
Sonntag, 11. Juli 2021
Um meine finanzielle Lage zu verbessern, denke ich darüber nach, einen Laden zu eröffnen. Die Bedarfsanalyse für mein Viertel hat mir gezeigt, dass in diesem Quartier vor allem ein guter Bäcker und ein Lottoladen fehlen. Diese Lücke werde ich füllen und zudem dort eine kleine Galerie unterhalten, um meine fantastischen Bilder zu verkaufen. So liegt auch ein einprägsamer Name für das Geschäft auf der Hand: "Brot. Lose. Kunst". (Kommt alle zur Eröffnung! Es gibt Brot!)
Das sind Gedanken, wie sie mir abends einfallen, wenn ich am Fenster sitze und aufs Wasser schaue. Ich esse dazu gern ein Eis aus dem Tiefkühlfach (Bourbon-Vanille, natürlich ohne Bourbon und höchstwahrscheinlich auch ohne Vanille) und beobachte Heißluftballone, die kleinen Kajütboote auf dem Kanal, Stand-up-Paddler und Abendrundenschwimmer. Und heute tatsächlich auch den vor einiger Zeit schon aus der Nähe entdeckten Eisvogel, der grünblau-schimmernd dicht über das Wasser propellerte. Auch darüber könnte man nachdenken: unten ein bunter Eisvogel, oben ein Eis essender anderer bunter Vogel. Darin liegt bestimmt ein Sinnbild versteckt, das ein hermeneutisch geschulter Kunsterklärer deuten könnte. Mit einem Vortrag in meinem Laden Brot. Lose. Kunst. zum Beispiel.
Heute Abend gibt es auch Kunst: Schauspielteam 1 spielt gegen Schauspielteam 2 um die Europameisterschaft im Bodenrollen. O, Mamma mia! gegen Fly like a Butterfly. Mein persönliches Bayreuth, für das ich beste Plätze auf dem Sofa habe. Am Ende werde ich mit ledrigem Gesicht wie eine Eiskunstlaufmutti Schilder hoch halten mit "4" und "5" und dem Ganzen ein Kunsturteil geben.

Donnerstag, 8. Juli 2021
Was das Thema Verreisen angeht, bin ich ja ähnlich unbeholfen wie eine Fußballmannschaft, die - immerhin! - im Achtelfinale ausscheidet. Die Fehlpässe und verlorenen Zweikämpfe, die ich in vielen, vielen Jahren in dieser Hinsicht ausgetragen habe, lassen sich in kaum einer Datenbank erfassen. "Daheimreisender" könnte auf meiner Visitenkarte stehen. Jetzt aber hatte ich zufällig eine Tageskarte für den Nahverkehr, wollte mal was anderes sehen und sogenannte "Eindrücke" sammeln und landete so und über Umwege neben Hamburgs traurigstem Kinderkarussell. Keine Fahrgäste (fuhren vielleicht alle daheim Karussell) und dazu endloses Schlagergedudel mit nur mir als einzigem Zuhörer. Wie weit kann es nach unten gehen, frage ich. Die Schlager waren offenbar B-Seiten-Titel bekannter Interpreten wie Peter Alexander, Roy Black und Marianne Rosenberg, nicht die Hits. Schräge Texte mit Zeilen wie "Dir fällt nicht auf, daß ich dich nicht mehr brauche" (aus dem Gedächtnis zitiert). Vielleicht zeitgemäß, denn es gibt so vieles, was man echt nicht mehr gebrauchen kann.
Ich saß also auf einer Treppe in der Sonne (Bänke gibt es dort nicht, denn sitzen soll nur, wer auch konsumiert) neben meiner in Kolumbien genähten Ledertasche, darin mein Weltmeisterbrot aus dem Lockangebot für nur 2,49 Euro, und sah mir die promenierenden Leute aus Holland und Wanne-Eickel an. Fährt man nicht in die Welt, kommt die Welt zu einem! Einfach am großen Fluß sitzen bleiben, es treiben am Ende alle vorbei. So wie dieser Aal, der einen Kugelfisch schlucken wollte. Witzigerweise gilt der Kugelfisch als recht aufgeblasener Geselle, hier aber verhalf es uns zu einem anschaulichen Bild über Gier und mangelnde Demut. Den Hals nicht vollkriegen können, ein Rendite-Aal, der sich an einer aufgepufferten Blase verschluckt. Wohl dem, der Strandspaziergänge machen und derart Gott und seine Botschaften aus der Natur lesen kann!
Ich könnte als "Mann von der Ebe" weiter so in salbungsvollen Gleichnissen reden und mir das gut bezahlen lassen. Auftritte als #EwaldLienenUltra bei Lanz und den norddeutschen Regionalprogrammen, kleines Büchlein dabei und ein Coaching-Angebot, bei dessen Ende ich sagen kann, seht ihr, ihr braucht mich gar nicht!

Donnerstag, 1. Juli 2021
In den Läden liegt die Ware vom Vorjahr, mancherorts auch von den Vorjahrzehnten. Überall ein Gefühl von Vorvergangenheit. Ich lese gerade Marc Fishers interessante Abhandlung The Weird and the Eerie, eine Sammlung von Überlegungen zum Unheimlichen und Verstörenden in Literatur und Film. Fisher ("k-punk") klopft verschiedene Büsche von Lovecrafts Erzählungen und den Romanen H.G. Wells bis zu den Filmen von Kubrick und David Lynch ("Mulholland Drive") ab, schüttelt die verstörenden Elemente dort heraus und wie sie in uns selbst ein Echo finden. Unterhaltsam, nie doof und in hypnotischen Zirkeln erzählt, springt bald die ein oder andere unheimliche Erinnerung aus der eigenen Behaglichkeit wie ein Kleinwüchsiger aus einem David-Lynch-Film.
Wer nur lange genug in diese Vitrine hineinstarrt, findet heraus, daß die Preisschilder rückwärts geschrieben sind. Das Foto stammt von einem Ausflug, aus einer Zeit, als ich noch Ausflüge machte. Jetzt ist es nur eine Erinnerung, also rückwärtsgewandt, so wie die Träume vom alten Normalen, die überall wie verstrahlte Wolken herumhängen. Vielleicht auch ein Zeichen aus einer bedrohlichen Zukunft, in der Menschen mit Strickjacken und Pullundern uns mit Wörtern wie "Progressionsvorbehalt" verstören wollen. Wenn man lange genug davor sitzt, verwandelt sich die Schrift in "in vitro", einem Experiment im Laborglas also. Man kann den Jacken beim Wachsen zusehen, vielleicht sind sie auch autolumineszent und leuchten im Dunkeln mit einem geheimnisvollen Pulsieren. "Ich bin's, dein Wirtschaftswunder!" haucht es mit schelmischer Heinz-Erhardt-Stimme.
Vielleicht dauerte der Lockdown auch nicht 15 Monate, sondern 55 Jahre, wer hat es schon genau mitgezählt, niemand nämlich. Vielleicht sind wir uns darüber selbst so unheimlich geworden, daß wir uns aus den Bezügen genommen haben, den Relationen und Verbindungen. Vielleicht stecken wir hinter der Scheibe, Exponate einer anderen Zeit.

Freitag, 25. Juni 2021
"Mythos U-Boot". Aquarell, 2021. 1000,- Mark.
Nur wenige wissen, daß ich früher manche Mark mit sogenannter U-Boot-Malerei verdient habe. So habe ich durch Vermittlung der Künstlerabteilung des Arbeitsamtes Hamburg für das Offiziers-Casino am U-Boot-Stützpunkt Eckernförde Bilder von berühmten U-Booten gemalt. Eine hübsche Galerie in dem Stil, der mich später berühmt machen sollte: präzise realistisch, aber mit Herz und Ausdruck.
Bei der U-Boot-Malerei sind einige künstlerische Probleme zu bewältigen, von denen normale Menschen gar nicht wissen, daß sie überhaupt existieren. Im Vergleich zur Blumenmalerei sind zum Beispiel einige Herausforderungen dimensionaler Natur zu überwinden. In der Regel ist es aussichtslos, ein U-Boot 1:1 auf Papier bringen zu wollen. Mit Blumen eher kein Problem. Man muß also von der inneren Position her kleiner malen als es eigentlich ist, die sogenannte Demutsmalerei. Anders auch als die von mir ebenfalls sehr engagiert betriebene Pferdemalerei hat man nicht mehr die Wahl zwischen Querformat (Pferd auf der Weide) und Hochformat (Pferdekopf isoliert als Porträt). Das U-Boot will und fordert das Querformat!
Hat man sein Subjekt also erst einmal derart künstlerisch erschlossen, sind zahlreiche aufwendige Vorstudien und Skizzen erforderlich, um überhaupt ein Gefühl für Wucht, statische Bindung, stählernes Gefüge, admiralische Materialität, technische Details, Details, Details und schließlich inhaltliche, fast soldatisch zu nennende Haltung zwischen respektvoll, gerührt, hab Acht und schließlich pinselgeführten Angriff zu finden. Nur schlechte Maler lassen sich von ihrem Subjekt überwältigen und blasen zum Rückzug in Gischt und Pathos! Man merkt schon aus diesen kurzen Ausführungen, so ein U-Boot-Bild ist nicht einfach schnell dahingemalt! Es ist ein schmaler Grad zwischen technischer Skizze und verklärter Überhöhung, aber hier ist das Meisterwerk gelungen.

Mittwoch, 23. Juni 2021
Kinder, wie die Zeit vergeht: 20 Jahre Antville. Blogger, die wo Abitur haben und vernünftigerweise "das Blog" sagen. Das waren die großen Cousins und Cousinen, die ein Blog bei Antville hatten, haben, wiederkehrten. Ein paar habe ich 2005 immerhin beim "Blogmich" in Berlin gesehen, gehört, gesprochen. Man ist sich so lange her. Ich hatte kein Blog bei Antville, wg. zu spät. (Bin ja sehr jung.) Halte mir als stille Reverenz aber eine Ameisenstraße auf der Tastatur.
Gesammelte Texte zum Jubiläum: 20 Jahre Antville
Ekkehard Knörer im Merkur (PDF)
via Sakana übrg., einen der ersten Blogger, den ich in Hamburg kennenlernte. (Alles beschrieben im Roman Marktstube, früher.)
Da ich gerade so ein bißchen Zeit am Tag habe, kam ich endlich dazu, noch einmal durch die auch schon lange Geschichten von Blonde Redhead zu gehen. Die in ihrer freigestimmten Frühphase ja an Sonic Youth erinnerten, einen Vergleich, den sie aber im Booklet zu Masculin / Feminin, der tollen Kompilation der ersten beiden Alben, beklagen. Andererseits hatte aber Steve Shelly von Sonic Youth die einst produziert und auf seinem Label herausgebracht. So hängt alles mit allem zusammen. (Foto zeigt die Band in der Canal Street in New York, was eine große Stadt in den USA ist.)
Habe mir jetzt aus verschiedenen Gründen erstmals ein Auto gekauft, das aber noch nicht zugelassen ist. Natürlich ein Camper, wie es viele derzeit machen. Hervorragend geeignet für einen kleinen Ausflug (habe schon seit 1972 keine Ausflüge mehr gemacht), ausgebauter Dachraum für ein Nickerchen. Möchte damit aber ins Autokino, denn vom Aussichtssitz ist die Sicht hervorragend.
Interessiere mich insgesamt sehr für Pilze, seit ich einen Bericht im Fernsehen gesehen habe, in dem zwei junge Damen aus dem Süddeutschen, glaube ich, proträtiert wurden, die in ihrem Altbaukeller Pilze züchten und an Restaurants verkaufen. Die Gewächse hängen in Plastiktüten (darin: Nährboden) im naturfeuchten Keller und werden, sobald sie weit genug aus kleinen Löchern herausgewachsen sind, einfach abgeschnitten.

Montag, 21. Juni 2021
Eine freundliche Leserin spielte mir diese interessante Zahlenaufstellung zu. Wo ein Fox Mulder jetzt sagen würde, "Aha, aha, aha!", antwortete eine (studierte Spaßbremse) Dana Scully sicherlich, "Mulder, Sie lassen sich zu leicht beeindrucken, das sind nur Iterationen ein und derselben Rechnung, das kann man bis ins Unendliche durchspielen". Aber: 37! Das kann kein Zufall sein.
Zuerst dachte ich ja, eine Grundschullehrerin hätte die "37" jeweils rot angestrichen, weil man in der zweiten Klasse so nicht rechnen darf. Wo kämen wir hin, wenn junge Leute am Curriculum vorbei mit Bruchrechnung, Punkt, Punkt, Komma, Strich und anderen unterhaltsamen Dingen der Mathematik jonglieren würden. All das aber findet man auf der Seite Abakcus, wo mathematische Aufgaben auch aus Radfahrersicht sehr detektivisch gelöst werden.

Samstag, 19. Juni 2021
Martin Johnson Meade
Es ist mittlerweile dauerhaft so schwül-heiß hier in der kleinen metallbedachten Leuchturmkapsel, daß in den Ecken, wo bei euch in den Wohnungen Schwarzschimmel wächst, Orchideen und Venusfliegenfallen in einer gewissen feuchthitzigen Üppigkeit gedeihen. Heute morgen entdeckte ich Kolibris, die - offenbar durchs geöffnete Lüftungsfenster hineingekommen - morgennektarschlürfend von Blüte zu Blüte propellerten. Ganz hübsch eigentlich, wenn auch nur mit Eispack auf dem Kopf erträglich, will man gleichzeitig noch Dinge sachgerecht bearbeiten.
Stimmungsmaler Martin Johnson Meade hat das mal schnell pittoresk abgemalt, die Szenerie ist aber auch zu hübsch. Der US-Amerikaner (1819 - 1904) hatte eine besondere Neigung zu tropischen Landschaften und reiste Mitte des 19. Jahrhundert sogar extra nach Brasilien, um dort zu malen. Nun, da Brasilien wettermäßig zu uns gereist ist, kann man das natürlich einfacher haben. In meiner mittlerweile von Schlingpflanzen überwucherten Badewanne stelle ich mir gern vor, in einem Einbaum den Amazonas hinunterzugleiten, großen Schlangen auszuweichen und den giftigen Pfeilen der Ureinwohner. Dort, wo bei euch die Rückenbürste liegt, halte ich einen Kescher bereit, um bunte Schmetterlinge grotesker Größe von den Fliesen zu fangen und für die Nachwelt zu klassifizieren.
Alles nur erträglich, wenn ich regelmäßig eine Cooling Pause einlege, wie in der Begenung der beiden Ballspielmannscahften Deutschland und Portugal im aufgeheizten, subtropischen München. Wie ein leicht in die Jahre gekommener, aber immer noch auf Top-Niveau spielender Sportstar kippe ich mir kühles Wasser über den Kopf, gurgel ein, zwei Schlucke ordentlich durch, um Malariamücken aus dem Rachen zu spülen und rotze dann beherzt in den Amazonas. Ab nächste Woche wieder menschenwürdige Temperaturen, lange geht das nicht mehr gut.
