Sonntag, 16. Oktober 2016


To Bring You My Love

I go out
To the old milestone
Insanely expecting
You to come there
Knowing that I wait for you there

(PJ Harvey, "The Devil")




Es liest jeder seine eigenen Zeichen, aus denen er schließt, daß es Herbst geworden ist. So munterte ich mich auf für eine beschwerliche Reise - ich will ja nicht sagen zur "Pilgerfahrt" und habe es damit soeben getan. Neben Anwehungen des eigenen Herbstes - ich will nicht sagen "Verfall" und habe es damit soeben getan - sind es drei, vier hundert Kilometer Deutsche Bahn nebst Zwischenstops und Anschlußzügen und Aufrechthalten, dir mir mittlerweile zu schaffen machen. Dann weiß ich gar nicht so genau, wo diese Konzerthalle ist. Ich mag dieses Ungewisse nicht, stelle ich immer öfter fest, weil ich mir selbst nicht recht traue, dem Körper nicht, der Konzentration nicht, den Biegungen und Wegen nicht. Die führen durch die abendliche Keupstraße, die so traurige Berühmtheit erhielt und die in der bunten Beleuchtung und dem Leben auf den Bürgersteigen eine freundliche Unbekümmertheit verstrahlt.



Hat man selbst immer alles dabei? Ist man selbst genug? Die Taschenkontrolleurin am Eingang meint, eher zuviel. Später in der Menge ist es dann offenkundig zu wenig. So ist nicht alles eine Einladung, und so paßt es im Leben eben nie. Ein Gebet immerhin wird erhört: keine Vorband! Und wie letztes Jahr schon bei John Parish geht die Messe pünktlich los: Man sieht erwachsenen Menschen bei der Arbeit zu, eine streng inszenierte Aufführung eher ihrer zwischen Kriegs- und Sozialreportage angelegten letzten beiden Alben (aus denen der Großteil der Lieder stammt) denn ein Rockkonzert als affektpumpende Unterhaltungsshow. PJ Harvey, über die Jahre unbeirrt wandelnd, hat Geschichten zu erzählen, zuletzt als eine federgeschmückte Kassandra, die nicht sich zum Thema macht, sondern die nüchterne Klage der Krisengebiete in Afghanistan, dem Kosovo und Washington D.C. durch sie sprechen läßt. Dazwischen eingestreut ältere Hits, ein runtergebrettertes 50 ft. Queenie etwa oder eben "To Bring You My Love".



Für einen kurzen Moment konnte ich ihren Schatten berühren. Das Höhlengleichnis zu Köln: welche Welt und welche Wahrheiten wir sehen, bleibt eben doch eine Illusion, tanzendes Geflacker an der Wand. Wir fassen uns eben nie wirklich an, nur die Bilder, die wir voneinander haben. Dennoch hoffe ich, daß diese Wand nie mehr überpinselt wird.

Mich verläßt aber nicht zum ersten Mal an diesem Abend der Mut. Ihr mein stets als Notration mitgeführtes Käsebrot mit einem "Iß mal was, Polly Jean" anbieten? Vielleicht doch eine Spur zu übergriffig.



It ain't over, 'til it's over: Obwohl es der Schlußverbeugung der eigentlichen Vorstellung widerspricht, die Arbeit ist getan, der Vorhang unten, kommt die Band zu einer Zugabe zurück, die leider nicht so entspannt humorvoll wie in Warschau ausfällt. Ihr Cover von "Highway '61" ist natürlich eine schöne Hommage mit schönem aktuellem Bezug. Und "Is This Desire?" bleibt die Frage, die ja nebenbei sowieso über dem Abend lag.


>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, "The Devil"

Radau | von kid37 um 22:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 23. Juli 2016


Mensch, Maschine, Material



Richtig lebt der Mensch erst, wenn Schweiß von der Decke tropft. Und so kann in Hamburg die Urlaubszeit erst beginnen, wenn beim traditionellen Heimatabend Rock'nWrestling sich alle läuterungswilligen jungen Leute auf Kuscheltemperatur bringen und eine Energie erzeugen, die ein kleines Heizkraftwerk im Sommer ersetzen kann. Unter fein austarierter Berücksichtuung aller gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse (Feminismus, Jägerlatein, Drogenmißbrauch) diktiert Ringrichter Don Pedro die Benimmregeln, wie immer hört nur die Hälfte zu und auch die nicht dauerhaft.



The One and Only Baster ringt einen kanadischen Holzfäller nieder, Hillbilly Hickup, da sind auch einige anwesende US-Cheerleaderinnen entzückt und drohen lautstark und einstudiert, den Abend zu übernehmen. Ach, süße Jugend, und einmal frei sein von Trumpisten und dem Diktat der politisch korrekten Zwangskultur.



Es wird gesurft und gerumpelt, Nik Neandertal singt 37mal die Hymne, vom lächerlichen Versuch des fiesen Don Shrimp oder Shrump, eine neue Hymne zu etablieren, wollen wir schweigen, man muß den Kopf kühlen, die Kameras, den ganzen Körper. Enthemmte, biergetränkte Dinger kippen sich dazu weitere Pullen über den Kopf, wir sprechen über Ereignisse diesseits des Rings, erweitern den Mosh-Pit, schubbern sich adrenalingetränkt an ihre ebenfalls klitschnassen Freunde als wären wir nicht für den Sport sondern fromme Eitelkeiten hier. An diesem Abend werden in Hamburg noch irgendwo Kinder gezeugt, dessen bin ich gewiß.



Mittlerweile als innocent bystander ebenfalls biergetränkt (selbstredend rein äußerlich), gilt es, die Helden nach vorne zu peitschen, die Schurken auszubuhen und die Verluste zu beklagen: Loony Lobster? Wo ist Loooooony Lobster? Dr. Tentakel? Dramen blättern sich auf. Nur eine ist super entschuldigt, Don Pedro überbringt zuerst die für viele Männer traurige Nachricht: Nummerngirl Dolly Duschenka ist Mutter geworden! Und die schöne Nachricht: Nummerngirl Dolly Duschenka ist Mutter geworden! Der Saal tobt, ist die ganze Chose doch wirklich zu etwas nutze!



Alice Dee (hier ein Foto under the influence) vertrimmt, unterstützt von ihrem weißen Hasen und obskuren Zauberpillen, das fürchterliche Tag-Team Double Trouble. Die Ringelhemd-Klopper wollten der armen Allice, tweedledee hier und tweedledum dort, an den Kopf, vielleicht sah man auch einfach nur schon doppelt.



Denn dann, es soll im ehrlichen Café nicht verschwiegen werden: die größte Niederlage, die ich notgedrungen und unabwendbar persönlich nehmen muß. Der Mann hier am Reportermikrofon machte schlapp! Täuschte Unwohlsein, Schwäche im Standbein, Sauerstoffnot und dringende Termine vor! Schwänzte die letzten drei Kämpfe und auch noch die Siegerehrung! Kroch wie ein begossener Pudel am abgebrannten Gebäude des gleichnamigen Clubs vorbei in die Höhle der Schande. Jetzt zurecht Kopfdröhnen, partielle Taubheit, Elektrolysedefizit. Melde mich von der Raumstation.

Radau | von kid37 um 16:12h | 10 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 21. Juli 2016


Lucha libre



Schnell noch die Autogrammkarten vom Gravurdrucker geholt und die Boxstiefel geputzt. Freitag geht es wieder los, so ein Jahr ist dann doch schnell rum. Hamburgs wichtigstes Ereignis, wo harte Frauen und engagierte Männer für wahre Werte und ein wenig Ruhm in den Ring steigen. Danach dann für Kämpfer und Zuschauer Sauerstoffzelt und pflegepersonalisierte Betreuung bis zur Wiederherstellung der einen oder auch anderen Vitalfunktion. Gerade hat es geregnet, ein angekündigtes Unwetter war es nicht. So hat es sich auch kaum abgekühlt. Das werden schweißtreibende Kämpfe. Trinkt viel und für mich mit!

Radau | von kid37 um 22:22h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 2. Juli 2016


Paris, im Juni



Ich ärgere mich immer noch über die verquaste Berichterstattung im DLF über das Konzert in Berlin. Ist das bei Berichten in "Fazit" über Bayreuth oder irgendwelche Theaterpremieren auch so? Das Gemaule über den Aufritt von Ms Harvey in Berlin stimmte hinten und vorne nicht, bereits in der uninformierten Anmoderation, dann auch in der eigentlichen Kritik ("kopflastig", "keine Hits"). Das habe ich gleich vermutet, und jetzt, da immer mehr Clips auf Youtube auftauchen, weiß ich es auch sicher. Leider war es ein Montag, sonst hätte ich es mir selbstverständlich dortselbst persönlich angeschaut, aber einer muß hierbleiben und die Steuerlast für die Elbphilharmonie zusammenarbeiten.

Sehr entzückend die Ansage in Paris. Und PJ Harvey hat immer noch die bestgekleidete Band (Ann Demeulemeester!), macht sich aber wirklich zu rar.

Radau | von kid37 um 01:52h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 5. Mai 2016


Paraphernalia



Ich bin jetzt in dem Alter, wo mich vorzugsweise junge weibliche Verkaufsangestellte ganz putzig finden. Ich stehe dann etwas tatterig vor denen, irgendwelche hochpreisigeren Tand- und Altmannbeschmückungsgegenstände oder Sammlerkram auf der Theke, wie diese sehr hübsch aufgemachte Box Die große Untergangsshow zum Festival der "Genialen Dilletanten" im Berliner Tempodrom 1981, krame umständlich nach so einer Elektrogeldkarte und warte dann lange auf die ersten Synapsenergebnisse meine Geheimzahl betreffend. Manchmal sehr lange. Früher®, doziere ich dann, wäre man ja mit dem Krempel unter dem Arm stilecht abgehauen, was ihr aber angesichts des Gesamtzustands® nur ein müdes, mit einem leisen Anflug von Nachsicht untermaltes Lächeln entlockt.

"Noch lachen Sie", lege ich freundlich nach und erkläre jovial und mit nicht nur einem Hauch von Grandezza widerlicher Großspurigkeit, daß im Alter immerhin das Konto gedeckt sei, während das Maschinchen freudig zu piepsen und kein bißchen rabattig zu rattern beginnt. "Am Monatsanfang vielleicht schon", gibt sie sich nicht geschlagen, und beide singen wir den Seufzergesang.

Früher haste organisisiert, heute wird nur musealisiert. Auch ein wenig zwiespältig, liegt darin auch immer eine Art Grablegung. Die kunsthistorische Festschreibung in einen Kanon, Schilder wie "Bitte nicht berühren", "Die Wiese nicht betreten", "Musik nach zehn bitte nicht so laut". Wobei ich letzteres sehr unterstütze, seit feierfreudige Nachbarn zu allen Uhrzeiten ihren mainstreamscheißgequirlten R&B-Mist vom Balkon rüberdudeln. Wird Zeit vielleicht für die Altmann-Resistance. Ein Panik-Orchester.

Radau | von kid37 um 19:20h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 16. April 2016


Hope Demolition



Wie ein fleißiger Imker gehe ich ja regelmäßig bei meinen Bienchen Honig melken, also zur Packstation. Tropffrisch und kaltgeschleudert konnte ich jetzt mein straßengesperrtes (Marathon) Wochenende retten. Unter anderem mit dem hübsch aufgemachten Digipack von Polly Jeans The Hope Six Demolition Project, das mit den Vorabsingles schon ein wenig für Aufregung sorgte. Kaputtbezirke in den USA fühlten sich nicht wertschätzend genug dargestellt mit Behauptungen über Drogen, Kriminalität und einer gewissen Hoffungsferne in der Luft. Tatsächlich sind Geschichte und Ergebnis wirklich aufregend: Ms. Harvey besuchte mit Seamus Murphy zwischen 2011 und 2014 Orte im Kosovo, in Afghanistan und in Washington, D.C. und veröffentlichte dazu den sehr empfehlenswerten Band The Hollow of the Hand (mit Gedichten von PJ Harvey und Fotos von Seamus Murphy). Im Anschluss entstand das Album (Trailer), bei dessen Aufnahmen im Londoner Somerset House kunstinteressierte Besucher halbstundenweise zuschauen durften (also wer, anders als ich, den Hintern entsprechend hochbekam). Das Ergebnis ist eine Weiterführung ihres sensationellen Albums Let England Shake, ein paar Ideen erkennt man wieder ("The Wheel"), anderes verweist auf frühere, auch rauhere Phasen zurück. Das Booklet zollt Freunden und Einflüssen Dank, wie es sich gehört: darunter sind neben ihrem musikalischem Langzeitpartner John Parish Linton Kwesi Johnson (kennt keiner mehr) oder Freundin Ann Demeulemeester. Schön, wenn Erwachsene Musik machen.

Wenn sie Filme machen, kommt so was raus, wie Guy Maddins The Forbidden Room. Ich habe ihn noch nicht gesehen, bin aber voreingenommener Fan von Maddins Werk, und habe zufrieden viel Begeisterung gehört von Kollegen, die ihn auf der Berlinale sahen. Auf der offiziellen französischen Seite im Netz gibt es versteckte 25 kurze Schnipsel zum Gucken und Staunen, auf die Schnelle gibt der Trailer einen ersten Eindruck. Verstreut über Deutschland gibt es einige wenige Kinotermine, darunter sogar welche in Hamburg. (Ob dort wirklich eine Filmkopie oder auch nur die BluRay gezeigt wird, entzieht sich meiner Kenntnis.)

Eigentlich wollte ich nur sagen, ich bin beschäftigt.

>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, The Wheel

Radau | von kid37 um 18:14h | 26 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 11. März 2016


Obsolete O-Töne

So schnell noch in Hut und Mantel, etwas Musik zum Wochenende. Gemacht mit der craft, wie es neuerdings heißt. Da haben zum Beispiel irgendwelche Leute, ich muß noch herausfinden, wer mir da genau hineingepfuscht hat, meine Band gegründet, diese Orkestra Obsolete benannt und ganz herzallerliebst eine Version von New Orders "Blue Monday" aufgenommen. Und zwar so, wie das Stück in den 30ern Jahren hätte klingeln können. Ein wenig viel Ukulele, dem togerittensten Instrument der letzten Dekade. Aber sonst sehr hübsch. Die BBC hat den ganzen Schnack.

Abstrakter, aber mindestens so obsolet und vergessen diese Installation aus Gerätschaften, die heute auch keiner mehr kennt. Anders als MP3-Player klangen die aber noch selbst, nachzuhören bei diesem Orchster aus Kassettenrekordern. Klack, klack.

Auch in Schweden sind die Winter lang. Die Schweden aber jammern nicht und schnupfen, sie sitzen in ihren von Walfahrerlampen, die mit Lebertran betrieben werden, erhellten Bastelkellern und schnitzen Musikinstrumente. Oder gleich ganze Maschinen. War schon im Fernsehen zu sehehen, hier aber trotzdem noch mal: Eine Musikmaschine, die mit von mir nicht persönlich nachgezählten 2000 Murmeln Musik macht, wobei mir der elektronische Anteil einen Murmeltick zu groß ist. Als Idee aber sehr hübsch und was für lange Abende.

>>> Geräusch des Tages: Der Klang der Stempeluhr. Erstmal raus.

Radau | von kid37 um 18:32h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 1. Februar 2016


Endlich werden Raumschiffe gefordert

Ms Harvey reicht erste Zuckerstücke ihres neuen Albums The Hope Six Demolition Project, das im April erscheint. Ganz im Stil des Klassikers Let England Shake rumpelt The Wheel daher. Der Blues-Folk-Stomper, knapp zum Glück am Gummistiefeltanz vorbei, paßt sowohl zum nachhaltigen Fairtradekaffee als auch zur düsteren Nachdenkspelunke, in der man im gelblichen Licht einer LED-Filament-Retrofit-Leuchte über verkratzte Filmklassiker und Klassiker des Gefühlsleidens nachdenkt. Man ist ja sofort wieder bedingungslos in Polly Jean verliebt, möchte ihren Gitarrenkoffer tragen oder ihr nach Konzerten ein Käsebrot schmieren. Aber das soll jetzt nicht so Fanboy-haft klingen. Eher normal, freundlich, höflich beinahe.

Nun werden also endlich Raumschiffe gefordert. Ich könnte eines besteigen und mit Scully Polly Jean Scully Polly Jean und Scully als drei Musketiere von der Erde in das Weltall fliegen. Richtig ins Blaue hinein, eine Bordtoilette wird es ja wohl geben, einen Stapel Stullen dabei und besagten Gitarrenkoffer. Niemand wird uns angreifen, während wir durch den unendlichen Raum fliegen, keine blauköpfigen Menschen vom Mars und auch keine heißglühenden Grünlinge von der Venus. Wir sängen Lieder über die Liebe, auch wenn die im All keiner hören könnte. Andere Waffen brauchen wir nicht.

Das läuft doch schon mal besser als das vergangene Jahr, dieses absagenverstolperte, aufkündigende 2015. Freundschaften, Arbeitsverhältnisse, man kam ja am Beistelltisch einer bodenverkrumten Weinschabracke mit dem Buchhalten gar nicht mehr nach, was sich links und rechts wie Beschädigungswaffen neben mir in den Boden bohrte. Ich jedoch bin einfach ruhig geblieben, im kindlichen Vertrauen auf ein vollverspiegeltes Raumschiff, das mich schon holen würde.

>>> Geräusch des Tages: Josh Homme & PJ Harvey, I Wanna Make It Wit Chu

Radau | von kid37 um 23:22h | 12 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 20. Januar 2016


Leben ist Leben




Wie schön, wenn man nach so viel zwangsharmonischer Heißverklebung der letzten Zeit auch mal politisch unkorrekt die Lautstärkeregler voll auf die Zwölf drehen kann, wenn die nationenweit bekannte Unterhaltungskapelle Laibach in einem Hamburger Kuschelclub aufspielt. Gerade noch in Pjöngjang, nun schon wieder in der Hansestadt. "Resistance Is Futile" heißt die Botschaft, und schon knattert Blitzkrieg mit einem brachialem Tieffrequenzgewitter von der Bühne, daß einem die Hosenbeine und Hemdknöpfe schlottern. Umsichtig habe ich eine Auswahl Schmutzwäsche mitgebracht, aus der derart schallbehandelt der Staub nur so schleudert und die im Anschluß (!) blitzsauber und bügelfertig in den Schrank gelegt werden kann. Die Lunge vibriert, jede Körperzelle tanzt, wie es in einem bekannten Lied heißt, und wer an "Detoxing" glaubt, spürt hier förmlich die böse Schlacke von den Zellwänden platzen.

Es folgt ein kurzes, knarzendes Militaria-Set, unterlegt mit Projektionen von Marschstiefeln, pornografischen Sequenzen und später auch wie mit der Konditorenspritze hingemalten kawai-Zuckergußbildchen von My little Ponys, Propagandasequenzen mit asiatischen Schuluniformmädchen, allerlei Blumen und Gezitter und Laufschriften mit allerletzten Todeswarnungen. Hoho! sagt man auf dem Total-Theater, die ironische Brechung immer gleich mitgesprochen. Laibach sind vielleicht so eine Art Krampusfest, handfester Schabernack und Austreibung von allerlei Bösem.



Nach einer Pause folgen im zweiten Teil des Abends hymnische Pop-Lieder wie Edelweiß, verhältnismäßig gefällig wird es dabei schon, ein bißchen beliebig vielleicht, der Witz ist schnell genossen. Etwas von The Human League würde jetzt nicht wundern, Singesingesing, es ist der "Kumbaja"-Moment des Abends. Fehlte noch, irgendeine blutjunge, schwarzuniformierte Industrial-Gestalt aus dem Publikum hakte sich zum Schunkeln bei mir unter.



Völlig an mir vorbeigegangen war, daß Laibach eines meiner liebsten Lieder von Bob Dylan gecovert haben. Die durch Pennebakers Filmclip zu "Subterranean Homesick Blues" ikonografisch gewordenen Cue-Cards wie hingespuckte Milch auf den Hintergrund projiziert, haben Laibach den Klassiker Ballad Of A Thin Man völlig dekonstruiert, zersägt und neu zusammengeklebt. In Hamburg als schönes Brett serviert, mein persönlicher Höhepunkt des Abends. Nur so kann man das covern, das gitarrenschrammelige Lagerfeuer austreiben, das Brennholz noch mal kleinerbrechen, Fackeln binden und ausgebrannte, trostlose Kellerlabyrinthe damit erhellen. Wo eben was Seltsames passiert, nackte Gestalten herumliegen und Unverständliches brabbeln. Man weiß eben verfickt nochmal nicht, was da geschieht. Oder weißt du es, Mr. Jones?

>>> Geräusch des Tages: Laibach, Ballad Of A Thin Man

Radau | von kid37 um 11:00h | 24 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 15. Oktober 2015


Lowlands



Herbst wird der Herbst erst, wenn Low ein neues Album herausbringen und mit einem Konzert ihre berührend einfach gestrickte, melancholische Decke über deine Stadt legen. Die Vorgruppe, anstrengend dahergeklampfte, von sich selbst ergriffene Küchentischmoritaten (irgendwas um C-Dur und G und D), wird freundlich verabschiedet, ("In Hamburg sagt man Tschüß!"), dann elektrisches Knistern (als wären die nicht geerdet, pah), eine sehr tiefe Bodenfrequenz übers Effektgerät hineinoszilliert und Low schaben los, sanft schwingend, extrem kontrolliert bis in die gelegentlichen Feedback-Ausbrüche hinein.

Das Trio aus Minnesota, quasi das Norddeutschland der USA (in einer kurzen Unterbrechung werden wir über die Wetterlage aufgeklärt), ist nicht da, viele Worte zu machen, sondern die frohe Botschaft zu verkünden. Im Publikum halten einige Herren, die sogar älter sind als ich, vielleicht wollten sie zum Downtown Blues Club oder Landhof Walter, auch hier im Knust tapfer durch. Sie hören Lieder über den sterbenden Affen, Abneigungen und Lügen, wie es ist, sich auf die Zehen zu pissen, allesamt stoisch vorangetrieben vom Standschlagzeug, unaufgeregt zersägt von rostigem Gitarrenkreischen. Wie das so ist, wenn die Dinge kaputtgehen. "Lovers sleep alone".

So ein Regenspaziergang im eisigen Hafenwind wäscht einen schön durch, klappt einem den inneren Mantelkragen hoch, wappnet gegen Erinnerungen und blümchenduftvernebelte Illusionen. Danach dann dämmrig mit der U-Bahn heimrumpeln, vorbei an zittrigen Lichtern. In klamme Laken schlüpfen.

Setlist Hamburg

>>> Geräusch des Tages: Low, Pissing

Radau | von kid37 um 13:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link