15 Jahre, meine Fresse



Es hat auch Vorteile, alleine zu leben. Ich möchte unter anderen Umständen nicht erklären müssen, warum ich freitags nachts sehr spät nach Hause komme, über und über mit Muttermilch bespritzt. Selbstverständlich gibt es dafür wie für die meisten Dinge im Leben eine simple Erklärung, die da lautet: Es ist nicht das, wonach es aussieht. Auf St. Pauli heißt das auch noch einfacher: Es ist Rock'n'Wrestling!



Zum mittlerweile 15. Jubiläum (!) wurden erneut zwei Termine hintereinander angesetzt, ich gebe aber gleich zu: Zwei solcher Abende verkrafte selbst ich nicht mehr, und ich lag im Leben oft schon quasi vor Madagaskar. Auf unnachahmliche- unnachahmmilche Art von der schnellschwangeren Traumbeherrscherrin so manches Hamburger Jung Dolly Duschenka angenummert, zeigte Großmeister Baster, seit 15 Jahren unglaublich unbesiegt und das zurecht, wo im Hafenklang der Hammer hängt. Tschüß, Sailor Boy, du kannst nach Hause segeln.




Der Woodsman hat dummerweise Eddie, den Eismann gehäckselt, das war ein brutaler Kampf, bei dem kein Auge und auch das ein oder andere T-Shirt nicht trocken blieb. Verdammte Schweinerei. Dabei hatte Eddies special move, dem Gegner hinterrücks ein Eis am Stil in die Arschritze zu schieben, den Woodsman fast richtig ausgeknockt. Aber... zu früh gefreut, der Kerl hat sich mit einer Pulle Selbstgebrannten zurück ins Spiel gebracht. Guter Hoffung hingegen Dolly, deren Bauchumfang von Kampf zu Kampf zunahm.




Von Höhepunkt zu Höhepunkt. Kampfroboter Bento V machte die blödsinnigen Gentrifizierungsbauten Tanzende Türme von der Reeperbahn unter dem Gejohle des Publikums fertig - fand dann aber ausgerechnet im Trump Tower einen Meister. Leider keine Fake News. Bento war erstmal hin! Worauf aber ist Verlaß? Auf Pinkzilla ist Verlaß! Der Lieblingsdinosaurier von St. Pauli kickte dem blöden Tower ordentlich by the pussy und hat Bento gerade so gerettet. So geht Freundschaft, Leute!



Und die Hymne? Natürlich gab Nik Neandertal die von Jung und Alt aus nah und fern frenetisch gefeierte Hymne, so ungefähr 15 mal, dem Jubiläum entsprechend. Dazu gab es die Piñata de la Muerte, mit der St. Pauli vom bösen Geist befreit werden sollte. Geschmückt mit den Konterfeis zweier Rädelsführer aus Politik und Exekutive während des G20 und gefüllt mit Lutschern vom Budni, wurde das Böse buchstäblich aus dem Stadtteil gedroschen. Ich möchte es so formulieren: Gewalt im Ring hat es nicht gegeben, und Flora bleibt. Zwischendrin droschen die beiden Bands Cheating Hearts und Juliette and the Beasts rotzige Moritaten von fehlgeleiteter Liebe gen Publikum. Ich bin da im Moment außen vor, sollte ich diese Strecke noch mal fahren, steige ich aber gerne wieder in diesen Zug.




Dann aber: Sturzgeburt! Dolly, tapfer bis zuletzt im buchhalteeeehrischen Einsatz, brauchte die Nummerntafel jetzt zum Wehen zählen, dann brach sich schon ihre Brut die Bahn. Wer sich bislang insgeheim oder auch lauter ein Kind von Dolly gewünscht hatte, konnte dies nun einmal sachlich überdenken. Gegen den folgenden Kampf nämlich war alles vorhergehende nur Eislecken, nicht einmal die Hand konnten wir Dolly dabei halten, aber die hätte sie uns eh nur gebrochen. Schon aber tobte die Rotzgöre vom ohnmächtigen Lebenszorn gepackt durch den Ring, die meisten hätten dabei wohl etwas hilflos reagiert, sieht der kleine Teufel doch zugleich so zerbrechlich aus. Als aber Exkremente geworfen wurden, faßte Mutter Dolly sich ein resolutes Herz.




An der Nabelschnur wurde das Biest unerschrocken eingefangen, mit Dollys special move, einem Riesenschnuller, still gestellt und an wild wedelnden Händen und Füßen vorbei in eine Windel gepackt. Alles gut? Nein, ein letztes Toben, Dolly war schon in erschöpft die Ecke gedrängt, als letztes Mittel half nur... Muttermilch! Die spritzte wild durch den Ring und ins Publikum, dann aber: Baby satt, Umstehende glücklich. Endlich mal ein realistischer Kampf, dem Leben sozusagen abgemolken.



Wie heißt es am Ende der Schulstunde so schön? Das hat den Zuschauer zum Nachdenken angeregt. Belehrt und besudelt hieß es den Heimweg antreten, Adrenalin abbauen, erste Sofortberichte in die Welt kabeln, Klamotten zum Verbrennen auf einen Haufen stapeln, seinem Gott fürs Durchhalten danken. Über fünf Stunden auf den Beinen, das schafft selbst ihr nicht mehr.

Radau | 16:28h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
mark793 - Sonntag, 30. Juli 2017, 17:07
Über fünf Stunden auf den Beinen (...)

Respekt für das Stehvermögen und den (wieder einmal) sehr packenden Bericht!

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kid37 - Sonntag, 30. Juli 2017, 17:18
Ich konnte mich ab und an ein wenig anlehnen, sonst hätte das natürlich nicht funktioniert. Aber was ordentlich Adrenalin im Körper machen können, habe ich ja vor ein paar Wochen schon erfahren. Jetzt muß ich aber erstmal Elektrolyte nachführen.

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frau eff - Sonntag, 30. Juli 2017, 21:16
Dear Lord, ich bin voller Respekt und auch Neid. Während Sie so großartige Sachen erleben, sitzt unsereins auf der Terrasse und hört einem drittklassigen Musiker zu, der beim Sommerfest der benachbarten "Classic Bikes Garage" Wishyouwerehere zur verstimmten Gitarre jammert. You make me feel 95 Jahre alt. Und: Ganz. ganz tolle Fotos! Danke für den Bericht.

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kid37 - Sonntag, 30. Juli 2017, 23:27
Es ist auch wirklich rührend zu sehen, wieviel Arbeit und Ideen und Vorbereitung in einen solchen, letztlich nicht-kommerziellen Abend fließen. Da sind Leute, die den Merch-Stand mit T-Shirts und Heftchen betreuen, die Rigger, die den Ring aufbauen und sich während der Abende um den Ablauf kümmern, natürlich die Tresenleute und der ganze normale Backstage-Apparat, Sound und Licht... allein so eine Truppe über so viele Jahre intakt zu halten, ist schon eine ziemliche Leistung. Ich denke, das ist in der Form auch einmalig so.

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vert - Donnerstag, 10. August 2017, 13:55
wir sind neulich auch etwas eher von einem tagesfestival weg, weil wir uns übereinstimmend zu dritt irgendwie so wie 108 fühlten. also jedeR.
und das konzept "festival mit im eigenen bett schlafen" wird auch immer attraktiver.
und überhaupt lief da viel zu viel neumodischer kram! was diese jungen leute jetzt alles so hören!

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kid37 - Sonntag, 13. August 2017, 11:00
Und wie die wieder aussehen! Ich hatte ja kurz überlegt, zu Ms. Harvey vor die Tore Hamburgs zu fahren. Aber Festivals, die umständliche Anreise, abends nicht mehr wirklich wegkommen... ich bin raus. Ms. Harvey hat auch einen Nightliner und bleibt nicht im Igluzelt von der Sonderaktionsfläche. Die ist eben auch keine 37 mehr, wenn ich das mal so geradeaus sagen darf.

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vert - Mittwoch, 16. August 2017, 18:08
ich muss ja immer nur bis an den schlengendeich... der untertitel des von mir hochgeschätzten festivals lautet "momentaufnahme beatkultur" und ich fürchte, der geht's grad nicht so gut. wobei mir audio88&yassin als headliner definitiv den tag gerettet haben. die haben immer so gute laune, die könnten ihnen gefallen.
mal gucken, was die kreuzfahrt auf dem mutterschiff jetzt am wochenende zu bieten hat. (braucht noch jemand eine karte?)

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kid37 - Mittwoch, 16. August 2017, 18:30
Amen! Das Gebet könnte ich prinzipiell - auch ohne Schellen! - mitsprechen, aber... meine musikalischen Pläne gehen derzeit in andere Weltrichtungen. Und dann plane ich eine Tournee mit Polly Jean durch die zweitlebenswerteste Stadt als musizierendes, altes Zirkuspferd.

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kid37 - Donnerstag, 3. August 2017, 23:10


Schön auch die ausufernde Außendeko mit den famosen Porträts, die Frank Egel über die Jahre gemacht hat. Den traf ich neulich zufällig abends und ließ mich von ihm zu einem Brainstorming ermuntern, was meine Bühnenpersona sein könnte. Wir kamen vorerst auf Kleiner Feigling mit "Rücken" - passend im Schnapsfläschchenkostüm. Ich werde das noch ausarbeiten.

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frau eff - Freitag, 4. August 2017, 09:23
Wenn Sie auftreten, komme ich nach HH. Herr K. auch.

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kid37 - Freitag, 4. August 2017, 17:25
Ja, aber wenn bekannt wird, daß ich nicht nur ein Kleiner Feigling, sondern womöglich auch noch ein Verlierer bin, wäre mir das auch nicht so recht.

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