Montag, 23. Dezember 2019


Driving home for Dings

"Daheim ist es doch am schönsten", heißt es im Film. Und doch verlangt es alte Sitte, Weihnachten in vollen Zügen zu genießen.



Die Hinfahrt im Fahrradabteil, die Rückfahrt mit Verspätungen und Unterbrechungen. Das Thema "Deutsche Bahn" bleibt schwierig. Die freundliche Bedienstete im Mitternachtsauffangdienst am Hauptbahnhof Hannover meint nur, es sei eigentlich ruhig, die größere Unruhe erwarte man erst um Heiligabend. Ich bin ein bißchen genervt, beschließe aber trotz gefühltem inneren Lärm, den Ablauf nun auch nicht weiter stören zu wollen.



Die Heimatstadt zeigt sich graugeschleiert. Zurückhaltende Opulenz mit einem leisen Hauch von erzitterndem Verfall. Lückenhaft schindelverkleidetete Häuser mit bloßgelegtem Holz, wie die Zahnhälse durchgeregneter Nörgelrentner. Als Visitenkarte steht die Hauptschwebebahnstation verlassen und verlottert, auch der Aufzug zur Plattform ruht still wie der weihnachtliche See.



Ja, wo sind wir denn hier? Die Geräte sind längst leer, alle Bildnisse und Gleichnisse auf ein anderes Gerät übertragen, von dort aus vielleicht auch schon weiter. Ein Glöcklein klingelt in der Kirche, Geheimnis der Weihnacht. Gerätschaften sind die neuen Mysterienbehälter. Alexa strömt Weihrauch aus, im Gehäuse der Googlebox liegen die Gebeine der heiligen Siri. Um Mitglied der Gemeinde zu bleiben, buche ich im Haus meiner Mutter einen Tagespass für einen Internet-Hotspot im liturgischen Magentagewand. Halleluja!



Ein Fenster zur Welt. Ich schlafe schlecht, halte die Augen halb geschlossen und entwickle Ideen fürs Stadtmarketing. Hier eine Zwischenlösung, dort was Radikales. Die Stadt indes hat die Neunziger Jahre entdeckt, die Radwege im Zentrum vergessen und plant dafür ein Outlet-Center.



Dafür wäre hier viel Potential, allein aufgrund der Topografie, die keine Mittelwege zuläßt, einmal schräg zu denken. Kopfstand auf der steilen Treppe, Wind durchjagen, den inneren Dauerregen vertreiben. Die Schuttberge hinter staubigen Fenstern verräumen. Man muß dazu offen sein.



Vieles rührt in einer Unbeholfenheit. Anderes sperrt sich starr entgegen. Soll man Ruten verteilen oder lieber Lebkuchen? Ich bleibe Gast auf der Sofakante, ansprechbar von vier bis zehn. "...eine seltsame Stadt, schwarz vor Romantik und Geschehnissen und Umhertreibern aller Art", schrieb die Lasker-Schüler. Vielleicht sollte mal einer den Finger zwischen die lockeren Schieferplatten schieben, den Schmodder herausprokeln, die Verklebungen freispülen. Die Stadt der Chöre zum Singen bringen.


 


Samstag, 3. August 2019


Vienna Calling #7

Wann sind wir endlich daheim?
Wir sind nie daheim!

(Kreisky, "Dow Jones")



Es ist Zeit, Baba zu winken. In Wien macht das, Bitte, bitte!, die Katze Kreisky, für mich ja immer noch die beste Schrammeldiskursrockband Österreichs, da können sich alle Wandas ins Bilderbuch legen. Die Woche ist rum, das Wetter wird besser, denn der Abschied naht. Noch schön in der Sonne am Platz sitzen, Pläne schmieden, Sonnenbrillen rauf- und runterschieben, den Kindern beim Spielen zuschauen. Schauspieler laufen vorbei.



In der inneren Stadt aber stehen die apokalyptischen Reiter. Und, man stelle sich das vor: Wie ein ungeschickter Gast, der beim Hinausgehen die wertvolle chinesische Vase umwirft, stürze ich am letzten Abend die Regierung. Sozusagen. Ein delikates Urlaubsvideo sickert durch, und ein Land hält den Atem an. Hat er das gerade wirklich so gesagt? Mit der letzten Maschine komme ich aus dem Land, ehe hinter mir alles zusammenbricht.

Die magnetische Anziehungskraft der Stadt aber bleibt. Vielleicht sollte ich dort endlich eine Dependance errichten, den ganzen Klumpat in Hamburg zusammenpacken und umsiedeln. Einen Titel tragen, einen Laden erwerben und fortan nur noch Kunst und Bücher verkaufen, abends im Beisl was singen, einen Text vortragen. Das kann doch alles so schwer nicht sein, die drei Mark 50 Schilling zum Leben muß man doch wohl zusammenbekommen. Der Dow Jones zuckt auf und ab, auf nix is' Verlaß, is' nämlich nicht. Da muß man in Bewegung bleiben.

>>> Geräusch des Tages: Kreisky, Dow Jones


 


Donnerstag, 1. August 2019


Vienna Calling #6



Wien ist immer gut gekleidet. Männer halten stets einen Ersatzkragen in der Tasche bereit, die Damen tragen fesch und extravagant vor der Staatsoper oder abends zur Burg auch Klimperbehang. Im Vergleich dazu ist Hamburg leider grau und trostlos oder eben ein Szeneviertel im Kapuzenpulli. Nur Ringelhemden, die gehen immer. Auch ganz ohne Kragen und Klimperbehang.



Ich sag mal nix dazu, aber wenn ich nach Wien komme, hängt man mittlerweile die Ringelstrümpfe raus. Sehr charmant, ich bleibe stoisch, freue mich aber innerlich. Überhaupt die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit der Menschen. Grantler kenne ich dort nicht. Das ist eben der sprichwörtliche Wiener Wald: Wie man reinruft... usw. Ebenso stoisch nimmt man dort meine piefkeschen Versuche hin, Weanerisch zu reden. (Kellner spucken mir möglicherweise in die Suppn dafür, aber höflicherweise nie vor meinen Augen.)



Es sind die Widersprüche dieser Stadt, die ich reizvoll finde. Vieles geht mit Augenzwinkern, manches provozierend langsam, die Läden heißen mit weichem B wie ein Kinderabzählreim: Beständig, Bipa, Billa. Manches neu, vieles alt, anderes verborgen. Obskures atmet einen überall überraschend an, im 1. Bezirk gibt es laut Türschild so etwas wie einen "psychoanalytischen Waffengutachter", das kann man sich für Romane nicht ausdenken.

Irgendwo trällert ein Sopran, irgendwo wird laut gekeucht. Irgendwo ist gerade Pensionistentag, irgendwo wird grad gestorben. Vor dem Haus steh'n schwarze Pferde. In Hamburg, der Freien und Abrißstadt, wäre das alles schon entwickelt und entsorgt, umgewandelt in ein Containerlogistikzentrum, ein Musicaltheater, ein Bürokomplex. Erinnerungen macht man besser anderswo.


 


Sonntag, 28. Juli 2019


Vienna Calling #5



Weil ich diesmal irgendwie schlecht zu Fuß war und Wien in den Fängen der Heiligen Eismarie, war mir eher nach Innen und Sitzen. So daß ich dachte, als Buß- und Fürbittgang für innere und äußere Schwäche mache ich mal eine ausgeweitete Kirchentour. Also nicht immer nur Stefansdom, einmal in durch Menschenhände verkeimte Weihwasser tunken, sich an das katholische Erbe erinnern und innere Zwiesprache anzustimmen. Bekanntlich haben aber auch andere Kirchen schöne Opferkerzen, dazu allerlei Prunk und zur Schau gestellte Tafelkunst.



Im katholischen Wien herrscht kirchlich-beschaulich ein anderer Schnack als im protestantischen Hamburg, man sieht - für den reinigenden Schauer - leidende Heilige, durchbohrt, geköpft und verbrannt. Goldene Reliquienschreine, viele Füße, weitere verehrte Gebeine und Fetzen von diesem und jenem, Opferstöcke und Opferkerzen. Dazu gibt es Wlan mit teilweise ganz humorig benannten Routern, Stichwort "Tor zum Himmel" usw. Achtet mal drauf.



Ich habe gar nicht alle geschafft, zumeist aber gut in den Bänken gesessen. Meditiert, den Kopf gehoben und Deckengemälde betrachtet, Seitenflügel und Altararrangements, dazu Orgelproben gehört. Ein eigener Reiseführer würde sich lohnen, in dem der Sitzkomfort der Bänke bewertet wird und auch, ob es neben dem Beichtstuhl auch weitere stille Örtchen gibt. Dominikanerkirche, die üppige Franziskanerkirche, St. Peter, die Votiv-Kirche, ein paar andere kenne ich noch von früheren Besuchen, so wie die Kirche am Steinhof - noch nie aber war ich in der Karlskirche, weil mir das immer zu touristisch oder sonst gerade für den Terminplan nicht passend schien. Man sitzt dort aber, auch das wäre ein Punkt für meinen Reiseführer, sehr schön im Warmen auf den Stufen, wenn die Sonne scheint, und kann den Menschen auf dem Platz zuschauen.


 


Mittwoch, 24. Juli 2019


Vienna Calling #4



Wer die schöne Stadt besucht, tut dies ja meist wegen der herzensschönen Menschen dort, aber oft auch einfach nur wegen der schönen Kunst. Da es auf dem Naschmarkt so leer geworden ist, zeigt man nun auch dort viel Kunst, großformatig und in vielen unterschiedlichen Stilrichtungen.



Man sitzt dann vis-a-vis, brustet und prostet sich zu, singt ein fröhliches Lied zu einem vernünftigen Getränk, sagt "a geh" und meint "komm her", und "angreifen" ist immer noch keine Kriegserklärung. Es sind volksnahe Legendenerzählungen, Heiligentafeln, die Bild für Bild die Stationen erklären, wo St. Tschocherl und die hl. Beisl umherwanderten und Wunder wirkten. Wo zwölf Tschick geraucht und ebenso viele Glaserl gestemmt wurden. Noch heute erzählen die Leute davon.




Wer nicht malen kann, klöppelt Worte aneinander. Oder umgekehrt. Am Ende hilft der Glaube, weshalb es in der schönen Stadt auch so viele Kirchen gibt. Aber davon vielleicht später. Ich mag es ja, wenn es freundlich zugeht in der Welt, Stille statt Geschrei, Blicke statt Besserwisserei. Die Kunst betrachten, staunen, mit der Taschenlampe leuchten. Und anschließend gehst einfach hoam.


 


Freitag, 19. Juli 2019


Vienna Calling #3



Auf meinen Bildungsreisen nach Wien schaue ich ja immer auch nach den Tieren. Manchmal in Schönbrunn, meist im Naturhistorischen Museum, manchmal aber auch in freier Wildbahn. Zart zerkaute Giraffen findet man da oder riesige Glaswespenbienen. Und zuletzt staunende Hasen, die als alte Hakenschlager auch nicht recht erklären können, wie die Welt gerade läuft.



Ins Glas geblasen sind die bunten Superinsekten von beeindruckender Schönheit und Größe. Sonst, selten. Diese riesigen Exemplare nähren sich von der geheimnisvollen, dichten Pflanzenpracht, die es irgendwo auf der Donauinsel geben soll. Üppige, schwül duftende Blumenfelder, auf denen gerüchteweise laut schwirrende, ins Monströse mutierte Schmetterlinge, Bienen und Wespen heranwachsen sollen. Bereit, in die inneren Bezirke der Stadt vorzudringen, um Touristen zu bedrängen, die im Sommer die Caféhäuser überfüllen. Eiweißreiche Nahrung für die Brut, die in gigantischen Papiernestern heranwächst und jeden Morgen von den Praterfahrgeschäften geschlagen werden muß. Eine andere Erklärung fällt mir gerade nicht ein.



Mit toten Tieren durch Wien wäre auch eine bezaubernde Idee für einen kleinen Spezialinteressenreiseführer. In vielen Geschäften stehen sie und starren, mahnen den Betrachter durch die Schaufenster, das Leben gut zu nutzen, nicht in jede Hasenschlingschlagfalle zu tappen, aber auch nicht an jeder offenen Türe vorbei - usw. usf. Sie lehren Geduld, denn anders als Menschen laufen ausgestopfte Tiere nicht davon, wenn man ihnen die Leviten liest. Anders als Menschen reden sie auch kein dummes Zeug, weshalb man sie auch oft als besten Freund bezeichnet. Gerne hätte ich dem toten Hasen noch die Kunst erklärt, sie sind Interessierte, auch hier von vielen Menschen unterschieden.


 


Dienstag, 16. Juli 2019


Vienna Calling #2



Im Mai ist Wien wie Venedig im Winter. Wirte weigern Wagnisse, wenig warmer Wind weht durch die weltberühmten Wege. Die Straßen folglich leer, keine Stühle rausgestellt, Menschen frösteln und schauen unverständig. Manche machen lieber Urlaub auf Ibiza.



Selbst die Buden vom Naschmarkt sind verbrettert. Eine Geisterstadt, die den Kragen hochgestellt hat. Stille im Gewürzland, ein Schrei verhallte wohl ungehört. Der Tag hält die Pappn, ich schaue unter Fußmatten, zähle die Schilder von Therapeuten und Militariageschäften.



Immer schön langsam ein- und ausatmen, die Tagesform in Ruhe austarieren, langsam machen und sogar noch etwas langsamer. Das Motto dieses Urlaubs wird "Meditation". Eine bedächtig gesetzte Schnitzljagd, kein Geschrei, Laufen in Herzfrequenz.


 


Montag, 15. Juli 2019


Vienna Calling #1



Bevor ich in München war, war ich ja in Wien. In Wien aber war ich ein wenig krank. Da ich aber schon so oft in Wien war und mich dort mittlerweile ein bißchen heimisch fühle, dachte ich, eigentlich auch schön, irgendwie in Wien fast derart zu Hause zu sein, daß man dort ruhig einfach mal krank sein kann. Also normal.



So war ich fast entspannt ein wenig krank, schaute abwechselnd kabelfern oder an die Decke. Ging zum Billa um die Ecke für ein paar Kleinigkeiten und regionales Obst, fühlte mich etwas gesünder, traf Freunde, sagte aber auch Verabredungen ab, legte mich wieder hin. Stand wieder auf. So wechselte das hin und her, wie das Wetter, das sich ebenso eis- wie scheinheilig unentschlossen zeigte.



Ungestört ein wenig vor sich hinleiden, zwischendurch aber auch munter - und immer weitermachen, heißt es dann in irgendwelchen Büchern. Die Straße runter zum Museumsquartier, dort ausruhen, Pläne überdenken, kurz mal schauen, ob die Orte noch da sind, die verwunschenen Stellen, geheime Plätze und die Kreidezeichen, die Jahr für Jahr dort hinterlasse.


 


Donnerstag, 13. September 2018


NYC #10 - Kamikaze

How could that happen?
How could that happen again?
Where the fuck was I looking
When all his horses came in?

(P. J. Harvey, "Kamikaze")




Was man manchmal braucht, wenn man meint, keine zehn Pferde brächten einen irgendwohin? Weil es nicht geht, weil man es nicht sieht, weil man sich nicht so fühlt? Na, jemanden, der mit elf Pferden zieht! Nach zwei Wochen im Strangeland sind meine Backen zwar nicht mehr ganz so aufgeblasen, ich insgesamt aber wieder ausbalanciert. Zeit, zum Abschluß mal unter die Teppichkanten zu schauen und die Wollmäuse der Stadt zu untersuchen.



Manhattan ist so das eine, aber ich nehme wohl mehr aus den anderen Stadtteilen mit. Auf dem Weg nach Dumbo an schmucken Brownstones vorbei kann man durch die Willowstreet, wo Truman Capote sein Frühstück bei Tiffany geschrieben hat. Auch er hat Manhattan von Brooklyn aus betrachtet - und diese Perspektive liegt mir gerade ebenfalls mehr. Der Flohmarkt unter Brooklyn Bridge ist tatsächlich ganz nett, Taliah Lempert bietet hier ihre Bicycle Paintings an. Ein kleiner Vogel, so viel Zutraulichkeit ist dann doch, bietet mir bei Tisch seine Freundschaft an, als ich mittags vor einem Mexikaner beim Bohnengericht sitze.



In einer anderen Ecke wird malocht. Zementfabriken, Schrottplätze, derangierte Hallen. Ein Kanal schillert in den trüben Regenbogenfarben von vielfältigen Industrieabwässern, ein Entenpaar, das sich die Innenstadt nicht leisten konnte, zieht hier seine klebrigen Kreise. Touristen sieht man hier nicht, nur müde Gesichter aus einem anderen Alltag. Kein Schnickschnack, bis dann am Straßenrand wieder die ersten Hipsterkaffeeröster auftauchen.



Irgendwo an einem Zaun hat jemand ein Batsignal rausgehängt. Ich habe mein Cape nicht dabei, bin ja quasi nackt im fremden Land, verstehe nun aber, warum die New Yorker berühmt sind für nie versiegende Hofffnung und ihr Durchhaltevermögen.



Mit der U-Bahn rattere ich weiter nach Williamsburg, was sich sicherlich entwickelt hat, aber so schrecklich durchgentrifiziert nun auch nicht daherkommt. Ein hochgejazztes häßliches Entlein, aber was weiß ich schon. Fahndungsplakate, Angebote für Schlagzeugstunden hängen an Metallpfosten, zerbeulte Autos am Straßenrand, Filmkulissen sind das nicht. Hier gibt es ein öffentliches Klo, das ich nicht empfehlen möchte. Geht einfach nicht rein, bewahrt euch den Glauben, die nie versiegende Hofffnung und euer Durchhaltevermögen.



Sollte die Show irgendwann doch nicht weitergehen, ist auch hier für alles gesorgt. Abends kommt hier sogar Leben in die Bude, ringsherum gehen Lichter an, werden Restaurants und Bars geöffnet und verrauchte Klamotten gelüftet. An einem Abend spielt hier Lee Ranaldo, aber da bin ich müde und vom Tag erschlagen.



Unten am Wasser wartet eine schöne Überraschung auf den Unvorbereiteten. "Brooklyn's sweet ruin" wird sie genannt, die alte Domino Zuckerraffinerie. Entwickler haben schon ihre Glasaufbauträume eingezeichnet, zuvor würde ich dort gerne noch als Kid Murnau einen Film drehen. Von einem Vampir, der mit einem Flugzeug über den Atlantik reist, um in New York eine Freundin zu besuchen, die eine Wohnung voller Musikinstrumente hat. Gibt es bestimmt noch nicht, und die alte heruntergekommene Fabrik wäre ein prima Schauplatz.



Abends, es ist immer noch unglaublich warm, versammeln sich Brautpaare, Touristen, Einheimische entspannt am Wasser, sitzen an den Brücken, warten auf den Sonnenuntergang und schauen hinüber. Auf die Skyline, die gezackte, totfotografierte New-York-Visage, die erst überstrahlt, bald als schwarze, später dann hell illuminierte Silhouette gegenüberliegt. Ich bin erschlagen, erschöpft, aber doch zufrieden und irgendwie stolz. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht?



Todesverachtend, mit sanfter Gewalt gezwungen, acht Meilen hoch über der Erde, dann aber auch Augen auf und viel zu Fuß erlaufen, krachend gegen eine Mauer gelaufen, aber Freunde gewonnen. Ach ja, und Twitter als Reisebegleiter war übrigens super.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Kamikaze


 


Dienstag, 4. September 2018


NYC #9 - Horses In My Dreams

Horses in my dreams
Like waves, like the sea
On the tracks of a train
Set myself free again

(P. J. Harvey, "Horses in My Dreams")




Menschen tauchen auf, Menschen tauchen unter. Manchmal soll man eben nur den Pferden trauen. Frei dem eigenen Treiben nachgehen. Ebbe und Flut. Vor ein paar Jahren habe ich wohlgemut und einer erkundenden Wissenschaft verpflichtet das Morbid Anatomy Museum unterstützt und auch das Buch von Joanna Ebenstein, einer der Gründerinnen. Kollegen dort vorbeigeschickt, wenn sie in der Nähe waren. Leider mußte das Museum als feststehendes Gebäude schließen. Dinge tauchen auf, Dinge tauchen unter. Und ploppen dann unvermutet just in diesen Wochen wieder auf als Pop-up-Museum auf dem Green Wood Cemetery in Brooklyn.



Als Hamburger ist man mit dem als ausufernde Parkanlage ausgemalten Ohlsdorfer Friedhof recht verwöhnt, aber der Green Wood hat ganz eigene Reize. Einen großen Stilmischmasch zum Beispiel. Von Freimaurerpyramiden über Katakomben bis hin zu der mit Ledersesseln im modernen Lounge-Stil gehaltenen Trauerhalle der italienischen Community (Sterben mit Stil) finden sich Grabstellen vieler Art. Dafür fehlen die in Europa so beliebten Engelfiguren, halbbedeckten Trauerdamen und kindlichen Grabkranzhalter.



So wie ich die Mermaid Parade auf dem Hinweg verpaßt habe, nicht aber die Mermaids, so verpasse ich die Gartenparty zum Abschluß der Sommerexkursion, nicht aber eine handvoll hitzegeplagter, schwarzgekleideter Vampirbräute und -schwestern. Denn immerhin schaffe ich es noch zu einem melancholischen Sommerwochenende, an dem man sich dort in flüsternder Runde Tarotkarten legen lassen konnte, in der im alten Torhaus aufgebauten Bibliothek (anything death) stöbern und Exponate und das akribisch nachgestaltete Modell bewundern, das in allen Details (bis hin zu den Toiletten) das alte Gebäude abbildet.



Leider habe ich meine Wasserflasche vergessen, was sich nach einigen Stunden bei fast 30 Grad bemerkbar macht. Ich esse einen letzten Apfel auf ein paar steinernen Stufen und rufe, so wie ihr es auch getan hättet, mir die die tröstenden Zeilen aus Wordsworths "Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey" ins Gedächtnis, die da sagen: "The mountain, and the deep and gloomy wood/Their colours and their forms, were then to me/An appetite". Oder ein Durst. Vielleicht, so denke ich naturverloren, kann ich hier auch übernachten, im kühlen Schatten eines der zahlreichen schmucken Letztzeitgebäude, und den ersten Tau lecken, der von Zedern fallen wird.



So poetisch kann man als frivoler junger - oder auch vertrockenter älterer - Mann auf Friedhöfen werden! Antennen recken ihre Spitzen in höhere Dimensionen, Obelisken empfangen Botschaften, ich kritzle obskure Zeichen in mein Notizbuch und überlege, während ich eine Silberkugel lutsche, wo auf dem Hinweg zuletzt ein Büdchen stand. Führt geweihtes Wasser mit euch, wenn ihr an Grüften und Katakomben entlangspaziert! Nun weiß ich auch, warum dieser Rat im Reiseführer aus dem Van-Helsing-Verlag stand.



Dämmerung setzt nämlich ein. Der Friedhof wird bald schließen, noch aber liegen einige gewundene Wege vor mir, die weder der nicht nach Norden ausgerichtete Faltplan noch mein mobiles Telekommunikationsgerät verlaufsfrei abbilden. Eine zeitlang sah ich in wechselweiter Nähe oder Ferne eine junge Frau mit Kamera herumstrolchen. Die ist nun weg, und auch sonst niemand mehr zu sehen. Die Sonne senkt sich. Viele der hier Begrabenen, so lese ich auf den Grabsteinen, sind Holländer. Venlo? Venlo? rufe ich leise, so wie früher, wenn man über die Grenze fuhr.



Wind zischelt durch die Zweige. Blätter rauschen, die Vögel sind längst schon still. Meine Zunge ist am Gaumen festgeklebt. Ich weiß aber, und das ist meine letzte Hoffnung, daß ich nur mein vollgeschwitztes Hemd in der hohlen Hand auswringen müßte für eine letzte Notration. Denn wo so viel Tod ist, möchte ich heute nicht sterben, nicht auf fremder Erde, Mama.



Im Delir wanke ich dem Ausgang zu. Hier gibt es Wasser. Junge Paare, die auf Wiesen sitzen und mich anstarren, wie eine Erscheinung. Wie einen Ghoul! einen Wermann! einen Zombie! Ich saufe eine Pferdetränke leer, dort, wo die schwarzen Kutschen schon im Halbdunkel auf mich warten.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Horses In My Dreams