Sonntag, 21. Januar 2018


Monstermusik


In meinem Debütroman Bring' Ziesen mit! (Hamburg: Faust & Auge Verlag, 2018) geht es bekanntlich um einen jungen, desorientierten Mann, der, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, Montag für Montag und nur zum Schein interessiert in eine Diskussionsgruppe mit dem Thema "Yucca oder Monstera?" geht.

Sich im Nebel da draußen nicht verirren, ist die quälende Aufgabe nun. Es sei der dunkelste Winter seit Zeiten, heißt es. Wer Heizung hat, bleibt zuhaus und gießt die Pflanzen. Ich sortiere die Schallplattenneueingänge der letzten Zeit (also: CD) und höre Charles Mingus, denn der beschwingt, wenn man die Wohnung z'samm räumen will. Heimlich zupfe ich Kontrabaß am Besenstil. 2017 machte ja vieles neu und weckte auch mein Interesse an Musik wieder. Noch mehr Jazz, dann Ligeti, Penderecki (ausgelöst durch Twin Peaks: The Return, Caspar Brötzmann, viel Gedrohne wie Bérangère Maximin (die bald im Bunker spielt), Ben Frost, Varèse, das großartige Ensemble Iris Electrum natürlich, das für mich alle Risse in Wien versöhnlich kittete, und die ganz interessante Calypso Valois mit ihrem noch interessanteren Video (Schauspiel 1.01, aber immerhin).

Immerhin nach sieben Jahren schon Anika gehört, mit dieser Mischung aus Joy Division, Nico und Portishead (hier live, und ja, man könnte über "Präsenz" reden). Vielleicht hätte es mir damals gar nicht gefallen.

Ich lese immer noch nicht wieder viel, aber schon viel mehr. Das Buch des Jahres (ebenfalls mit Verspätung) ist aber so oder so Viv Albertines fantastisches Clothes, Clothes, Clothes, Music, Music, Music, Boys, Boys, Boys. Lebenserinnerungen, die sie hier ganz nett zusammenfaßt. Ich habe viel gelacht, und manchmal auch ein bißchen geweint (self-pity!), denn ich habe mich in vielen Episoden wiedererkannt, und ich bin für viele Stellen sehr dankbar, weil sie sehr aufrichtig - oder wie der Klappentext sagt - oder auch "brutal ehrlich" geschildert sind, ohne Sensationsgeheische, immer mit Selbstironie, aber auch ohne falsche Scham. Schonungslos, heißt das, glaube ich.

Zuletzt habe ich ihr Soloalbum "Vermillion Border" gekauft. Sehr hübsch, sehr witzig, und es bringt das Kunststück fertig, auf einem Stück Jack Bruce gemeinsam mit Mick Jones ("The Clash") spielen zu lassen. "The Cut", das erste Album der Slits, war das zweite Punkalbum, das ich gekauft habe (das erste war "The Scream" von den Banshees), und viel habe ich ja nicht gekauft, wg. Geld. Ich bin also schon sehr lange Fan, länger als ihr ausrechnen könnt - und ich mag Ms Albertine jetzt sogar mehr als damals.
Mich übrigens auch.

>>> Geräusch des Tages: Viv Albertine, Live, 2011

Radau | von kid37 um 22:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 30. Juli 2017


15 Jahre, meine Fresse



Es hat auch Vorteile, alleine zu leben. Ich möchte unter anderen Umständen nicht erklären müssen, warum ich freitags nachts sehr spät nach Hause komme, über und über mit Muttermilch bespritzt. Selbstverständlich gibt es dafür wie für die meisten Dinge im Leben eine simple Erklärung, die da lautet: Es ist nicht das, wonach es aussieht. Auf St. Pauli heißt das auch noch einfacher: Es ist Rock'n'Wrestling!



Zum mittlerweile 15. Jubiläum (!) wurden erneut zwei Termine hintereinander angesetzt, ich gebe aber gleich zu: Zwei solcher Abende verkrafte selbst ich nicht mehr, und ich lag im Leben oft schon quasi vor Madagaskar. Auf unnachahmliche- unnachahmmilche Art von der schnellschwangeren Traumbeherrscherrin so manches Hamburger Jung Dolly Duschenka angenummert, zeigte Großmeister Baster, seit 15 Jahren unglaublich unbesiegt und das zurecht, wo im Hafenklang der Hammer hängt. Tschüß, Sailor Boy, du kannst nach Hause segeln.




Der Woodsman hat dummerweise Eddie, den Eismann gehäckselt, das war ein brutaler Kampf, bei dem kein Auge und auch das ein oder andere T-Shirt nicht trocken blieb. Verdammte Schweinerei. Dabei hatte Eddies special move, dem Gegner hinterrücks ein Eis am Stil in die Arschritze zu schieben, den Woodsman fast richtig ausgeknockt. Aber... zu früh gefreut, der Kerl hat sich mit einer Pulle Selbstgebrannten zurück ins Spiel gebracht. Guter Hoffung hingegen Dolly, deren Bauchumfang von Kampf zu Kampf zunahm.




Von Höhepunkt zu Höhepunkt. Kampfroboter Bento V machte die blödsinnigen Gentrifizierungsbauten Tanzende Türme von der Reeperbahn unter dem Gejohle des Publikums fertig - fand dann aber ausgerechnet im Trump Tower einen Meister. Leider keine Fake News. Bento war erstmal hin! Worauf aber ist Verlaß? Auf Pinkzilla ist Verlaß! Der Lieblingsdinosaurier von St. Pauli kickte dem blöden Tower ordentlich by the pussy und hat Bento gerade so gerettet. So geht Freundschaft, Leute!



Und die Hymne? Natürlich gab Nik Neandertal die von Jung und Alt aus nah und fern frenetisch gefeierte Hymne, so ungefähr 15 mal, dem Jubiläum entsprechend. Dazu gab es die Piñata de la Muerte, mit der St. Pauli vom bösen Geist befreit werden sollte. Geschmückt mit den Konterfeis zweier Rädelsführer aus Politik und Exekutive während des G20 und gefüllt mit Lutschern vom Budni, wurde das Böse buchstäblich aus dem Stadtteil gedroschen. Ich möchte es so formulieren: Gewalt im Ring hat es nicht gegeben, und Flora bleibt. Zwischendrin droschen die beiden Bands Cheating Hearts und Juliette and the Beasts rotzige Moritaten von fehlgeleiteter Liebe gen Publikum. Ich bin da im Moment außen vor, sollte ich diese Strecke noch mal fahren, steige ich aber gerne wieder in diesen Zug.




Dann aber: Sturzgeburt! Dolly, tapfer bis zuletzt im buchhalteeeehrischen Einsatz, brauchte die Nummerntafel jetzt zum Wehen zählen, dann brach sich schon ihre Brut die Bahn. Wer sich bislang insgeheim oder auch lauter ein Kind von Dolly gewünscht hatte, konnte dies nun einmal sachlich überdenken. Gegen den folgenden Kampf nämlich war alles vorhergehende nur Eislecken, nicht einmal die Hand konnten wir Dolly dabei halten, aber die hätte sie uns eh nur gebrochen. Schon aber tobte die Rotzgöre vom ohnmächtigen Lebenszorn gepackt durch den Ring, die meisten hätten dabei wohl etwas hilflos reagiert, sieht der kleine Teufel doch zugleich so zerbrechlich aus. Als aber Exkremente geworfen wurden, faßte Mutter Dolly sich ein resolutes Herz.




An der Nabelschnur wurde das Biest unerschrocken eingefangen, mit Dollys special move, einem Riesenschnuller, still gestellt und an wild wedelnden Händen und Füßen vorbei in eine Windel gepackt. Alles gut? Nein, ein letztes Toben, Dolly war schon in erschöpft die Ecke gedrängt, als letztes Mittel half nur... Muttermilch! Die spritzte wild durch den Ring und ins Publikum, dann aber: Baby satt, Umstehende glücklich. Endlich mal ein realistischer Kampf, dem Leben sozusagen abgemolken.



Wie heißt es am Ende der Schulstunde so schön? Das hat den Zuschauer zum Nachdenken angeregt. Belehrt und besudelt hieß es den Heimweg antreten, Adrenalin abbauen, erste Sofortberichte in die Welt kabeln, Klamotten zum Verbrennen auf einen Haufen stapeln, seinem Gott fürs Durchhalten danken. Über fünf Stunden auf den Beinen, das schafft selbst ihr nicht mehr.

Radau | von kid37 um 16:28h | 11 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 28. Juli 2017


Alle wegpusten



Jetzt noch mal schnell durchatmen. "Breathe in - breathe out", wird mir in letzter Zeit öfter geraten, wenn ich wegen diesem oder jenem oder auch wegen was Emotionalem hyperventiliere. Jetzt noch mal Sauerstoff auftanken, an Idylle und Frühlingswiesen denken, denn heute Abend heißt es auf St. Pauli wieder Mensch gegen Monster und Blut, Schweiß und Bier. Herr AxelK war gestern auf der Pressekonferenz.

Gern wüßte ich, wie man das in anderen Ländern regeln würde. Greifen wir mal wahllos eins raus, sagen wir... Australien. Die wissen doch, wie man boxende Känguruhs niederringt! Das wäre doch ein Dream-Team im Ring.

Radau | von kid37 um 13:11h | 3 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 29. Juni 2017


Kid Rock, the Fruiscante years



Es ist vielleicht nicht die cleverste Idee, nach gefühlt 20 Jahren auf Stahlsaiten neu anzufangen. Aber no pain, no gain, und letztlich ist es erstmal auch nur ein Experiment, ob ich überhaupt noch etwas hinbekomme. Derweil geht es um Feinmotorik üben und das Gehirn trainieren. Musik ist dafür genau richtig, und unterstützt von diesem kleinen röhrenmodulierten Vox-Dings klappt das schon ganz aufmunternd. Einfach ein bißchen Krawall reindrehen, schon sind die gröbsten Fehler und Unsauberkeiten verziehen und gehen notfalls in einem Wall of Sound unter. Meine Lieblingseinstellung ist die Young'sche Rust never Sleeps-Phase - gespielt allerdings mit den eher gichtigen Fingern des Herrn Bob. Ich bleibe da jetzt mal dran, jeden Tag eine halbe Stunde, und wenn es losgeht mit dem "heute mal nicht", kann man immer noch prima Wäsche zum Trocknen dranhängen.

Meine Aufgabenliste ist sehr umfangreich und detailliert, die Ziele hochgesteckt. Neil Young ist in der Hinsicht ja ein Vorbild. Gut, der Mann hat, wie nennt man das, ab und an schon mal "Ansichten". Aber allein, wenn man sich mal die Liste seiner Krankheiten und Operationen anschaut, fällt es schwer, sich selbst mit windigen Ausflüchten vor der Kulturarbeit zu drücken. Immer weitermachen, meine Güte.

>>> Geräusch des Tages: Neil Young, Hey Hey, My My

Radau | von kid37 um 10:37h | 33 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 7. Juni 2017


Paroles, Paroles



Das Heimtückische an Musik ist ja, daß sie aufgeladen mit Erinnerungen einen langen Winterschlaf antreten kann, der sieben mal sieben Jahre dauert. Oder mehr. Kehrt sie dann nach verregneten Jahrhunderten zurück, legt sie einem allen längst entsorgt geglaubten Krempel aufs patinierte Silbertablett: zerdrückte Sunkist-Packungen, eine Haarbürste ohne Borsten, eine abgerissene Kinokarte. Und alle, alle Kämpfe des Vergessens sind verloren.

Was haben wir, also ich, damals gegen dieses Ditty gewettert, das auf einmal europaweit aus allen spiegelverkleideten Eisdielen drang ("Einmal Vanille bitte, und wie heißt dieses Türkise?!?"), dieser gekloppte Baß, wie es damals Mode war, der billige La Boum-Sound, der diesen Franzosen nicht auszutreiben ist, diese glattgeschmirgelten Gitarren und Lexicon-Echos. So ein Schas, der tollen Sängerin, die damit ihr großes Comeback feierte nach 70 Jahren Hörfunkpause, zum Trotz. Völlig aus dem Kopf gefallen war es mir.

Nun ist, ich mußte es beim Wiederfinden mit wie mit Kirschkaugummi verklebten, nichtsdestotrotz knirschenden Zähnen feststellen, "Ella Elle L'a" ist ein ganz schön fix addiktives Stück Musik, das trotz seiner hymnischen Lobesabsicht, "petite flamme", unverschämt melancholieunterfüttert daherkommt. So ein bißchen, "dreh ruhig noch mal um", aber damit meine ich jetzt nicht die Platte. Egal.

Als ich in der schönen Stadt im Vergnügungspark saß, einer Schulklasse zuschaute beim, wie nennt man das, wenn so gummigepufferte Elektroautos zusammenbumsen?, dachte ich, man müßte eigentlich so einen Rentner-Autoscooter-Tag auf der Kirmes einrichten. So für Erinnerungssüchtige, wo aber die Wagen nicht ganz so fest zusammenstoßen, von wegen der Gesundheit her. Könnte ich das dann auch mal machen. Zu der Musik da.

Ein wenig fühlte ich mich wie Charlotte Rampling in Swimming-Pool, wenn sie als etwas verhagerte Frau der in ihrem Just out of bed-Look unverschämt hitzige Vitalität atmenden Ludivine Sagnier verstohlen beim Tanzen zu Billigmucke zuschaut. Ich könnte dann auch etwas unbeholfen in so eine Elektrokarre steigen, ehe ich allen zeige, wo der Scooter-Hammer hängt. Aber ich dachte, laß die jungen Leute da mal machen, die lernen es schon selbst.

Meine Mutter hörte als junge Frau viel von Daliah Lavi, wegen Schönheit vom Aussehen und Rauch in der Stimme, also Ähnlichkeit, und auch Sachen im Radio von Dalida, aber als die Lavi starb, meinte sie nur, na ja, so ist das halt. In der schönen Stadt stellte man sie im Kisterl wenigstens ganz nach vorn. Um das Geld hätte ich die Platte mal kaufen sollen. Vielleicht kommt mal eine Erinnerung vorbei, und dann habe ich nichts anzubieten! Na ja, letztlich doch alles nur schöne Worte, wie es wiederum bei Dalida heißt. Auch schon tot. Tu es comme le vent qui fait chanter les violons. Pfff. Alte Lieder.

Als Kind war ich ja #Team Françoise Hardy. Die war in meinem Alter und genau so unbeschwert wie ich.

>>> Geräusch des Tages: France Gall, Ella Elle L'a

Radau | von kid37 um 20:20h | 11 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 8. Januar 2017


Handwritten Tweets



Don’t expect high fidelity. Vinyl, eine der schönen Nachrichten dieser Tage, legt weltweit wieder zu, erfuhr ich im Internet. Das Bild übrigens zeigt einen Blick in meine abendliche Blogsendestube und mein Twitter-Shack. Man sieht mich dort, aufmerksam konzentriert am 140-Zeichen-Sendeempfänger, bereit für die Weltnachrichten. Umso erstaunter war ich, daß die Londoner Geräuschkapelle A Vicious Circle dies so illustrativ für ihr letztes Projekt, das 2016 erschien, verwendet haben. 12 Lieder wurden hierfür veröffentlicht - und zwar, kommen wir zu den spinnwebenfrischen Neuigkeiten - nicht etwa auf diesem neumodischen Vinyl, sondern auf Wachszylindern.

Und bevor wieder jemand überheblich daherkommt mit dies "sei aber so 1887", lese ich in einem Artikel auf A Closer Listen, daß die Technik tatsächlich in jenem Jahr erfunden wurde. Und doch klingt es erstaunlich frisch, wie man hier nämlich nachhören kann. Vielleicht, weil sie es in diesem Raumschiff aufgenommen haben. Handwritten Tweets haben die das Ergebnis genannt. Hätte ich auch drauf kommen können. Ganz mein Humor.

Radau | von kid37 um 22:54h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 11. Dezember 2016


Doom & Gloom

Wenn ich sonntags morgens in mein Wohnzimmer komme, und die Sonne steht schräg, wie sie es im späten Herbst so tut, fällt mir hin und wieder durch eine assoziative Verknüpfung im Gehirn das Wort "Staubtuch" ein. Absurd. "Wohnzimmer" - "Staubtuch", geichwohl diese Wörter unterschiedlichen semantischen Registern zugeordnet sind, scheinen sie eng miteinander verknüpft. Die linguistische Forschung weiß nicht genau warum, und deshalb gehe auch ich dieser Sache nicht weiter nach. Ich lächle ein wenig, denke, "So ein Quatsch!" Und weiter: "Wie der Mensch manchmal denkt!" und stelle dann lieber das Radio an.

Jahrhundertlang, das wiederum ist ganz gut bewiesen, kam der Mensch ja ohne Staubtuch aus. Nicht aber ohne Musik. Ich sitze gerne im Wohnzimmer und höre dann am Röhrenempfangsgerät Doom Jazz. Gruppierungen, wie man beim Jazz sagt und nicht etwa "Bands" und selten nur "Gruppen", wie The Mount Fuji Doomjazz Corporation, die ja, aber da erzähle ich nichts neues, ein Live-Ableger von The Kilimanjaro Dark Jazz Ensemble sind. Gerne auch mal Projekte wie das Kammerflimmer Kollektief und natürlich die Altstars von Bohren & Der Club of Gore.

Oder eben The Dale Cooper Quartet (live dann auch als The Dale Cooper Quartet & The Dictaphones). Letztere machen dem Namen entsprechend so eine Twin Peaks-assoziierte Musik aus sprechenden Holzscheiten, labyrinthischen Saxofonen und an Julee Cruise erinnernde Vokalpassagen. Die kommen aus Brest im landschaftlich schönen Finistère, wo der allgegenwärtige Béton bei Regen schön finster anlaufen kann und aufs Gemüt drückt.

Was gibt es Schöneres an so einem verregten Adventswochenende? Ja, eben. Nix.

>>> Geräusch des Tages: The Dale Cooper Quartet - Quartoze Pièces de Menace

Radau | von kid37 um 18:51h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 10. November 2016


Kopf hoch!

Das hätte ich nun auch nicht gedacht. Da wird es Herbst, fast Winter gar, und unser aller liebsten Kalifornierinnen machen auf gute Laune. Warpaint haben fürs neue Album "Heads Up" die Post-Punk-Einflüsse der letzten Jahre weiter beiseite geschoben, im übertragenen Sinne The Cure aus dem Studio verwiesen und Portishead reingeholt.

Trippig ist das nach wie vor, vielleicht nicht mehr so verschachtelt wie die ganz frühen freilaufenden dahergejammten Songs. Und nach dem in vielen Karrieren oft schwierigen zweiten Album, das immerhin Monster wie Love Is To Die bescherte, flötet das nun dritte recht eingängig daher. Soundexperimente und mit allen Knarz-, Plosiv-, Frikativ- und Labial-Dental-Stop-Geräuschen belassene wurschtige Aufnahmen lassen auch ein unbekümmert nach Top40-Produktion klingenden designierten Hit wie New Song durchgehen. He, ist das die Comeback-Single von ABBA? Ich hoffe auf ein Youtube-Fanvideo mit einstudierter Banananananarama-Choreo (linker Arm, rechter Arm, Hand aufs Herz, dann den Schmetterling).

Bei Whiteout sind Rückenschmerzen vergessen, ich muß mir das Lied merken fürs Mitwippen auf meiner Dachterrasse dann im nächsten Jahr. Also, ich muß natürlich erst noch bauen, aber das kann ja nun auch nicht so schwer sein, wenn man kürzlich erst einen Wasserhahn angebracht hat.

Immer noch wirken die vier Musikerinnen super entspannt, unbeirrt, angenehm unprätentiös und super bestrumpft. So als wären sie nur eben aus dem Haus, im Supermarkt um die Ecke, eine Flasche Diät-Cola und Zichten holen. Leider aber haben sie auf ihrer aktuellen Tour einen Bogen um Hamburg geschlagen. I not like.

>>> Geräusch des Tages: Warpaint, Ashes To Ashes, ja genau, das Bowie-Cover.

Radau | von kid37 um 23:50h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 16. Oktober 2016


To Bring You My Love

I go out
To the old milestone
Insanely expecting
You to come there
Knowing that I wait for you there

(PJ Harvey, "The Devil")




Es liest jeder seine eigenen Zeichen, aus denen er schließt, daß es Herbst geworden ist. So munterte ich mich auf für eine beschwerliche Reise - ich will ja nicht sagen zur "Pilgerfahrt" und habe es damit soeben getan. Neben Anwehungen des eigenen Herbstes - ich will nicht sagen "Verfall" und habe es damit soeben getan - sind es drei, vier hundert Kilometer Deutsche Bahn nebst Zwischenstops und Anschlußzügen und Aufrechthalten, dir mir mittlerweile zu schaffen machen. Dann weiß ich gar nicht so genau, wo diese Konzerthalle ist. Ich mag dieses Ungewisse nicht, stelle ich immer öfter fest, weil ich mir selbst nicht recht traue, dem Körper nicht, der Konzentration nicht, den Biegungen und Wegen nicht. Die führen durch die abendliche Keupstraße, die so traurige Berühmtheit erhielt und die in der bunten Beleuchtung und dem Leben auf den Bürgersteigen eine freundliche Unbekümmertheit verstrahlt.



Hat man selbst immer alles dabei? Ist man selbst genug? Die Taschenkontrolleurin am Eingang meint, eher zuviel. Später in der Menge ist es dann offenkundig zu wenig. So ist nicht alles eine Einladung, und so paßt es im Leben eben nie. Ein Gebet immerhin wird erhört: keine Vorband! Und wie letztes Jahr schon bei John Parish geht die Messe pünktlich los: Man sieht erwachsenen Menschen bei der Arbeit zu, eine streng inszenierte Aufführung eher ihrer zwischen Kriegs- und Sozialreportage angelegten letzten beiden Alben (aus denen der Großteil der Lieder stammt) denn ein Rockkonzert als affektpumpende Unterhaltungsshow. PJ Harvey, über die Jahre unbeirrt wandelnd, hat Geschichten zu erzählen, zuletzt als eine federgeschmückte Kassandra, die nicht sich zum Thema macht, sondern die nüchterne Klage der Krisengebiete in Afghanistan, dem Kosovo und Washington D.C. durch sie sprechen läßt. Dazwischen eingestreut ältere Hits, ein runtergebrettertes 50 ft. Queenie etwa oder eben "To Bring You My Love".



Für einen kurzen Moment konnte ich ihren Schatten berühren. Das Höhlengleichnis zu Köln: welche Welt und welche Wahrheiten wir sehen, bleibt eben doch eine Illusion, tanzendes Geflacker an der Wand. Wir fassen uns eben nie wirklich an, nur die Bilder, die wir voneinander haben. Dennoch hoffe ich, daß diese Wand nie mehr überpinselt wird.

Mich verläßt aber nicht zum ersten Mal an diesem Abend der Mut. Ihr mein stets als Notration mitgeführtes Käsebrot mit einem "Iß mal was, Polly Jean" anbieten? Vielleicht doch eine Spur zu übergriffig.



It ain't over, 'til it's over: Obwohl es der Schlußverbeugung der eigentlichen Vorstellung widerspricht, die Arbeit ist getan, der Vorhang unten, kommt die Band zu einer Zugabe zurück, die leider nicht so entspannt humorvoll wie in Warschau ausfällt. Ihr Cover von "Highway '61" ist natürlich eine schöne Hommage mit schönem aktuellem Bezug. Und "Is This Desire?" bleibt die Frage, die ja nebenbei sowieso über dem Abend lag.


>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, "The Devil"

Radau | von kid37 um 22:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 23. Juli 2016


Mensch, Maschine, Material



Richtig lebt der Mensch erst, wenn Schweiß von der Decke tropft. Und so kann in Hamburg die Urlaubszeit erst beginnen, wenn beim traditionellen Heimatabend Rock'nWrestling sich alle läuterungswilligen jungen Leute auf Kuscheltemperatur bringen und eine Energie erzeugen, die ein kleines Heizkraftwerk im Sommer ersetzen kann. Unter fein austarierter Berücksichtuung aller gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse (Feminismus, Jägerlatein, Drogenmißbrauch) diktiert Ringrichter Don Pedro die Benimmregeln, wie immer hört nur die Hälfte zu und auch die nicht dauerhaft.



The One and Only Baster ringt einen kanadischen Holzfäller nieder, Hillbilly Hickup, da sind auch einige anwesende US-Cheerleaderinnen entzückt und drohen lautstark und einstudiert, den Abend zu übernehmen. Ach, süße Jugend, und einmal frei sein von Trumpisten und dem Diktat der politisch korrekten Zwangskultur.



Es wird gesurft und gerumpelt, Nik Neandertal singt 37mal die Hymne, vom lächerlichen Versuch des fiesen Don Shrimp oder Shrump, eine neue Hymne zu etablieren, wollen wir schweigen, man muß den Kopf kühlen, die Kameras, den ganzen Körper. Enthemmte, biergetränkte Dinger kippen sich dazu weitere Pullen über den Kopf, wir sprechen über Ereignisse diesseits des Rings, erweitern den Mosh-Pit, schubbern sich adrenalingetränkt an ihre ebenfalls klitschnassen Freunde als wären wir nicht für den Sport sondern fromme Eitelkeiten hier. An diesem Abend werden in Hamburg noch irgendwo Kinder gezeugt, dessen bin ich gewiß.



Mittlerweile als innocent bystander ebenfalls biergetränkt (selbstredend rein äußerlich), gilt es, die Helden nach vorne zu peitschen, die Schurken auszubuhen und die Verluste zu beklagen: Loony Lobster? Wo ist Loooooony Lobster? Dr. Tentakel? Dramen blättern sich auf. Nur eine ist super entschuldigt, Don Pedro überbringt zuerst die für viele Männer traurige Nachricht: Nummerngirl Dolly Duschenka ist Mutter geworden! Und die schöne Nachricht: Nummerngirl Dolly Duschenka ist Mutter geworden! Der Saal tobt, ist die ganze Chose doch wirklich zu etwas nutze!



Alice Dee (hier ein Foto under the influence) vertrimmt, unterstützt von ihrem weißen Hasen und obskuren Zauberpillen, das fürchterliche Tag-Team Double Trouble. Die Ringelhemd-Klopper wollten der armen Allice, tweedledee hier und tweedledum dort, an den Kopf, vielleicht sah man auch einfach nur schon doppelt.



Denn dann, es soll im ehrlichen Café nicht verschwiegen werden: die größte Niederlage, die ich notgedrungen und unabwendbar persönlich nehmen muß. Der Mann hier am Reportermikrofon machte schlapp! Täuschte Unwohlsein, Schwäche im Standbein, Sauerstoffnot und dringende Termine vor! Schwänzte die letzten drei Kämpfe und auch noch die Siegerehrung! Kroch wie ein begossener Pudel am abgebrannten Gebäude des gleichnamigen Clubs vorbei in die Höhle der Schande. Jetzt zurecht Kopfdröhnen, partielle Taubheit, Elektrolysedefizit. Melde mich von der Raumstation.

Radau | von kid37 um 16:12h | 10 mal Zuspruch | Kondolieren | Link