Der gefundene Satz, 18

"Als Modell der heutigen Kommunikation könnte der Minitelaustausch gelten. Man verbindet sich zuerst erotisch via Bildschirmtext, dann ruft man einander an, dann trifft man sich und - dann - was tun? Nun, "man ruft mal wieder an", kehrt zum Bildschirm zurück, auf dem es letztlich viel erotischer zugeht, weil zugleich esoterisch und transparent. Dies ist die reine Form der Kommunikation, die nur die Promiskuität des Bildschirms und den elektronischen Text als Filigran des Lebens kennt, wo wir uns in einer neuen Höhle des Platons wiederfinden und nur noch die Schatten der fleischlichen Lust an uns vorüberziehen sehen. Wozu sollte man noch miteinander reden, wenn es so einfach ist, zu kommunizieren?"

(Jean Baudrillard, "Videowelt und fraktales Subjekt". 1988. In: Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, 1990.)

Ex Libris | 18:04h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 18:13
Aus der Reihe: Interessante Wiederentdeckungen, wenn man mal durch den Buchbestand seiner Studentenzeit streift.

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mark793 - Dienstag, 24. Mai 2005, 18:26
Erstaunlich aktuell
immer noch. Da sage noch einer, Universität erziehe zur Weltfremdheit. Was war das für ein Studiengang (wenn Ihnen die Frage nicht zu indiskret erscheint)?

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:31
Da wollte ich so was wie Cultural Studies auf Walton's Mountain, wo ich studiert habe, etablieren. Heimlich waren wir da nämlich alle Bazon Brock-Hermeneutiker. Da starb immerhin keiner dran.

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:46
Solche Themen fand ich damals auch unglaublich spannend. Haha. Schade, daß ich heute nicht mehr so einfach ein, zwei Gänge höher schalten kann. Man vergißt soviel und wird erstaunlich bequem.

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leteil - Dienstag, 24. Mai 2005, 20:17
sind wir dochma ehrlich - das' doch die situation hier! (ohne flax)

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 20:20
Vor dem "man ruft mal wieder an" und der Rückkehr zum Bildschirm fehlt das Treffen in irgendeinem Hotel in irgendeiner Großstadt.

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 20:55
Ja, mit 120 weiteren Bloggern.

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 20:59
Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:05
Ok, dann aber geht's aufs Hotelzimmer. (Wo vielleicht sogar ein Notebook wartet...)

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:08
Wann dann? Bei weniger als 120 weiteren Bloggern? Und das Notebook zwecks Liveübertragung? Bei uns sitzen Sie in der ersten Reihe......?

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mark793 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:10
Na was dann wohl?
Alle knipsen sich gegenseitig mit ihren Digitalkameras oder Fotohandys und flickrn sich gegenseitig einen vonner Palme, is doch klar...

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:12
Sind heimliche Vaterschaftstest eigentlich inzwischen gesetzlich verboten?

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:34
Ich bin schon auf einige Blog-Beiträge neun Monate nach dem Blogmich05 gespannt... Vielleicht kann Herr Mark dann die Bloggen-mit-Kind-Gruppe betreuen ;-)

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:39
Hehehehe,
nette Vorstellung. Man könnte einen Wettbewerb draus machen: Rate mal, welcher Vater zu welchem Kind gehört. Hossa.

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modeste - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:25
Die Verführung der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten virtueller Kommunikation, körperloser Romantik, gegenüber denen die Fallstricke und Unsicherheiten der tatsächlichen Begegnung nur verlieren können. Im übrigen natürlich auch eine sich selbst befeuernde Klimax, in der mit jedem elektronischen Akt der tatsächliche Akt der Begegnung ein wenig weiter in die Ferne rückt.

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:26
Jau, genau so isses.

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mark793 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:35
Ob wirs noch erleben,
dass das elektromagnetische Substitut auf breiter Front die Kohlenstoffkontakte ersetzt?

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:39
Ob ich´s
noch mal erlebe, dass Sie mit mir so reden, dass ich es verstehe? ;o)

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:42
Baudrillard schreibt:

Der virtuelle Mensch [...] wird zum motorisch und wohl auch zerebral Behinderten [...]. Wie Brillen oder Kontaktlinsen eines Tages zu integrierten Prothesen einer Gattung werden, die den Blick verloren hat, so wird einst - kann man befürchten - die künstliche Intelligenz samt technischem Zubehör die Prothese einer Gattung werden, der das Denken abhanden gekommen ist.

Statt "Denken" können wir sicher einfach "Lieben" oder "Fühlen" setzen. Warum nicht. Ein Problem weniger.

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evasive - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:43
Prima. Da gibt es dann sicherlich auch einen Reset-Knopf.

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modeste - Dienstag, 24. Mai 2005, 21:58
Zu bedenken wäre diesbezüglich natürlich, dass eine Prothese zwar ersetzen kann, was nicht vorhanden ist - also etwa die Fähigkeit , sehr schnell große Summen zu errechnen - aber wohl nicht substituieren kann, was zwar mängelbehaftet sein mag, gleichwohl aber vorhanden ist.

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kid37 - Dienstag, 24. Mai 2005, 22:13
Alle Maschinen sind Junggesellenmaschinen
Was aber das Funktionieren sogar der intelligentesten Maschine immer vom Menschen unterscheiden wird, ist der Rausch des Funktionierens, die Lust. [...] Alle Arten von Prothesen können dazu beitragen, dem Menschen Lust zu verschaffen, aber er kann keine erfinden, die an seiner Stelle Lust empfinden. (J.B.)

Das wäre ja auch noch schöner. Andererseits: Auch dies eine unglaubliche Entlastung. Mach's doch meiner Maschine, die freut sich auch! Nie mehr "Müdigkeit" oder "Kopfschmerzen" vortäuschen. Bis dahin aber herrscht wohl weiter die "tiefe Melancholie von Computern" (J.B.).

@evasive: O, Gnade eines solchen Reset-Knopfes. Einmal so richtig durchbooten, das wär's.

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modeste - Mittwoch, 25. Mai 2005, 11:00
Und so, wie die Leichtigkeit der virtuellen, makellosen Kommunikation uns letztlich der Fähigkeit beraubt, noch behaftet mit den Mängeln des direkten Gesprächs stofflich zu kommunizieren, würde auch die Entlastung von der Lust am Ende die Unfähigkeit generieren, diese noch selber zu empfinden oder zu vermitteln, bis die Melancholie der denkenden, aber nicht fühlenden Maschine auf uns übergehen würde als schmutzige Depression des Imperfekten: Wer würde in einem solchen Falle schließlich den eigenen Körper, die eigenen kommunikativen und erotischen Unfähigkeiten noch anderen zumuten dürfen und wollen? Und wer würde sich der Vernichtung durch Zurückweisung aussetzen, wenn er nicht muss?

Zum nächsten Blogmich schicken wir dann alle Avatare. Das wäre doch gleich eine ganz andere Veranstaltung. "Hey,", würde ich meinem Avatar nach seiner triumphalen Rückkehr auf die Schulter klopfen: "Perfekte Performance." - "Ich weiß.", würde der Avatar antworten.

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maz - Mittwoch, 25. Mai 2005, 01:54
Minitel...hmm-
irgendwie erinnert mich das an Houellebecq.
Nun mal ganz ernst. Dass die Franzosen internetmäßig so sehr der Welt hinterherhingen läge an der sehr frühen Einführung und enormen staatlichen Subventionierung des Minitel.
Sie sind dadurch der Welt irgendwie voraus und dann wieder nicht.
Wollte mal zu dieser Stunde den Klugscheißer spielen.

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kid37 - Mittwoch, 25. Mai 2005, 02:13
Lustige Koinzidenz, weil ich gerade etwas schreibe, in dem ich Houellebecq erwähne. Morgen ist ja wieder Mittwoch und Moralbloggen. Aber ich fürchte, das Thema ist diesmal zu öde. Ich muß hier ja nicht künstlich Wellen schlagen oder klugscheißen, wenn ich schon so kluge Leser habe ;-)

Minitel ist wohl auch ein Beispiel dafür, wie man ein interessantes Konzept populär machen kann (über das Ausmaß der Subventionierung weiß ich allerdings nichts). BTX jedenfalls war durch umständliche Technik und enorme Kosten hierzulande gleich zum Scheitern verurteilt.

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mark793 - Mittwoch, 25. Mai 2005, 10:52
Die Technik
von BTX und Minitel war so ziemlich die gleiche. Im Gegensatz zur damaligen Bundespost hat France Telecom die Gerätepreise massiv subventioniert, um die Einstiegshürde niedrig zu halten. Auch sonst haben die Franzosen den Kundennutzen stärker kommuniziert. Und dass da auch erotisch was gehen könnte, haben die Nutzer ziemlich schnell für sich entdeckt.

Hierzulande waren die Postler der Meinung, wenn nur genügend Anbieter mit Diensten und Inhalten auf den Zug aufspringen, dann verkaufen sich die Endgeräte von alleine. Ein Irrtum, wie wir wissen...

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katze - Mittwoch, 25. Mai 2005, 12:17
Minitel ist vielleicht nützlich, wenn auch nicht nützlicher als das richtige Netz, aber was viel schlimmer ist, es ist so häßlich. Ein asthetisches Verbrechen. Klein, grau, von der GUI ganz zu schweigen.

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wasweissich - Donnerstag, 26. Mai 2005, 01:50
Habe auch mal Baudrillard aus Studienzeiten hervorgeholt. In der "Agonie des Realen" steht: "Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen, [...] eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt." Diese Texte wiederzulesen ist merkwürdig.

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kid37 - Donnerstag, 26. Mai 2005, 02:18
Dieses ganze Semiotik-et-al-Gedingse, nun ja - ich war ja ein echter Fan. Roland Barthes, Eco, Foucault, Virilio... ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch lesen könnte möchte. Spannend ist das allemal.

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