Donnerstag, 13. Juli 2023
Als ich im *hust* letzten Jahrhundert begann, mich intensiver mit Fotografie zu beschäftigen, war einer meiner großen Vorbilder der US-Amerikaner Ralph Gibson [Webseite]. Seine formal strenge, zugleich poetische, teils surreale Bildsprache, oft in überraschenden Juxtapositionen oder traum-logischen Fragmenten und Ausrissen, erschien mir ein reizvolles Spannungsfeld für eigene Experimente. Außerdem stammte das berühmte Innencover von Joy Divisions Album Unknown Pleasures von ihm.
In den 90er-Jahren ging sein Stern in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas unter, das waren grelle, schrille Zeiten vollgestopft mit cross-geposteter Farbknallfotografie, flashigem Aufhellgeblitze und wilder Partyekstase. Es schließ sich aber alles in Zirkeln, und so ist es schön, dass die Hamburger Deichtorhallen eine mittelgroße Retrospektive wenn auch etwas versteckt im hinteren Bereich der Halle für moderne Kunst zeigen.
Es gibt also einen Querschnitt durch die berühmten Zyklen (bei Gibson als Fotobücher - wir reden über eine Zeit, als das Fotobuch gleich einer größeren musikalischen Komposition, etwa einer Symphonie, mit einer gewissen Gravitas daherkamen. Weil auch: teuer in der Produktion und im Preis). Darunter die berühmte "schwarze" Trilogie The Somnambulist, Déja-vu und Days at Sea, eng beschnittene, zugespitzte, nie zufällige, teils aber konstruierte "Postkarten" unbestimmter Traumreisen und Straßenfunde. Gibson (ein Schüler Dorothea Langes und Robert Franks) ist da heute noch vorbildlich. Wer den bekannten Spruch "Ist das Foto schlecht, warst du nicht nahe genug dran" nicht glaubt, kann in seinem Werk studieren, wie banalste Alltagsgegenstände in hart konstrastierende Licht- und Schattenfelder platziert plötzlich die interessantesten Geschichten erzählen. Das gilt auch für seine Akte, von denen viele zeitlos, einige wenige vielleicht doch ein bisschen geschmäcklerisch sind.
Die Präsentation der Bilder schwankt zwischen erzählerischen Reihungen, "St. Petersburg" hin zu Kachelung. Bei letzterer Anordnung tanzen zwei aus der Reihe. Das ist so gewollt, denn bei allem, was ich oben erzählte, fehlt eins: der Bruch, der Spalt, durch den bekanntlich (Cohen) das Licht fällt. Die Tür, von der man nicht weiß, ob sie sich öffnet oder schließt.
>>> "Ralph Gibson - Secret of Light". Hamburg Deichtorhallen. Noch bis zum 20. August 2023.
Montag, 10. Juli 2023
Künstliche Intelligenz und Generatoren für dieses und jenes sind derzeit in aller Munde und derart generierte Bilder auch überall im Netz und in den sozialen Netzwerken zu sehen (ich bin da noch skeptisch: Ist das noch real?). Jetzt habe ich mich aber doch einmal eine Stunde hingesetzt und mit einer Maschine beschäftigt, die Filme auf künstliche Weise herstellt. Das war insofern passend, als es in meinem Beispiel darum geht, wie ein Wissenschaftler künstliches Leben erzeugt. Das kann man nun metaclever finden, dieses Thema auch durch eine künstliche Instanz usw.
Nun bin ich durch Forschungsausgaben und Schicksal nicht begütert genug für sogenannte professionelle Zugänge und muss mich mit Gratis-Accounts begnügen. Aber das etwas hingeschlunzte Ergebnis zeigt doch, was in zwei, drei Jahren vielleicht schon auf der Kinoleinwand (oder jedenfalls auf dem Big-Flatscreen) zu sehen sein wird. Der "Trailer" zum fiktiven Kinoereignis The Lighthouse of Darkness zeigt eine mitreißende Geschichte, die an meine eigene Biografie angelehnt ist. Kinotauglich leicht überhöht, aber im Grunde stimmt das schon so. Mein Leben ist jetzt nichts, über das ich groß nachdenke, aber den Film würde ich mir anschauen!
Die Maschine, die ich dazu benutzt habe, erzeugt (sehr) kurze Filmsequenzen, die ich in einem Videoschnittprogramm zusammenmontiert und mit zusammengeklimperter, käsiger Musik und ein paar Sounds unterlegt habe. Bei den Titeln merkt man, wo ich geschludert habe. Da gibt es sicher besser geeignete Schrifttypen und bessere Entscheidungen über weitere Stilfragen, Schreibweisen, Animationen und Effekte.
Grundsätzlich sehe ich da aber bereits einen Markt. Ich verfilme ihr Leben! Kinoreife Biografien mit einem Fingerschnippen erstellt! Sicher hat nicht jeder so interessant gelebt wie ich, aber das kann man durch Übertreibung und Fiktion leicht aufpeppen. Das erste Auto kleiner, der letzte SUV viel größer als im wahren Leben. Die Kinder schlauer, das Haus mit Pool und Garten. Dazwischen: Mantel-und-Degen-Abenteuer, Verfolgungsjagden, Femme fatales und wilde Piraten, aufreibende Boxkämpfe und waghalsige Rettungstaten! Jedermann sein eigener Walter Mitty! (Frauen natürlich auch.)
Die Zukunft ist eine Lüge, aber das war die Erinnerung ja auch schon.
Freitag, 7. Juli 2023
Heute ist der 7. Juli 2023 und damit der Tag, an dem sich erste herbstliche Klänge in den Sommer mischen. Eingeweihte werden sich gegenseitig verschwörerisch einen kleinen trockenen Zweig zeigen. Viel mehr ist nicht zu sagen. Das hat damit zu tun, dass heute nach einer Pause von sieben Jahren PJ Harvey neues und zehntes Album I Inside The Old Year Dying erscheint. Auf dem Cover ist ein solcher Zweig abgebildet, und die ersten 50 Käufer erhalten einen von Polly Jean selbst aus den Wäldern gesammeltes Exemplar als Dreingabe dazu. Gut, das habe ich mir jetzt ausgedacht. Dies aber geübt, denn in meinem Leben gilt, wenn es schöne Geschichten geben soll, muss ich sie schon selbst erfinden.
Ich besitze also diesen Zweig, nicht aber Ms Harveys Album, da ich heute den Weg zum Schallplattenfachverkäufer meines Vertrauens nicht gefunden habe. (Das Wetter zeigt noch so gar nichts von der erwarteten Vorherbstlichkeit.) Die Firma Youtube half mir aber derweil aus der Patsche und bietet einige Stücke zum Vorhören an, etwas den zum knorrigen Baum anwachsenden leisen Kracher A Noiseless Noise. Die Texte greifen nach ihrem Gedichtepos Orlam (2022) erneut den Dialekt ihrer Heimat Dorset auf, sind also nicht immer gleich auf Anhieb zu knacken. Aber das macht nichts. Ähnlich wie beim (etwas unterschätzten) Klassiker White Chalk, hören wir ein introspektives, zurückgenommenes Album mit beinahe zärtlichen Naturbeobachtungen oder Meleotronechoes unbestimmter Klänge und Klagen. Das wird wieder die irritieren, die ihre Rezensionen mit "in den 90ern war die mal ein Rrrriot-Grrrl" beginnen und lautstark geschwenkte Fahnen und klare Bekenntnisse erwarten. This artist, freilich, has lange left the building. Zum Glück. Wer heute Antworten hat, kann nicht ganz klar sein.
>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, Lwonesome Tonight (Einzige Reminiszenz an Elvis, das war ein bekannter Sänger in den USA, die ich gelten lasse.)
Freitag, 30. Juni 2023
Wenn ich abends im oberen Zimmer des Leuchtturm sitze, vielleicht entspannt das Besteck mit Wiener Kalk poliere, während draußen leichter Regen auf das nur grob umbördelte Zinkdach tropft... kurz, also wenn es gemütlich wird, entlasse ich einen Gedanken in die Nacht, der dort sofort in einer Wolke von Hunderten von Fledermäusen explodiert, die hochfrequente Botschaften in die Welt hinaustragen. Wiiiii wiiiii, schwirrt es durch die Luft, aber ihr könnt das natürlich nicht hören, weil eure diskothekenverstumpften Ohren die hohen Töne nicht erkennen können. Und vielleicht ist das auch gut so.
Bleiben wir bei den Tieren. Wer sich für tiere interessiert und vielleicht auch obendrein noch für Fotografie, kann eine Entdeckung machen. Die Seite Muybridges Horses (eine Anspielung natürlich auf Eadweard Muybridge und seine frühen Aufnahmen von bewegten Körpern, darunter auch die von Pferden) ist eine von der Fotokünstlerin Emma Kisiel wundervoll kuratierte Sammlung von Fotograf:innen, die sich aus allen Perspektiven unseren nahen Verwandten genähert haben. Von A bis Z geordnet verbergen sich hinter den Links überraschende und oft berührende Fotografien (und gelegentlich Malerei), die weit über das hinausgehen, was man gewöhnlich an reinen Ablichtungen sieht. Und ja, es handelt sich um künstlerische Fotografie, und ja, manche dieser Tiere sind auch tot. Selten aber drastisch inszeniert, erwartet also keine Schlachthofszenen, eher behutsam oder auch nur nüchtern, manchmal anklagend, manchmal würdigend wie etwa bei den Sammlungen von Tierpräparaten in Museen. Meist aber stehen die Tiere rum, hängen in der Luft, erkunden die Zwischenräume zwischen Stadt- und Naturlandschaft, schauen nachdenklich oder einfach nur hungrig oder auch müde.
Seit Januar 2023 wird die seit 2009 gepflegte Seite leider nicht mehr erweitert. Aber auch so ist der Katalog beachtlich - wie ein Museumsbesuch, den man nicht an einem Tag schafft.
Im Morgengrauen haben sich die Fledermäuse in schwarze Amseln verwandelt, die lautstark und in hörbaren Frequenzen dann vom Tag singen. Bis ich sie erstmal wieder zu einem unwirschen Gedankenball zusammengeknüllt habe.
>>> Webseite Muybridge Horses
Sonntag, 25. Juni 2023
Aufnahme aus der Sammlung des naturkundlichen Museums. Wohl nicht für wissenschafltiche, sondern für werbliche Zwecke gedacht - man achte auf die "neckische" Positionierung des Käferbeins über den Rand des Passepartouts
Im Zeitalter des Viktorianismus, wir sprechen also über das 19. Jahrhundert, hatten die meisten ein exzentrisches Hobby für wenn sie um fünf von der Arbeit nach Hause kamen und sich ein wenig im Salon die Zeit vertreiben wollen. Es war die Zeit des Kolonialismus, dem Drang, die Welt neu zu kartieren und zu unterwerfen. Eine Zeit der technischen Entwicklungen, aber auch Entdeckungen in Natur und Medizin, Kunst und Psyche, die ganz Europa unter Dampf setzte. Vieles ist heute wieder halb oder ganz vergessen, aber eifrige Flohmarktgänger oder Dachbodenstöberer wie ich, können in staubigen Kisten immer wieder einmal ein obskures Erinnerungstück finden. So wie dieses Fotoalbum mit größtenteils vergilbten und beschädigten Aufnahmen "von früher" (Auskunft des Verkäufers).
Der Leiter der naturkundlichen Abteilung Wilhelm Wilhelm von Ehrendorff mit einem Pflanzenpräparat
Ein zu seiner Zeit bekannter Naturforscher war Wilhelm Wilhelm von Ehrendorff (einmal benannt nach seinem Großvater und einmal nach dem deutschen Kaiser, seine Enkel nannten ihn später humorig "WilhelmZwo"), der Ende des 19. Jahrunderts im Fuhlrott-Museum in Wuppertal eine naturkundliche und insbesondere entomologische Abteilung betreute und Exponate aus aller Welt zusammensammelte. Dabei machte er auch selbst Entdeckungen im Bereich Taxonomie der Insektenkunde, ihm zu Ehren wurde der oben abgebildete Brasilianische Glattkäfer lateinisch Borrus Ehrendorffus benannt.
Brasilianischer Glattkäfer (Borrus Ehrendorffus), eines der Glanzstücke des Museums. (Beschädigtes Exemplar o. Kopf)
Mit einem Stab von Mitarbeitern führte er die naturkundliche Abteilung um die Jahrhundertwende zu einigem Ruhm (heute ist das Museum leider von der Stadt Wuppertal zerstört) und hinterließ eine beachtliche Sammlung an aufwendig präparierten und extrem seltenen Schaustücken.
August Angström, aus Schweden stammender ehemaliger Lehrer, der als Präparator am Museum arbeitete neben einem unbekannten, im Krieg verschollenen Ausstellungstück
Dr. Egbert von Bratzenheim mit einem sogenannten Riesenkäfer (Brachialus maximus)
Dr. Nikolas Markwerth, Entdecker der westafrikanischen Riesenkohlfliege (Mus Cauli deforma)
Der pädagogische Leiter Dr. Fritz Beckern-Beckenburg neben einigen Schaupräparaten für "die Erbauung der Jugend"
Der seltene Ringelmoll, eines der wenigen - und heute ebenfalls verschollenen - Präparate des nachtaktiven Fraßwurms (entfernt mit den Schnecken verwandt)
So weit so gut, die Geschichte kennt in Wuppertal sicherlich jedes Schulkind. Nun wäre das 19. Jahrhundert nicht das exzentrische Jahrhundert, wenn es aus dieser Zeit nicht, wie man damals sagte, einen kleinen Schmunzler zu berichten gäbe. So groß war nämlich das Interesse an Forschung und Wissenschaft, sicherlich aber auch an Exotik und "Glamuhr" (damalige Schreibweise im Bergischen), dass sich nicht an und für sich brave Damen des aufgeschlossenen Bürgertums bereit erklärten, für einen kleinen Spendenkalender und Festgabe zur Weihnachtszeit mit ausgewählten Präparaten des Museums Porträt zu sitzen:
Namentlich nicht erwähnte Damen aus dem Bürgertum, die mit einem Kalender Spendengelder für das Museum einwerben wollten
Lose beigelegt war dem Album ein Foto aus dieser Reihe, das es mit einiger Sicherheit nicht in den Kalender geschafft haben dürfte. Es ist selbst für vikorianische Verhältnisse, insbesondere aber die im protestantisch geprägten Wuppertal, auffällig obskur.
Unbekannte mit einem nicht identifizierbaren Präparat. Möglicherweise ein Elefantenrüssel unklarer Herkunft.
Dienstag, 20. Juni 2023
Drinnen wie draußen ist es bereits wieder ungemütlich warm, die Stadt ein feindlicher Ort, man möchte woanders sitzen, gut durchlüftet und einen Kaffee vor sich. Das letzte Mal, dass ich in einer fremden Stadt im Urlaub gemütlich irgendwo auf einem Balkon saß und einen Kaffee trank ist schon Jahre her, ich weiß gar nicht mehr genau wo das war, auf der Rückseite vom Foto steht nichts.
Im Jahr darauf sollte ich im Juni, also Mitten im Sommer, eine neue Stelle antreten, dann aber hörte ich nie wieder etwas von denen, ich denke mal, das hat sich erledigt, das war 2020. Dann war auch schon Corona und Lockdown und Reisebeschränkungen, und dann war Krieg. Ich wurde darüber ein wenig müde, zunächst im Kopf, jetzt schon im Fußbereich und schon kann man sich kaum daran erinnern, was dieses Konzept "Urlaub" eigentlich ist.
Einmal war ich Schlösser besichtigen. Drinnen war es kühl, das war angenehm, und zugleich war draußen nicht viel los. Man wandert dann so rum über knarrende Parkettböden, nickt mit dem Kopf, sagt "Hm hm", stellt sich Fragen (innerlich) wie "Wo hatten die wohl früher ihren Fernseher stehen?" und tritt mit einem guten Gefühl (innerlich) zurück in die gleißende Sonne (äußerlich), weil man etwas gelernt hat. An der Loire (das ist französische Mosel) kann man mit dem Rad am Flußfernradwanderweg entlangfahren und alle 30 bis 40 Kilometer ein Schloss besichtigen, denn Frankreich hat ganz viele. Das fände ich gut, zum Abkühlen in ein Schlossgewölbe, dabei etwas lernen (welcher Ludwig hier wann "schmachten" musste etwa) und abends Erbsen mit Pürree (in Frankreich sicher mit ganz vielen komplizierten Akzentzeichen auf den "e"s) oder was man da halt so isst. Und am nächsten Tag weitere launige 30 bis Kilometer am Fluss entlang. Das klingt doch wunderbar und gut durchlüftend.
Aber dann muss man da ja erst einmal hin! Wenn man auf der Landkarte schaut, führt der Weg nach links unten erst einmal durch Problematika, einer kleinen Provinz am Rande von Dabrauchtmanbestimmteinautofür und gleich neben Wennduhierdenzugverpasst. Dann muss ja noch meine Staffelei und das Stativ für die Großbildkamera aufs Rad, dazu das Spulentonband für das Field Recording und was man halt so braucht zur Dokumentation der Reise. Bestimmungsbücher! Ganz viele Bestimmungsbücher. Was fliegt denn da? und Was blüht denn da? und Welche Blase ist das hier am Fuß? und dann das alles auf Französisch, weil das spricht man dann da (Wörterbuch nicht vergessen!). Das ist, einmal zusammengerechnet, ganz schön viel.
Früher als junger Mensch war das einfach: Wechselunterwäsche, ein zweites T-Shirt, ein sauberes Taschentuch, Brustbeutel, Interrail-Pass und ab... Unterwegs was geliehen, was Altes und was Blaues, dem Salzgeruch in der Nase nach bis zum Strand, und so war es, und es war gut. Im Alter macht man komplizierte Explosionszeichungen, wo alle Zahnräder exakt ineinandergreifen müssen, denn sonst drohen Tod, Demütigung oder nicht reservierte Essenszeiten. Ein Drama auf kleinsten Bühnen!
Donnerstag, 15. Juni 2023
Neulich, ich kam gerade vom Twerken, musste ich so dieses und jenes im Kopf herumrollen lassen wie eine Eisenkugel (hier ein bedeutsames Video). In jedem Eisen steckt eine Botschaft, so die Botschaft, und die gilt es zu erzählen. Man sieht, im Twin Peaks-Universum bin ich die Log Lady, nur halt ohne Holzscheit.
In meinem nur leicht melancholischem Debütroman Ich zahlte und ging herrschte eine ähnliche Stimmung. Dabei knirschten von Nächten ohne Beißschiene abgemalmte Zähne, waren Nagelhäute aufgerissen und Pläne schlecht durchdacht. So musste ich diese Woche erkennen, dass mein Smartphone, kaum sechs Jahre alt und bis auf den abgewetzten Großbuchstaben des Herstellernamens tiptop, technisch dieses und jenes nicht beherrscht. Für ein Sondenexperiment im Biopharmalabor würde ich aber gerne einen RFID-Chip ansteuern, und daran denkt man ja vorher auch nicht.
Jetzt muss also das gute Stück, kaum ins schulpflichtige Alter gekommen, ausgemustert werden und das hat mit Nachhaltigkeit natürlich gar nichts zu tun. Andererseits sind die Drumherumgewirklösungen auch nicht befriedigend, und dann dachte ich gedanklich, nimm es als Botschaft aus dem Orakel-Tempel "Augen zu und durch" (im Original auf Latein) und geh' den nächsten Schritt! Im Elektronikgroßfachmarkt (Glücksplanet Jupiter leuchtete mir von hinten) dann mit anderen grauhaarigen, kritisch murmelnden Herren Telefone beguckt, kurz überlegt, Himmel oder Hölle?, dann bei der Marke des Vorgängers geblieben und ein Angebot gewählt. Zackzack. Um einen Berater zu erwischen, darf man allerdings nicht höflich sein. Im Gegenteil: Man muss ihn bedrängen, von hinten in den Schwitzkasten nehmen, nicht erst mal seine Arbeit vollenden lassen, selbst, wenn er bis zu den Schultern mit dem Kopf in seinem Containerschrank steckt. So jedenfalls machen das die anderen, bereits gut geübten Kunden, die folglich alle vor mir drankamen, auch wenn sie erst später auf diesem blutig gepflügten Schlachtfeld des Warenkonsums gestrandet waren.
Irgendwann zwinkerten wir uns aber zu, er im zerrissenen blauen Hemd mit heruntergefetzten Ärmeln, ich ein wenig wacklig vom langen Warten aber noch artikuliert und auf dem Punkt ("Haben Sie noch, nehm ich dann, Ladegerät und USB-Kabel brauche ich nicht"). Prahlte noch mit meinem immensem "Kabelbaum" daheim, ahnte aber schon, dass ich so ein modernes Kabel (heißt heute ja nur noch "Ladekabel") dann doch nicht habe, wenn es das vor - sagen wir - 1950 nicht gab.
Solche Gedanken hatte ich, Hege und Pflege, und zu Hause, siehe da, sitzt die Pointe und sagt: "So ein Kabel kennen wir nicht. Das war nie in Paris." Nun war bereits der ganze Kauf und Anschaffungszwang so von Missmut durchtränkt, dass ich eh schon einen Hass pflege auf dieses Gerät, das im versiegelten Karton (vielleicht gebe ich es einfach zurück) gerne bis nächste Woche warten darf, wenn dann nicht nur ich geladen bin, sondern auch der Akku.
So war das, und wenn Die Sterne einst sangen "Von allen Gedanken schätze ich am meisten die interessanten", dann war das jetzt natürlich deutlich unterwältigend, denn ihr Konsumgeübten kauft ja alle drei Monate ein neues Telefon - oder wie Michael Holm einst sang "Cupertino, Cupertino - ich fahre jeden Tag nach Cupertino".