Donnerstag, 17. April 2008


[You are now:] Interspace

So, jetzt muß ich nur noch irgendwann zum Flughafen. Die Leibwäsche ist gepackt, Kabel, Geräte, Zuspruch, gute Wünsche und Geschäftspapiere. Der Basilikum steht im Wasserbad. Angefangene Briefe lasse ich angefangen, muß eh alles ein wenig fairer werden.
Den Daheimgebliebenen überlasse ich den Ringelstrumpf der Woche von Joseph Umbro, der unter anderem zeigt, wie man modern reist. Ich hoffe, ich muß meinen Koffer nicht öffnen.

Paßt mir auf das Licht in meinem kleinen Leuchtturm auf. Ich passe derweil auf mich auf.


 


Freitag, 28. März 2008


Verweht. Alles.

On the edge of a dream that you have
Has anybody ever told you
It's not coming true?

(The Kills, "Black Balloon")

Rasch fällt mir auf, warum ich lieber den Abendzug nehme. Der IC ist vollgepackt mit jungen Familien, quengelnden Kindern und Menschen mit obszönen Mengen an Gepäck. In der Reihe vor mir sitzt eine schöne junge Japanerin. Neben mir sitzt das nervigste Kleinkind des ganzen Waggons.

Während ringsum bildhübsche, wohlerzogene Kinder in ihren Pixibüchern blättern oder interessiert im Gang auf- und abtollen, zeigt Little Miss, wo sie in zwanzig Jahren sein wird: Eine egozentrische kleine Prinzessin, die ihre Sachen achtlos zu Boden werfen und augenblicklich ein Geschrei beginnen wird, reicht ihr nicht jemand augenblicklich alles zurück. Innerhalb einer halben Stunde ist der halbe Großraumwagen von ihrem Getue entnervt. Sie fordert alle Aufmerksamkeit für sich, die jungen Eltern kommen dem gerne nach. "Papa", schreit sie und langt nach dem jungen Mann, der neben der schönen Japanerin sitzt. Die blättert gelangweilt in der Bedienungsanleitung ihrer kleinen Digitalkamera. Der junge Mann vermißt sein altes Leben und schaut auf dem Notebook beim Nachbarn schräg vor ihm eine bekannte deutsche Kifferkomödie. Sofort aber kümmert er sich um Little Princess, die weint, strampelt und zudem, man muss es leider sagen, recht häßlich ist. Wie von mir im Stillen vorausgesagt, schreit sie sofort "Mama", kaum daß der Papa sie auf dem Schoß hat. Mama schnappt sie sich zurück, mit empörtem Seitenblick auf den nunmehr düpierten Papa, der sich wieder der Kifferkomödie zuwendet. Die schöne Japanerin blättert ungerührt in der Bedienungsanleitung.

Ein paar Reihen vor mir sitzt ein Mädchen mit rotschwarz gestreifter Ringelmütze und dazu passendem Sweater. Sie fällt mir auf, weil sie sich mit lässiger Kraft an der Gepäckablage entlanghangelt, um etwas aus ihrer Reisetasche zu holen. Dabei rutscht das Ringelhemd hoch, und sie präsentiert unbekümmert ihren Bauchnabel, den ich, wie ich gerne bekunde, sehr apart finde. Über Bauchnabel könnte man auch einmal ein schönes Buch schreiben. Die kleine Kreischkönigin spielt nun mit ihrem Stofftier und einem Taschentuch Schlafengehen und Zudecken. Weil die Taschentuchbettdecke über dem Schmusegefährten Falten wirft, schlägt sie mit flacher Hand und voller Kraft darauf ein. Nach einem kurzen Blick erkläre ich den Teddybär für tot. Ich träume mich aus dem Fenster hinaus. Bald, denke ich, wird die Zeit des ersten Mals kommen. Bald wird es das erste Mal sein, daß ein Luftballon aus der Hand gleitet, vom Wind vertrieben und vom Wetter umhergeworfen wird, und keiner, der ihn zurückbringt. Nicht um alles Geschrei dieser Welt. Festhalten, wird es dann heißen. Nicht Klagen.

Die schöne Japanerin hat begonnen, sich selbst zu fotografieren. Im Player stöhnt Chris Isaak "Baby did a bad, bad thing". Ich versuche zu schlafen, in meinen Traum zurückzusinken und das Wetter zu beobachten. Lebwohl, mein schwarzer Ballon.


 


Mittwoch, 26. März 2008


Im Regen kann es einsam sein

Eli, Eli, lama asabthani?
(Matth. 27.46)



Es gab einen Moment, da dachte ich, er schafft es nicht. Als auf dem beschwerlich langen Weg zur Hinrichtungsstätte in der Parkanlage, an Wuppertals großem Sex-Shop vorbei, der Regen nur noch von Schnee abgelöst wurde. Die bittere Kälte wurde verstärkt durch den Anblick von Römern in Sandalen und einem lieben Herrn Jesus, dessen Finger rot waren von grimmer Anstrengung.

Aber bange machen gilt nicht. Ein Wuppertaler zieht auf den Berg, egal, welche Hindernisse es gibt, und schlechtes Wetter - das kennt er sowieso nicht, gibt es doch bekanntlich nur schlechte Kleidung. Und da waren wir wieder bei unserem lieben Herrn Jesus. Dünne Plünnen, nur Fähnchen am Leib, fast war ich geneigt, wenigstens meinen Schirm über ihn zu halten, hätte dies nicht der strengen Liturgie des Geschehens widersprochen. So blickte ich ihm nur fest ins Auge, ihm Glück und Zuversicht wünschend.

Der Mann am Kreuz war in diesem Jahr erstmals dabei und hätte für sein Debüt keine herausfordernderen Umstände wählen können. Am nächsten Tag, als er in der Küche meiner Mutter aus dem Radio zu uns sprach (das Osterwunder!), räumte er ein gewisses Zagen auf Höhe der Hofaue ein. Mich durchfuhr ein gewisser, gewiß aber kein hochmütiger Stolz, war ich doch sicher, ihm und dem schweren Kreuz mit meinem aufmunternden Blick Halt gegeben zu haben.

Am Ende war nur Stille. Am Ende hörte man nur das Einschlagen der Nägel.

Als er auf der Anhöhe so verhöhnt und ausgestellt wurde, neben sich - da bin ich fast sicher - den Jesus vom Vorjahr als üblen Gesellen am Kreuz, spielte das ober(er)barmer Blasorchester, und mit südländischer Inbrunst und italienischer Zunge wurde der Jungfrau Maria gedacht. Es regnete, und in diesem Moment, ich sag es immer wieder, hätte man schon härter als das Holz einer Eisenbahnschwelle sein müssen, um nicht ergriffen zu sein. Wer wird ihm den Zweifel verdenken, wenn er da hängt, alleingelassen, und keine Antwort auf seine eine Frage bekommt.

Warum? Jesus selbst hat in diesem Moment nur wenig gesagt, niemand zieh ihn, mit schönen Worten Mitleid zu heischen. Die Bergischen jedoch haben nahe dem Wasser gebaut. Nicht immer allerdings spielt dabei ein Posaunenchor.


 


Mittwoch, 6. Februar 2008


Aschermittwoch

And the lost heart stiffens and rejoices
In the lost lilac and the lost sea voices

(T.S. Eliot, "Ash Wednesday". 1930.)



Hinter Dortmund liegt der erste Schnee. Der Zug bohrt sich tiefer in das Herz der Industrieruinen, nach langer Fahrt durch flache, matschige Felder. Es ist nicht viel, der Boden gerade mal bedeckt. Aber doch Schnee. Am Horizont reihen sich bewaldete Hügel auf, die Flüsse haben Wehre. Weiter geht es hinein ins Bergische Land. In Wuppertal stehen erste Jecken auf den Bahnsteigen, frierend, schunkelnd, ein bunter Kontrast zu nassgrauen Hausfassaden. Frohsinn im Dreck, denke ich. So sind wir dann wohl.

Durch die Stadt führt eine melancholische Fahrt. Die Musik im Ohr abgegriffen wie das Gotan-Projekt, wie der Himmel in einem alten Café. Zäh schiebt sich der Zug dazu zwischen häßlichem Etwas hindurch, allzu langsam durch das enge Tal. Und mir wird bewußt, schmerzhaft, wie gerne ich gezeigt hätte: Die kleinen Orte, die rostigen Eisenbrücken, die verborgenen Stiegenhäuser, der alte Ascheplatz. Das Aufdecken, daß man selber auch Familie hat und ein Leben.

Denn am Ende überleben nicht die Versprechungen. Was bleibt, sind die geteilten Erinnerungen. Die Reisen, die rührenden Momente. Die stillen, die sanften, die schönen und auch die traurigen. Nicht das, was hätte sein sollen. Nur das, was war.


 


Montag, 4. Februar 2008


Karneval Bop



Nach dem Geisterzug, gegen den nun wirklich niemand etwas sagen kann, das ist ja mehr so Mardi-Gras für Studenten, dann noch in so einem kleinen Kellerclub in der Südstadt gelandet. Gleich beim Reinkommen, hallo Rheinland, mit einer jungen Frankensteins Braut an der Theke geflirtet geredet, die mich auf meine rote Pappnase anspricht. Es handele sich um eine hanseatische Extremverkleidung, erkläre ich, und wir sind uns für einen Augenblick sehr nah. Später stellt sich das junge Geschöpf als die DJane des Abends heraus, aber erst noch spielt ein mitteljunger Elvis geschrammelte Versionen seiner größeren Hits. "Viva Hohensyburg" bringt die Tanzfläche zum Kochen, ich bin ebenfalls begeistert. Ich habe den King gesehen.



Anschließend passiert das, woran man merkt, daß man zuhause ist. Sentimentales Liedgut wie "Unser Veedel" mit "Blitzkrieg Bop" zu mischen, geht wohl nur hier verletzungsfrei. Junges Indievolk tanzt unbefangen verkleidet, und auch für mich gibt es eine Premiere (Herr Sakana liest jetzt mal kurz weg): Zu "Blue Monday" mit roter Pappnase tanzen war für mich ein absolut neues Erlebnis. "You Really Got Me", wie die Kinks zwischendurch verkünden. Dafür lebt man ja schließlich: neue Erfahrungen machen.

Die DJane rockt hinter ihrem Pult in Selbstbegeisterung und wir lassen sie nicht allein: "Debaser" (Hände hoch in die Luft bei "Chien Andalusia"), Kelly* Deal, die wollte ich auch mal heiraten, die hätte mir das Rauchen beibringen können und einiges andere mehr. Man will ja nicht nur Zucker schlecken im Leben, sondern auch lernen. "No Tears", genau, "God Save The Queen", mittlerweile weiß ich von manchen, wo sie '77 waren, "I Wanna Be Your Dog", jajaja, dazu muß man raumgreifender tanzen - und zu "Ring of Fire" nie allein. "Jackson" gleich hinterher, auch schon lange nicht mehr gehört, seit mein Plattenspieler daheim Transmissionsprobleme hat. Hier aber gibt es An- und Auftrieb, das reicht wieder für eine ganze Zeit. Man muß es sich ja einteilen.



Mit einer Amy Winehouse, die dünnen Oberarme über und über mit Tattoos bemalt, tanze ich zu "London Calling". Ich bedaure, nicht mein tolles T-Shirt zu tragen. Nachdem wir gemeinsam "I live by the river" gebrüllt haben, biete ich ihr eine Entschuldigung an, weil ich ja in den letzten, mir etwas schwerer angehangenen Wochen die ein oder andere despektierliche Ansicht über sie geschrieben habe. Wenn ich ihr Nicken richtig interpretiert habe, sind Amy und ich aber wieder so was von!

Dadurch fast schon ein wenig übermütig geworden, tanze ich gleich darauf mit der aufgedrehten DJane, die mich entfernt an die sehr schöne Frau™ erinnert, zu "Devil In Disguise". Beim Refrain drohe ich ihr mit neckisch erhobenem Finger, während sie mir teuflische Kußhände zurückwirft. Dann ist sie wieder verschwunden. Das ist aber nicht schlimm, denn ein bißchen außer Atem bin ich schon. Was man alles so erlebt. Auch Wahnsinn, eigentlich. Wenn man so darüber nachdenkt.


 


Samstag, 2. Februar 2008


Sternenklar

This is an exciting month because surprise developments will bring needed changes. [...] Your chart is particularly intriguing, especially when viewed in the context of what you've been doing over the past two years.

Klingt gar nicht schlecht.

Sogar das mit der lustigen Reise Anfang Februar stimmt. Andererseits, Romance may not be your number one priority in February, da werde ich wohl wirklich was mit einer "Website" machen müssen. Oder dahin gehen, wohin niemand zu gehen wagt: Ins Rheinland, wo ich Hoffnung hege, daß sich vielleicht eine 52-jährige, füllige Prinzessin im rosa Tutu meiner erbarmt und herzt und bützt, was Tüll und Leibesfülle gestatten.

Denn merke: Von allen traurigen Vögeln bin ich immer noch der lustigste.


 


Sonntag, 9. Dezember 2007


Keine Nieten

In Rummelplätzen, wo Athleten ringen,
Wird alles dunkler schon und ungenau.
Ein Leierkasten heult und Küchenmädchen singen.
Ein Mann zertrümmert eine morsche Frau.

(Alfred Lichtenstein, "Sonntagnachmittag". 1912.)



Eigentlich ging ich nur hin, um mir am Schießstand selbst etwas zu schießen. Eine Pfauenfeder vielleicht oder ein Schwammkopf©®™-Kissen. Es hatte nur wenig geregnet und auf dem nassen Pflaster spiegelten sich farbige Lichter. Von vielen Seiten ertönte Musik. An einem Stand verzehrte jemand eine Bratwurst. Neben mir standen zwei, die haben gelacht. Auf dem Winterdom gibt es die Wasserrutsche nicht. Die Leute sind sehr laut und geben sich vergnügt, wenn sie durch die Gischt rasen. Aber sie tun das nur im Sommer. Die Autoscooteranlage bietet an, seinen Geburtstag dort zu feiern. Wenn ich Geburtstag habe, ist in Hamburg keine Kirmes.

"Für unsere Gäste nur das Beste". An einem Fahrgeschäft schrieb ich mir die Sprüche des Ansagers auf. Vielleicht kann ich sie zitieren, wenn ich einmal eingeladen bin. Ich habe dann noch ein wenig zugeschaut und ging ohne das Kissen nach Hause. Na ja. Hat man halt was erlebt.






 


Donnerstag, 27. September 2007


Reisen in Nihilon: Wedel

But tomorrow when we're gone
They will see the reason
Why we can't go on

(Sylvan, "We Don't Belong")*


Einem wunderbaren französischen Film zufolge liegt das Glück in der Wiese. Für den ausgezehrten deutschen Großstädter mag es auch einfach in der Vorstadt liegen, abseits womöglich der breiten Straßen, kleinen Freiheiten und großen Hoffnungen. Mir jedenfalls können ferne Sunde, mythische Schlünde und tiefe exotische Gründe gern gestohlen bleiben, gilt es doch vor grauer Städte Mauern eine Welt zu entdecken, die einem mehr eisige Wahrheit entgegenzuschleudern vermag als ein isländischer Geysir an heißer Naturgewalt. Zu pathetisch? Ach.
Wie wäre es mit wollstrumpffeuchter Tristesse und einer unerträglichen Beschaulichkeit, die schärfer schneidet als ein Blatt Papier - und ältere Bewohner hinter zurückgestutzte Rhododendronhecken und die jüngeren hinter die Lärmschutzwälle ihrer MP3-Player treibt?

Kaum ausgedacht, hielt es mich länger nicht zurück, einen Exkurs zu wagen in den Wilden Westen Hamburgs. Recht weit dort bei Sonnenuntergang liegt das schöne Städtchen Wedel, ein weltoffener Flecken mit 32000 Einwohnern und mittelalterlicher Ochsenmarkttradition.



Die Innenstadt zeigt fröhlich dekorierte Spielhallen, mit "top modisch" werbende Dessous-Läden (die Wedeler Frau ist auch untendrunter auf sich bedacht), auffällig viele Filialen von Geldinstituten und Immobilienmaklern, den üblichen gruselig-tristen Lädchenmix der Vorstädte aus Spiegelglas, korrodierten Metallfassaden und einer beschaulich altertümlichen Putzigkeit. Wedel hat Geschichte und der "Roland" legt davon Zeugnis ab. Die etwas trutzig geratene Statue mit Goldhelm dominiert den kleinen Marktplatz und irritiert den durchreisenden Besucher. Dieser Roland nämlich, so fällt auf, hat zwischen den Beinen einen ganz schön dicken, wie sagt man?, Beutel.

Wer hat, der hat, denkt sich vielleicht auch die Freiwillige Feuerwehr, deren moderne Wache von 1971 man auf dem Weg hinunter an die Elbe passiert. Die wird als Inhaberin "der längsten Leiter Wedels" gepriesen, wenn man der Webseite des Ortes glauben darf.

Mit solchen Primärmerkmalen aber will man sich nicht lange aufhalten, gilt es doch, große Pötte zu bewinken. Das Ziel heißt Schiffsbegrüßungsanlage, einer der ertragreichsten Geschäftsideen der Gastronomie, seit Erfindung des reservierungsfreien Schankstüberls. Unten am Fluß nämlich beschallt eine große Lautsprecheranlage noch größere Schiffe auf dem Weg von und nach Hamburg mit frischem Seemannsgruß und der passenden Nationalhymne. Dies beschränkt sich heutzutage zwar meist auf die aus Panama und Liberia, aber bekanntlich liegt auch in regelmäßiger Wiederholung ein gewisser Reiz. Für den, der es mag.



Währenddessen sitzen auf der kleinen Promenade oder direkt am Fährhaus neunmalkluge Blogger Rentner und fachsimpeln über Bruttoregistertonnen, Handelsbeziehungen und die Weltläufte. Es scheint fast wie Urlaub, schließlich ist die große weite Welt zu Gast - so wie man selbst bei den nur scheinbar desinteressiert wirkenden Seevögeln, die aus den Augenwinkeln aufmerksam meine Käsebrote beobachten. Es sind alles Freunde, das merke ich gleich.

Der Rückweg führt am Graf Luckner Haus vorbei. Eine heimelige Ruhestatt für alte Seeteufel, die nah am Wasser bleiben wollen. Ach Wedel, wo "Elbe-Döner" locken, Emo-Mädchen den Kopf noch ein Stück gesenkter tragen, du bist ungeheuer - Gott schütze diese Stadt, vor Not und Feuer, Krieg und Steuer.



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>>> *Sylvan Masons Blog und ihre Erinnerung an "We Don't Belong", einen der mitreißend-düstersten und erstaunlichsten Pop-Songs der Sixties.


 


Freitag, 14. September 2007


Reisen in Nihilon: Scharbeutz

Alles Unglück in der Welt kommt daher,
daß man nicht versteht,
ruhig in einem Zimmer zu sein.

(Blaise Pascal)




Das neue Projekt heißt Nachsaison. Der mittlerweile auch etwas in Vergessenheit geratene Zeichner Loustal hat darüber einen seiner melancholischen Erzählbände veröffentlicht (Arrière Saison): Die Zeit nach den großen Versprechen des Sommers, der flirrenden Hitze, sonnenblitzenden Blicken und gesundbraunen, wenig scheuen Körpern, die in einer kraftvoll gebogenen Kurve von den Piers und Brücken ins grünblaue Wasser schnellen.



Der Strand liegt nun ruhiger, unberührter. Stiller harren die Seebrücken, empfindlich kühl ist das Wasser geworden, niemand wagt heute den Todessprung. Der kalte Sand fühlt sich gut an unter meinen nackten Füßen, ich gehe durch die Brandung, grabe mit den Zehen fein zermahlene Muscheln um und warte auf den Sonnenstrahl, den der Wetterbericht für heute ankündigte.

Als ich mich für ein improvisiertes Picknick auf meine Kapuzenjacke setze, Himmel, Sand und Wellenschläge im Blick, durchsucht als erstes der Wind meine Taschen. Doch die Natur zeigt sich von ihrer verbindlichen Seite: Eine griesgrämige Seemöwe freundet sich bald mit mir an, während wir gemeinsam auf unsere Zukunft warten. Lange Zeit spülen die kläglichen Wellen der Ostsee nicht einmal tote Fische an Land. Mein großer Zeh bohrt sich tiefer in den Sand. "Life is very long, when you're lonely", singen die Smiths. Mein Freund, die Möwe, verzieht den Schnabel zu einem spöttischen "Hiiiiaaarrr". Auch diesen Augenblick gilt es zu genießen, erkläre ich mit wichtiger Miene, doch abgelenkt fixiert der trübsinnige Vogel just in diesem Moment starr einen fernen Punkt am Horizont.



Weiter unten am Strand ist das Häuschen der DLRG verwaist. Nur ein paar Rentner wandern am Ufer auf und ab, Leben gilt es heute wohl nicht zu retten. "We could go for a walk where it's quiet and dry and talk about precious things...", versuche ich meinem geflügelten Freund in internationaler Seemannssprache zu kommen. Die Möwe gähnt und dreht sich etwas weiter in den Wind. Dieser Strand, rufe ich laut, läßt in seiner frisch und viel zu akkurat gerechten Stille nicht einmal Stimmung für Pathos aufkommen! Der Vogel beäugt mißtrauisch meine rudernden Arme, rührt sich aber nicht von der Stelle. Und, Herr Möw', was haben wir dazu zu sagen? Hiiiarrr? Nevermore? Raus damit! rufe ich, schon lauter, eine Antwort von der unbestechlichen Natur erwartend, aber die Ostsee, obwohl anerkanntes Seemannsgrab, plätschert einfach weiter unbeirrt und bedächtig vor sich hin.



"Die will nur ihr Brot", stellt einer der Rentner nüchtern fest, der sich in seinen Gesundheitsschuhen lautlos an mich herangeschlichen hat. So ist das, denke ich, und betrachte mißtrauisch meine Käsestulle. Hiiiiaarrr krächzt der Vogel nun erregter und schlägt kurz erwartungsvoll mit den Flügeln. Brotzeit ist vorbei, schreie ich das Tier an, enttäuscht und resignierend. Das Leben hat Nachsaison. Iß doch Kuchen!


 


Sonntag, 15. Juli 2007


Wasaland



Heute in einem Anflug von Ausflugswünschen die Tasche gepackt und mit dem Fahrrad über die Deiche geradelt, an Schafherden und Erlebnisbauernhöfen vorbei dahin, wo auch Wasser ist. Irgendwo hatte ich sogar einen Bootssteg (aber immer noch kein Boot) für mich alleine. Das kann man jetzt nett finden, dort zu sitzen, muß man aber nicht. Es war jedenfalls nicht so wie in der Werbung. Obwohl ich stundenlang ausharrte, tauchte vor mir aus dem flirrenden Wasser keine blitzblanke junge Schwedin auf, die nichts weiter trug als eine Scheibe frischgefangenen Knäckebrots.

Im Gegenteil, denn ein Stück nebenan befand sich der Hundebadestrand und eine Pferdeschwemme. Bei näherer, gleichwohl meditativ gefaßter Betrachtung stellte ich fest, man müßte schon ein besonderes Verhältnis zu Kolibakterien haben, wünschte man an dieser Stelle intimeren Umgang mit der Natur.