Donnerstag, 1. Juni 2023
Die frühen 80er-Jahre waren so exzentrisch, dass selbst ich fast exzentrisch geworden wäre dabei. Blitze schrill, Frisuren schräg, und alles elektrisch nervös. Um das alles auch durchdenken zu können, gab es in Hamburg die Buch Handlung Welt, die ich aber nicht kannte, weil ich da ja noch woanders wohnte. Hilka Nordhausens Laden in der Marktstraße aber war wohl Treffpunkt für Dichter & Denker (so flüstern mir Hamburger, die davon noch gehört haben). Da sich das jetzt zum 40. Mal jährt, gab es im April und Mai Rundgänge und Visitationen, Lesungen, Zusammensitzungen und eine Ausstellung.
Im Kunsthaus Hamburg konnte man das alles noch einmal nacherleben. Bis Ende Mai wurde hier die Ausstellung Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum gezeigt, eine wilde Wiese aus Gemälden, Fotos, Videos, Zeug und zahlreichen Zeitungsausschnitten, Briefen und Dokumenten. Der Versuch einer Rekonstruktion. Mich interessierte vor allem Tabea Blumenschein, denn die war damals auch in meinen 80ern präsent. Zunächst in den Filmen von Ulrike Ottinger, die mit ihr avantgardistische Werke wie Madame X, Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse und vor allem Bildnis einer Trinkerin machte und die damals sogar ab und an versteckt im Fernsehen liefen oder regelmäßig in den Programmkinos der Stadt. Blumenschein malte, schneiderte, besorgte die Bühne und war dann einige Jahre und anders als ich Mitglied der Kunstkapelle Die tödliche Doris.
Ein Berliner Leben zwischen Schrill und Schrull, Hochglanz und Obdachlosenheim, Theater, Kunst und Klanggewirke. Toll, leider auch schon tot. Blumenschein starb 2020. (Hilka Nordhausen und Performancekünstler:in Rabe perplexum bereits 1993 bzw. 1996.) Schön bunt und eindrucksvoll, man muss dem Kunsthaus danken.
"Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum". Kunsthaus Hamburg, 25.3. bis 21.5.2023
Samstag, 20. Mai 2023
Andrey Klassen, "Ich wäre gerne bei deiner Premiere dabeigewesen".
Ich bin ja begriffstutzig. Also, ich brauche meine Zeit, so heißt das wohl. Vor Jahren stand ich mal begeistert in Düsseldorf vor einer Eckkneipe, die hieß "Jupp + Pitter", und freute mich sehr über die sehr rheinischen Namen. Wenn man ewig und lange in Hamburg lebt, geraten ja sowohl "Jupp" als auch "Pitter" aus dem gebrauchsfertigen Alltag. Nun war das aber gar nicht der Witz, denn die Kneipe lag im sogenannten Planetenviertel und bezog sich augenzwinkernd auf den großen Gasriesen in unserem Sonnensystem. Da ist meine Gedankenrakete aber sprotzelnd ins Stocken geraten. Vielleicht liegt es auch an der hohen Rotationsgeschwindgkeit des Jupiter, das ich da nicht ganz mitkomme. Als das Karstadt-Sportkaufhaus in der Hamburger Innenstadt den Geschäftsbetrieb aufgab, wurde das Gebäude als "Artstadt" mit Kunst und Kultur weitergeführt. Ein Name, der den gut eingeführten ursprünglichen mitschwingen ließ, keine schlechte Idee. Nun heißt es seit 2023 "Jupiter", was ich zunächst galaktisch, aber auch wahllos hielt. Bis ich, eine Geschichte von der Banalität des Alltags, heute davorstand, hinblickte und herblickte und dann, es ist wirklich keine besondere Pointe, mehrere Groschen fallen hörte, denn gegenüber vom Jupiter befindet sich das große Elektronikkaufhaus "Saturn". Ich erzähle das auch nur, damit ihr das "Jupiter" findet, nicht etwa der Unterhaltung wegen. Also Richtung "Saturn", wie auf der Sternenkarte, aber dann gegenüber.
Die Etagen werden ganz unterschiedlich bespielt, da gibt es Cargo-Kunst und Treibholzmalereien, Rostskulpturen und allerlei Hafenmalerei, eine Etage zum Rollschuhlaufen am Wochenende, eine Rooftop-Bar, Gaming und Workshops und natürlich Kunst. Derzeit zeigen Hamburger Galerien ausgewählte Künstler in der ersten Etage. Auch Feinkunst Krüger ist vertreten und zeigt teils großformatige Tuschemalereien von Andrey Klassen. Versponnene Welten, mit popkulturellen Zitaten und allerlei Fabelwesen bestückt, mit nur angedeuteten Geschichten zwischen losem Amüsement und unterschwellig Verstörendem. Noch bis zum 31. Mai.
>>> Jupiter
Sonntag, 14. Mai 2023
Experimentierfreudige viktorianische Dame mit ihrem Drachen bei einem Gewitter
Der Versuch, Blitze mit Hilfe von Flug- und Lenkdrachen einzufangen und ihre elektrische Natur zu bestimmen, geht auf Benjamin Franklins berühmten Vorschlag eines „Drachenexperiments“ zurück. 1752 führte der Franzose Thomas-François Dalibard auf einem Feld im nordfranzösischen Marly-la-Ville einen solchen Versuch mit Hilfe von metallischen Stäben durch. Bei einem ähnlichen Versuch wurde der deutsche Physiker Georg Wilhelm Richmann 1753 in St. Petersburg von einem Blitz erschlagen. Wir lernen daraus: Bitte nicht nachmachen!
Viktorianische Damen bei verschiedenen Blitzabenteuern. Neben Drachen waren auch feste Stangen genügender Länge sehr populär
Diese Warnung kümmerte allerdings nicht die generell allerlei Exzentrizitäten gegenüber aufgeschlossenen Viktorianer im 19. Jahrhundert. Es war die Zeit, als Elektrizität fassbar wurde und in den großen Städten nach und nach das Licht in die Häuser brachte. In dieser an Eigentümlichkeiten nicht armen Zeit entstand so ein weiteres eigentümliches Hobby. Insbesondere die vom Alltagsleben gelangweilten Damen des aufstrebendes Bürgertums waren fasziniert davon, heimlich (oder auch ganz offen) im eigenen Garten oder großen Parks „einen Drachen steigen zu lassen“ (wie es verschwörerisch hieß und später auch in anderen restriktiven Systemen wie der DDR als Begriff geläufig wurde), angetrieben meist von dem Wunsch, ein gewisses „Kribbeln“ zu spüren, von dem allseits, aber stets unter der Hand berichtet wurde.
Manches unglückliche Fräulein auf freiem Feld wurde auch direkt vom Blitz getroffen
Insbesondere in gewittrigen Nächten schlichen sich hoch- aber zugleich aufgeschlossene Frauen aus dem meist gutbürgerlichen Haus, den Drachen und eine lange aufgewickelte Schnur unter dem Arm oder in einer großen Tasche verborgen und versuchten, aus dunklen Wolken heraus, einen leuchtenden Blitz auf ihren Drachen herab- und über die vom Regen feuchte Halteschnur in dann ungefährlichem Maße auf sich hinunte zu lenken. Manch eine Dame allerdings bezahlte das kribbelnde Vergnügen mit dem Leben. Auf den Hügeln und freien Feldern sanken immer wieder welche von ihnen vom Blitz getroffen zu Boden, manche erschöpft, weil ihnen das Prickeln zu stark wurde, andere schlicht erschlagen, wiederum andere standen in hellen Flammen, Drachen und Leine lange noch in der Hand, und starben eines jämmerlichen Todes.
Das ungewöhnliche Hobby ist bis heute gefährlich. Einige Damen fingen regelrecht Flammen
Bald kam es zum Verbot dieses außergewöhnlichen Hobbys, was interessierte Männer aber nicht daran hinderte, die Idee weiterzudenken und etwa mit Hilfe von elektrischen Leinen, Fische in Teichen und Seen zu angeln.
Donnerstag, 4. Mai 2023
Der Illustrator Lars Henkel ist mir mit seinen Arbeiten ein bisschen ans Herz gewachsen. Oft dunkel-melancholisch, ruhig erzählend und mit vielen schattigen Ecken für Geheimnisse, allesamt von einer Stimmung getränkt, die an zwar sonnengewärmte, aber staubige Dachkammern erinnert, in den Schätze und Erinnerungen gehortet sind. Angelehnt an Geschichten von Bruno Schulz (oder auch Robert Walser) und der ganz eigenen visuellen Atmosphäre der Brüder Quay fließen hier kleine Erzählungen und einzelne Bilder ineinander. Eine Art Institut Benjamenta, aus dem nach und nach einzelne Projekte und Illustrationen entlassen werden. So etwas wie Staub dürfte sich auch gerne in dickeren Schichten über einen legen, als Graphic Novel vielleicht. (Er arbeitet schon seit einigen Jahren an seinem Buchprojekt Tunguska.)
Henkel lebt in Berlin, illustrierte unter anderem Projekte von Meret Becker (hier ein Trailer für "Nachtmahr"), Buch- und Plattencover und hat zwei wunderbare kleine Portfolio-Bücher in seinem Shop. Eines ist auf 999 Exemplare limitiert, meins trägt die Nummer 802, es wird also langsam knapp. Grab them while you can.
>>> Lars Henkels Webseite
Samstag, 29. April 2023
(Geist IV aus der Reihe: "Spiritistische Bilder". Kohle, Papier, Digital.
Ca. 22x30 cm, 1000,- Mark)
Frühlingsbeseelt hat unten auf dem Kanal der Bootsverkehr wieder eingesetzt, auch wenn die Wasserwege zum Teil für eine Zeit gesperrt waren. Ein Großbrand in der Nähe spülte Löschwasser, Öle und andere Chemikalien in die Gewässer. Sieh die Welt schillern und glitzern, Finger recken aus wüstem Müll.
Tote Fische allerdings trieben nicht vorbei, doch nutzte ich die rauchig aufgeladene Atmosphäre, durch eine vorsichtig und gleichmäßig verrußte Scheibe Geistererscheinungen aus dem Äther auf Papier zu bannen. Ein komplizierter und fragiler Prozess, zu dem es absolute Ruhe und entspannte Konzentration braucht.
Ich werde von Interessierten oft gefragt, wie man diese Erscheinungen anlocken kann aus ihrer zwischenweltlichen Dimension. Nun bin ich ein sachlicher Mensch mit unverrückbarem Glauben an Technik und Erfindung. Hier ist also kein Hokuspokus im Spiel, sondern ein sog. "Ätherdetektor", den ich zu diesem Zweck erfunden habe. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, ist das Prinzip wie folgt kurz erklärt (Passt aber auf, es könnte im Abitur vorkommen): Mit Hilfe einer Kurbel wird eine Trommel aus Metallstäben, in der sich drei keramische Ionisatorkugeln befinden, in Bewegung gesetzt. Ab einer bestimmten Schwingungfrequenz werden nun bestimmte Strahlungen aus dem Äther erregt, geraten mit der Maschine in Resonanz und laden die Kugeln. Da aber die Trommel zugleich einen Faraday'schen Käfig (das ist Physik) bildet, sind die Strahlen "gefangen" und beginnen alsbald (man muss immer weiterkurbeln) über der Maschine zu wabern und ein flackerndes Bild (meist das einer Person) zu erzeugen.
Nicht komplizierter als eine Scheibe Toast zu bräunen, sage ich immer. Vorausgesetzt, man hat die richtige Maschine dafür.
Samstag, 22. April 2023
"It's alive!" Der Geruch, der Geschmack von Elektrizität in der Luft einer lauen Nacht hängt in der Stadt, sicher auch hochtransformiert vom anstehenden Fußball-Derby, aber erstmal raus, raus, raus. Die lahmgelegten Jahre der Pandemie kurzerhand für beendet erklärt, aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen, aber es ist Autopilot is for Lovers aus Portland, Oregon, die als Support von The Builders and the Butchers derzeit auf kleiner Deutschland-Tour sind. (Eure Stadt ist auch dabei.)
Adrienne (mit drei weiteren Musikern als Band unterwegs) fiel mir vor einiger Zeit auf Instragram auf, weil sie da charmante Split-Screen-Videos zeigt, in denen sie selbst alle Instrumente spielt. Das alles sehr geerdet, auch selbstironisch, ohne Gehabe und große Kompliziertheit. So kann man auch mir eine Slide-Gitarre unterjubeln, und das heißt schon ein bißchen was.
Schöne Stimmung im freundlichen Nochtspeicher, das gut gefüllt war mit entspannten Menschen (selten so viele Gespräche auf Konzertabenden geführt), selbst auf dem Klo war jemand so freundlich, mir den geheimen Sensor vom Seifenspender zu erklären (hermetisches Wissen!) - sage noch mal einer, auf dem Herrenklo würden keine Gespräche geführt. Wahrscheinlich waren alle entzückt, daß so ein älterer Herr wie ich aus dem Leuchtturm herabsteigt und sich auf Konzerte begibt. Als Vorband hatten Autopilot is for Lovers nicht alle Zeit der Welt, sie hämmerten ihre Stücke (u.a. "Elephant") aber konzentriert, handwerklich einwandfrei und mit unaufgeregtem Arbeitsethos von der Bühne. (Für drei Stücke kehrt Adrienne bei The Builders and the Butchers auf die Bühne zurück, also nicht zu früh gehen!).
Mit der Warnung im Rücken, wer da gerade das Stadt-Derby für sich entschieden hatte, erstmal ein paar S-Bahnen voller "Derbysieger! Derbysieger!" durchgelassen, einem etwas betüddelten, aber zahmen HSV-Fan auf seine Frage "Nur der...?" "Rock'n'Roll?" geantwortet, dann noch ganz freundlich Ghetto-Faust ausgetauscht, als wäre ich gerade auf Abi-Exkursion. Es geht doch, wenn man sich zusammenreißt. Reißt euch zusammen!
>>> Geräusch des Tages: Autopilot Is For Lovers, Elephant
Sonntag, 16. April 2023
Tief eingegraben in Arbeit stecke ich seit einiger Zeit im Heimbüro fest, wälze Tabellen und Messberichte, technische Unterlagen und übe mich in einer Lingo, die nicht ganz die meine ist. Zur Begleitung zwitschern mir Vögel was ins Ohr, manches verlockend, manches auch gar nicht mal so sehr. Immer wieder erwische ich sie dabei, wie sie Lesezeichen, Notizzettel und ganze Seiten aus meinen Manuskripten zupfen, um damit Nester zu bauen. Frühling, diese lästige Jahreszeit zwischen triebhafter Aufgeregtheit und unentschlossenem Wetterverhalten.
Man soll auf Internetversprechen nichts geben, also auf Texttafeln wie "Hier entsteht eine Webpräsenz" oder "Ich blogge bald öfter"; das sind Ankündigungen, denen selten Taten folgen. Das hat man in der Regel rechtzeitig im Leben gelernt, etwa wenn es heißt "Bald gehen wir gemeinsam in den Zoo" oder "Mit dir gehe ich mal tanzen" oder "Laß uns einen Kaffee trinken". Ich werde also einfach heimlich öfter was in das Blog schreiben und am Ende alle überraschen.
Vielleicht eine Geschichte über Erik Sanko, der gemeinsam mit seiner Partnerin in Manhattan lebt. "Imagine the laboratory of a Victorian-age mad genius, and you’d probably come up with something like the Tribeca apartment of impish polymath Erik Sanko. An emporium of wonders, the place is jam-packed with creaky cabinets, bones, skulls, taxidermy (watchful birds, wild pigs, a small kangaroo), anatomical models, and—hanging everywhere from delicate strings—some of the creepiest marionettes you’ll ever encounter", schrieb die Village Voice, wo ich zunächst nicht sicher war, ob sie nicht meine Wohnung hier im Leuchtturm meinten. Bilder gibt es auch hier bei The Selby.
Erik Sanko hat mal ein Lied gemacht mit dem Titel "The Beekeeper's Daughter", ein Begriff, von dem ich sicher war, dass ich ihn selbst mir mal ausgedacht hatte. Aber wie das heutzutage nicht eben selten ist: Man liegt in unruhigem Schlaf in einer 90-Zentimeter-breiten Koje, und durchs Fenster klettern vermummte Gestalten mit merkwürdigen Instrumenten herein, die mit langen, verknöcherten Fingern einem die Ideen mühsam aus dem Kopf herausprokeln, nur um sie auf dem schwarzen Markt zu verhökern.
Aber ich schreibe das alles auf!
>>> Geräusch des Tages: Erik Sanko, The Beekeeper's Daughter