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In den Läden liegt die Ware vom Vorjahr, mancherorts auch von den Vorjahrzehnten. Überall ein Gefühl von Vorvergangenheit. Ich lese gerade Marc Fishers interessante Abhandlung The Weird and the Eerie, eine Sammlung von Überlegungen zum Unheimlichen und Verstörenden in Literatur und Film. Fisher ("k-punk") klopft verschiedene Büsche von Lovecrafts Erzählungen und den Romanen H.G. Wells bis zu den Filmen von Kubrick und David Lynch ("Mulholland Drive") ab, schüttelt die verstörenden Elemente dort heraus und wie sie in uns selbst ein Echo finden. Unterhaltsam, nie doof und in hypnotischen Zirkeln erzählt, springt bald die ein oder andere unheimliche Erinnerung aus der eigenen Behaglichkeit wie ein Kleinwüchsiger aus einem David-Lynch-Film.

Wer nur lange genug in diese Vitrine hineinstarrt, findet heraus, daß die Preisschilder rückwärts geschrieben sind. Das Foto stammt von einem Ausflug, aus einer Zeit, als ich noch Ausflüge machte. Jetzt ist es nur eine Erinnerung, also rückwärtsgewandt, so wie die Träume vom alten Normalen, die überall wie verstrahlte Wolken herumhängen. Vielleicht auch ein Zeichen aus einer bedrohlichen Zukunft, in der Menschen mit Strickjacken und Pullundern uns mit Wörtern wie "Progressionsvorbehalt" verstören wollen. Wenn man lange genug davor sitzt, verwandelt sich die Schrift in "in vitro", einem Experiment im Laborglas also. Man kann den Jacken beim Wachsen zusehen, vielleicht sind sie auch autolumineszent und leuchten im Dunkeln mit einem geheimnisvollen Pulsieren. "Ich bin's, dein Wirtschaftswunder!" haucht es mit schelmischer Heinz-Erhardt-Stimme.

Vielleicht dauerte der Lockdown auch nicht 15 Monate, sondern 55 Jahre, wer hat es schon genau mitgezählt, niemand nämlich. Vielleicht sind wir uns darüber selbst so unheimlich geworden, daß wir uns aus den Bezügen genommen haben, den Relationen und Verbindungen. Vielleicht stecken wir hinter der Scheibe, Exponate einer anderen Zeit.

Ex Libris | 14:13h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Freitag, 2. Juli 2021, 09:24
Fesche Strickmode! :-)

(Aber das Wort "Progressionsvorbehalt" retraumatisierte mich soeben. Sah mich mal deswegen im Steuerknast. Die Sache löste sich zwar in Wohlgefallen auf, aber dennoch ...)

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kid37 - Freitag, 2. Juli 2021, 10:08
Die Vitrine steht an einem sogenannten "mondänen Ort". Da will ich natürlich was sehen für mein Geld.

Andere wollen auch mein Geld, fürchte ich. Habe die Tage die Elster mit Daten gefüttert, die für den "Veranlagungszeitraum" diesmal besonders unübersichtlich waren. Man lernt das Beten!

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frau eff - Sonntag, 4. Juli 2021, 13:06
Sehr, sehr großartiger Text. Gerne gelesen.

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kid37 - Donnerstag, 8. Juli 2021, 15:34
Vielen Dank.

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