Sonntag, 2. April 2023


Dämmerschlaf

Ich hege ja eine gewisse herzliche Verbundenheit zur Fabrik der Künste, die letztes Jahr nach dem überraschenden Tod des Eigentümers in unruhiges Gewässer geriet, nun aber mit regelmäßig interessantem Programm zurück auf Kurs ist. Immer weitermachen.



Zum Palmsonntag lockte Sonne, eine gute Gelegenheit, noch schnell die Fotoausstellung von Seb Agnew anzuschauen, der mit beachtlichem Aufwand die beiden Etagen der Fabrik der Künste bespielt. In Vitrinen und Winkeln sind einige Requisiten und Kostüme zu sehen, sein Arbeitsplatz wurde dort aufgebaut, an dem das Feilen und Montieren der Set-Modelle mit digitalem Compositing zusammenfällt, und natürlich die großzügig gehängten Fotoserien Grown, Syncope, Epiphany und Cubes.



Agnew ist ein Raumerkunder, der gefundene oder als Modell gebaute Räume mit Ideen vollstopft, Einfälle im Sinne von Invasion, die stutzig macht. Wer lange wartet, sitzt am Esstisch allein, während die Spaghetti wie ein melancholischer Fungus aus dem Kochtopf gewuchert ist und die Küche von Decke bis in die letzten Winkel erobert hat. Vielleicht mein Lieblingsbild (was mich von der Komposition bis hin zur Farbpalette ein wenig an Jeff Walls "Invisible Man" erinnert hat, ein Bild, das mich vor vielen, vielen Jahren fast atemlos machte. Man entdecke die Möglichkeiten!



Niemals klein denken, heißt es zurecht, obwohl Agnew zuletzt mit kleineren Sets experimentiert. Akribisch zusammenbaute Dioramen (die in der Ausstellung zu sehen sind) bieten Modellen und Ideen die virtuelle Bühne für die digitale Nachbearbeitung. Verstörende Orte, Fetzen aus losen Träumen, ein Sessel, der im Kino brennt, wir lagen doch alle mal im Halbschlaf und haben im Augenwinkel einen dunklen Ziegenbock gesehen.



Ein beachtlicher Spaß, diese erfundenen Filmstills und im Moment eingefrorenen unwirklichen Szenen. Vielleicht die interessanteste Ausstellung in Hamburg derzeit, nur leider nur noch bis zum Ostersonntag.

(Seb Agnew, "Dämmerschlaf". Fabrik der Künste, bis 9.4.2023)


 


Donnerstag, 23. März 2023


Die tote Stadt



Zwischen der Stille und ihrem Lärm lese ich. Einem Hinweis von Cegeste folgend, stieß ich auf Georges Rodenbachs Das tote Brügge, einem symbolistischen Roman von 1892, der in zwei Übersetzungen auch in Deutschland verlegt ist. Ich kannte den gar nicht, Huysmans reicht, war ich lange überzeugt, aber man kann ja auch mal über die dunklen Schatten in den Gassen einer alten belgischen Stadt springen. Rodenbach, ein Freund des Dichters Émile Verhaeren, falls jemand fragt, war eigentlich Anwalt, arbeitete zuletzt als Journalist und hinterließ ein alles in allem überschaubares Werk (vier Romane, einige Gedichtbände).

Versehen mit den Fotos der französischen Ausgabe, was damals natürlich sehr modern war, ist der schmale Band Das tote Brügge rasch bewältigt, und die Geschichte schadlos knapp zusammengefasst: Junger, sensibler Mann wird Witwer, trauert endlos und drei Tage um seine verstorbene Liebe, hegt ein paar kultische Erinnerungsstücke (Locke vom Haar und usw.) und grübelt in seinem Haus in Brügge vor sich hin. Bis er eines Tages, der Zufall und seine Streiche, eine Tänzerin vom Theater trifft, die seiner toten Liebsten bis aufs Haar gleicht! Es entspinnt sich eine heimliche, neurotisch-makabre Affaire d'Amour, bei der nicht klar ist, wer hier wen benutzt, und am Ende ist alles gar nicht mal so schön. Auch weil die Tänzerin das Spiel durchschaut und immer mehr aus dieser Folie, die über sie gelegt wurde, heraustritt. Verdammte Unterschiede.

Das ist doch die Geschichte von Vertigo, dachte ich. der Hitchcock-Film, in dem Kim Novak den schwindelgeplagten James Stewart beschwindelt als freilich angeheuertes Double seiner verstorbenen Liebsten usw. usf. Hitchcock verfilmte dabei einen Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac (D'entre les morts) , aber man darf vermuten, dass den beiden Franzosen das kanonisierte Buch von Rodenbach bekannt war.

Wie bei den meisten guten Gedanken, darf man davon ausgehen, dass er bereits gedacht worden ist, und ja, Elisabeth Bronfen hat in ihrem Standardwerk Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik darüber geschrieben. Jetzt erinnert ihr euch auch.

Stilistisch herrscht viel Silberklang und kristallene Farben, es wird gesehnt und getadelt (die Liebesaffäre ist im erzkatholischen Brügge ein Skandal), die Innenschau des Helden lässt alle anderen Figuren etwas hölzern zurück. Aber sie sind eh nur Darsteller auf der Bühne seines Moraltheaters. Ich empfehle es zu Ostern, als Beiwerk weiterer liturgischer Lesungen.

>>> Buchbesprechung im DLF


 


Dienstag, 21. Februar 2023


Lieber Maler, male mir



Ein, zwei Personen der Ehre haben es erkannt - hier war es ungewöhnlich ruhig für ein paar Tage. "Living la vida industrious", wie es in den Milchbars entlang der grauen Bergbauanstalten und Stahlwerkagenturen heißt. Wie hört man so oft? "Diese Blogger, die sollen mal arbeiten gehen!"

Und so was kommt von so was: Durch fleißiges Wohlverhalten und allerlei Artigkeit fiel ich Industrieverbänden auf, wohlbeleibten Patriarchen mit Filzhut und Zigarre. Auch dort wird das Zeitungsforenklagelied gesungen: Der Wirtschaftsstandort Deutschland schwächle, die Deindustrialisierung drohe, der zusammengeplünderte Wohlstand entschwände durch den qualmenden Schornstein des Niedergangs. Usw. usf., Mittelständler kennen das. Wo Klage ist, bleibt aber nur die Flucht nach vorne. Wenigstens Andenken gilt es zu retten, und so kam man auf mich als frisch gekürten Malerfürsten und funkfernsehbekannten U-Boot-Porträtist, und ich ward zum Industriemaler bestellt!

Ich werde daher in diesem Jahr mit dem 49-Euro-Ticket (Dienstwagen nebst Steuerprivileg ist nicht drin) durch die Lande reisen und die letzten Fabriken (hier eine Vorstudie zu "Fabrik Nr. 37" aus dem Skizzenbuch) und rauchenden Schlote auf die Leinwand bannen. Hier bietet sich das Hochformat an, so habe ich es als Experte für multipel gefärbte Perspektiven entschieden beschlossen, da so ein Schornstein schon von seiner technischen Natur her oben höher ist als unten breit. Der Rest ergibt sich von selbst. eine Ausstellung "Ich glaube an den Dax, und der Dax glaubt mir" wird folgen und rechzeitig angekündigt. Bleiben Sie fleißig!


 


Freitag, 3. Februar 2023


Sieh an, sieh an

Gute Geschichten sind niemals auserzählt. Während meiner Recherchen über die wohl erste Reise zum Mond (die älteren Leser erinnern sich) stieß ich natürlich noch einmal auf die frühen Werke von Georges Méliès und dessen berühmten (und zum Glück erhalten gebliebenen) Film Die Reise zum Mond (1902). Von dort war es nur einen Kürbiswurf weit zum ebenfalls berühmten Video zum Smashing Pumpkins-Song "Tonight, Tonight" (1996), dessen Erzählstruktur (ergänzt um eine wirklich auch sehr schöne Unterwasserszene) verdächtige Parallelen zum eingangs erwähnten Überraschungsfund (Dachboden! Rar! Nichtraucherhaushalt!) aufweist. Vorsichtig bemerkt: Da Billy Corgan als sehr kunstinteressiert gilt, würde ich mich nicht wundern, wäre ihm das frühe Fundstück bekannt gewesen. (Die Idee geht offziell auf Wayne White zurück, künstlerischer Direktor für das Video. ) Ich bleibe dran.


 


Sonntag, 15. Januar 2023


Merz/Bow #72



Wie ich so bei Windstärke 9 im sturmböenumtosten Haus sitze, dem sanften pling pling im Bad lausche, wo Wasser friedlich durch die Decke in eine Emailleschüssel tropft und ein Geräusch wie eine Klangschale in einem Zen-Garten macht, dachte ich, es ist vielleicht an der Zeit. Zeit, ins Jahr 2o23 hineinzuschreiben. Das hat ja nun auch schon vor zwei Wochen angefangen. Das Feuerwerk war nach der pandemiebedingten Pause wieder ganz ordentlich, bunte Tupfer und Girlanden, Bang-bang, Ziiiiisch, alles dabei. Der Neujahrsspaziergang, die EU-zertifizierten Böllerinhaltsstoffe hatten den Himmel wie eigentlich jedes Jahr ins Sonnige freigesprengt, ebenfalls sehr ergiebig: Gleich ein ganzes Bund Raketenholzstöcke sammelte sich schnell zusammen, Bastelmaterial für hochfliegende Pläne.

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Die Sternsinger haben in den Zwischentagen-Tagen die rauhe Zeit dann abgesungen, Licht aus und ab zurück zum den magisch-realistischen Alltag eines zunehmend endgrau gewordenen Normalzeitmenschen. Die zwar rauhreiflosen, aber nicht weniger harschen ersten Januartage genutzt, Formulare, Bescheide, Amtsgeschäfte vom Tisch zu räumen. (Habe jetzt sogar einen Termin bei der Landesverkehrsbehörde. Muss ja noch den Lappen umtauschen.) Gute Nachrichten zur Lasterleichterung, so mag es gerne weitergehen. Zwei Projekte auf zwei Schultern verteilt (linke Schulter, rechte Schulter), eingehüllt in die jährliche, exquisite Musikrückschau. (Danke!)

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Angefangen, dass Skulpturenjahr 2023 einzuläuten. Erste Studien zu nachgiebigen, amorphen Körpern in rigiden Strukturen. (Symbol für Lebenssituation.) Die Reihe wird fortgesetzt, habe jetzt den Segen von Amts wegen. Ansonsten nur gute Vorsätze: Weiter keinen Fußbreit für negative Nörgelei, akzeptiere nur noch sog. positive Nörgelei. Oder eigentlich gar keine. Jeder solle leuchten in seiner eigenen Fassung, heißt es ja bekanntlich.

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Schöne Entdeckung und wirklich empfohlen für alle [Technik jetzt], die digital Musik machen oder Klang bearbeiten: Walhalla Supermassive bietet tolle Sounds für gar kein Geld, und hat die Größe meiner Wohnung ins Massive erweitert. Jedenfalls akustisch, und ich sage es, wie es ist: Mehr Hall war in der Halle selten. (Wortspiel.) Sehr hilfreiches VST-Plugin. Drone, drone, drone.

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Weniger Rückblick, mehr Ausblick. Gegenüber werden immer mehr der großen Bäume gefällt. Der eine wegen Schaden (bin gespannt, wann man mir so gegenübertritt), der andere und zwei, drei mehr, weil sie Bauarbeiten im Wege stehen (bin gespannt, wann man mir derart entgegentritt). Die Projekte fräsen sich nun durch den Ostteil der Stadt. Das neue El Dorado, tendenziell große, vernachlässigte Flächen, tendenziell wenig zu erwartender Widerstand. Baggerzähne der Zeit, wie gerade anderswo in der Republik.

MerzBow | von kid37 um 15:55h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 26. Dezember 2022


Wie die anderen feiern



Als Kind gab es an Heiligabend früher die wertvolle Kultursendung "Wie die anderen feiern" im Fernsehen. Während die Eltern noch Essen kochten oder irgendwas verpackten oder Staubsaugten oder den Weihnachtsbaum elektrifizierten oder sonstwie Unruhe verbreiteten, konnte man die elend lange Zeit bis das Glöckchen bimmelte und die Ankunft des Christkindes und - wichtiger noch - der Geschenke verkündete, vor der Kiste hocken und zuschauen, wie eben "die anderen" feiern. Da wurden Kinder und ihre Familien aus aller Welt gezeigt, aus Schweden etwa oder Nordamerika, und ihre Rituale und Traditionen rund um das große Fest.

Ich weiß nicht, ob es die Sendung noch gibt, vielleicht sind alle Völker auserzählt. Ein Grund mehr, um vielleicht mal in die Zeit zurückzugehen und zu schauen, wie unsere britischen Vorväter und -mütter im viktorianischen Zeitalter das Fest verbrachten. Als Geister, aber vor allem Zeugen dieser vergangenen Weihnachten habe ich zum Glück eine Vielzahl von Fotos vom Flohmarkt, die ein verblüffendes Bild von allerlei exzentrischen Moden und Gewohnheiten zeigen. Naturgemäß sind diese manchmal über 150 Jahre alten Fotos in teilweise beklagenswertem Zustand. Gesichter und andere Partien sind häufig unkenntlich geworden. Andererseits sind sie aber bemerkenswert genau und stammen aus einer Zeit, als Manipulationen durch Bildbearbeitungssoftware kein Thema war.



So gehörte - wir befinden uns in einer Zeit, in der die Fotografie gerade erfunden worden war und das Abbild das Alltagsleben Gesellschaftsschichten eroberte, die sich einen Porträtmaler nicht leisten konte - das Familienfoto vor dem geschmückten Baum rasch zum gerne praktiziertes Ritual. Das Schmücken selbst war indes noch Männersache, denn der frischgeschlagene Baum kam aus dem dunklen, geheimnisvollen Wald und galt mit seinen ausladenden Zweigen selbst als wild und ungezähmt; ein Stück Natur, das auch im heimischen Salon nur schwer zu bändigen war.





Am Ende wurde stolz hergezeigt - ein nur notdürfig buchstäblich "verkleidetes" Symbol einer bezwingenden Macht und allgemeinen virilen Potenz, so ersetzte der heidnische Weihnachtsbaum den Herrscherstab.




Den Söhnen des Hauses wurde oft ein kleines Exemplar eines Weihnachtsbaums zum Üben überlassen. So konnten die kleinen "Master" ihre noch vorpubertäre Kraft und ihren Mut trainieren.


Das nur scheinbar prüde viktorianische Zeitalter kannte zahlreiche Subkulturen. In Teilen der verborgenen Homosexuellenszene war der Ringkampf mit einem "Heidenbaum" fester Bestandteil der Weihnachtstradition.


Die Suffragetten schließlich ermächtigten sich im viktorianischen Zeitalter auch des strammen Baumes. Gleichwohl in der vorherrschenden Gesellschaft verpönt, griffen im späten 19. Jahrhundert emanzipierte Frauen selbst an die Kugeln und schmückten die teils stattlichen Bäume.

Weniger mutigen Frauen, im 19. Jahrhunderts dennoch ebenso rasch von der Mode des Weihnachtsbaumes infiziert, blieben andere Formen der Annäherung. Sie schneiderten Kostüme im Weihnachtsbaum-Look oder dekorierten sich gleich selbst als Baum; eine der viele verrückten Spleens der Viktorianer, die uns heute meist nur ungläubig staunen lassen.






Das letzte Bild zeigt meine bereits erwähnte Urgroßtante Eustachia, die hier wieder keck ihr berühmtes drittes Bein überschlägt.

Damals wie heute galt die mechanische Eisenbahn - ihr großes Vorbild war soeben erfunden und repräsentierte den Fortschrittsglauben der Gesellschaft und die beeindruckende Kraft der Dampfmaschine - als ebenso repräsentatives wie entspannendes Zubehör zum Weihnachtsfest. So schnaufte und quietschte die Blecheisenbahn unermüdlich um den Baum oder quer durch die gute Stube.





Eine kulturgeschichtlich wichtige Entdeckung aber liefert das letzte Bild. Zu lange herrschte die Sage, dass unser Bild vom "modernen" Weihnachtsmann durch die Reklame eines Getränkekonzerns in den 1920er-Jahren entstand. Dabei ist die charakteristische Weihnachtsmütze viel älter und bereits zu viktorianischen Zeiten gut tradiert.




 


Samstag, 24. Dezember 2022


Frohe Weihnachten



19 Jahre Das hermetische Café sind es. Ich erwähne das deshalb, falls jemand plant, für das 20. Jubiläum einen kompliziert choreografierten Pompon-Tanz einzustudieren. Aber kein Druck! Ich bin Minimalist und freue mich auch über stille Bekundungen.

Nach allgemeiner Übereinkunft wird heute aber auch der Geburt einer anderen großen Sache gedacht. Engel singen, Sterne beleuchten eine heruntergekommene Herberge, Schäfer und Tiere kommen zu einer mühevoll choregrafierten Aufführung zusammen. Alles ohne Pompon-Tanz.

Habt eine fröhliche Weihnacht, esst nicht alles auf einmal und vergesst die dicken Socken nicht. Hohoho!