, 6. Februar 2012


Laß uns ein Wunder sein



Und weil ja manchmal nur ein Wunder helfen kann, habe ich mir kurz vor dem guten Schluß noch die gleichnamige Ausstellung in den Deichtorhallen angeschaut. Hübsch unstrukturiert präsentierte sich die Halle wie eine Wunderkammer, obskure und singuläre Objekte stehen quer und schräg zu jeder Lesrichtung und warten darauf, ein neues großes Ganzes zu ergeben. Oder eben ein wundersamer Überraschungsraum. Man findet zerrumste Teile der "Wunderwaffe" V2, eine Wunderbatterie, deren Saft niemals ausgehen soll, eine lustige Orgonkiste (Kippenberger/Oehlen) für die regelmäßige Wunderheilung, Heilmagneten und Reliquarien. Ein hübscher Super-8-Film von Roman Signer ist wundervoll witzig, und in der Mitte der Ausstellung wartet eines der größten Wunder: das von Bern nämlich, 1954. Der WM-Pokal ist eine Leihgabe vom DFB.

In einer der vielen kleinen Kuben (deren Türen als Teil des "Kinderparcours" ganz niedrig sind) gibt es all die verschiedenen Zauberstäbe aus der Welt von Harry Potter zu bestaunen. Wirklich verwundert bin ich zwar nicht, manches fehlt, das Wunder der Liebe zum Beispiel. Aber, so erkläre ich einer Dame, die mich zur Ausstellung befragt, für Hamburg sei das ja mal eine ganz ungewöhnliche Konzeption. Sie grinst. Dahinter stecke ja auch eine Berliner Kuratorengruppe. Mich wundert nichts mehr.

("Wunder". Deichtorhallen, Hamburg. Bis 5.2.2012.)