
Freitag, 18. Juni 2021
Kaum bricht die Sonne raus, ist es hier schon wieder mächtig und auch nächtig warm im kleinen Leuchtturm am Ende der Straße. Irgendwann sackte ich weg und hatte einen Traum, indem Frauen, mir dem Vornamen nach bekannt, unvermittelt vorbeikamen und darum baten, sich - ausdrücklich nur der Hitze wegen - ausziehen und auf mein Kanapee aus Kühlakkumulatoren legen zu dürfen und zum Klang einer tickenden Uhr von mir rein kuratorisch betrachtet zu werden. Was ist das? Völliger Quatsch! Bitte nur angemeldet vorbeikommen! Klingel ist defekt! Nachher habe ich hier eine Can-Can-Troupe tanzen, und die Nachbarn klopfen an.
Wachte dann etwas verschwitzt aus unruhigen Träumen auf wie ein häßlicher Käfer, aber es war nur eine Unterzuckerung. Wenn man auch den ganzen Tag im Rattenrennen steckt! Meine Zukunft indes stelle ich mir deutlich entspannter vor. Manchmal ermöglicht einem das Internet in der Hinsicht einen Ausblick. Da bin ich dieser Mann, der wie im kleinen Prinzen angeboten, einen Fuchs zähmt und mit dem artig zusammenlebt. Ganz schnurrig eigntlich. Vielleicht etwas warm.

Dienstag, 15. Juni 2021
Über das Ende von Schnipo Schranke ("Pisse") ist viel gesagt worden, welche Rolle Fritzi Ernst dabei spielt - oder besser: ihr zufiel - ist vielleicht ja auch egal. Sortierter sei es jetzt, liest man, Ente am Ende usw. Keine Ahnung, auch egal. Ihr Solo-Album Keine Termine ist gerade erschienen und charmanter wurde vom großen Nichts seltener dahermelodiert. Kein Pathos, keine Termine, Ted Gaier von den Goldenen Zitronen hat's (mit-)produziert, es ist also alles amtlich Indie-bestempelt.
Heute Abend Konzert, aber da haben viele ja schon einen Termin mit Frankreich. Das wird aber alles noch, die Ambition reicht nur zur Vorrunde.

Montag, 14. Juni 2021
Der Nähkasten meiner Mutter wäre auch ein schöner Titel für meinen Debütroman, dachte ich neulich und höre schon das Kritzeln auf den Notizblöcken der Freudianer hier im Publikum. Jedenfalls aus der Zeit, als ich als Kind im Nähkasten meiner Mutter kramte, kannte ich natürlich den Namen "Riri", nicht aber die - auch freudianisch - überaus interessante Geschichte dahinter. Es gab ihn also: den Reißverschlußkönig!
Sogar nach Wuppertal führt seine Spur, damals an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als ein Dr. Winterhalter ein Patent aufkaufte, Maschinen entwickelte und im Tal der Wupper eine Fabrik für Reißverschlüsse gründete. Der Rest ist Wirtschaftsgeschichte. Hinter der steckt abert eine viel interessantere, die vom Aufstieg und Fall eines exzentrischen Patriarchen. In der 3sat-Mediathek gibt es eine faszinierende Doku über den Mann (bis 10.7.).
Reichtum, Glanz, Gloria, Autos, Frauen, Krisen, "Ausschweifungen", Wahn und filmreife Flucht aus der Psychiatrie, empörte Katholiken, familiäre Intrigen - alles drin und dran. Ritsch, ratsch, wie beim Reißverschluß.

Freitag, 11. Juni 2021
gibt es keinen Platz
Wo ich bleiben, bleiben kann,
denn die Welt ist proviso-o-o-risch."
(Die Braut haut ins Auge, "Provisorisch")
The Artist is present: Provisorische, nonpermanente Installation aus Speiseeis
Eine frühere Bekannte scholt mich regelmäßig meiner von ihr abschätzig so genannten "Provisorien", mit denen ich Haus, Leben, Geld, aber eben nicht die Liebe zusammenhielt. Machten sie angeblich "irre"; ich hingegen fühlte mich und meine Ingenuität verkannt. Zu recht! Denn Andrew Baseman hat sich von so etwas nicht beirren lassen und daraus ein kleines Lebenswerk (und Lebenserwerb) gemacht.
Der Set-Dekorateur ("Gotham") sammelt ein ausgefallenes Spezialgebiet: reparierte Antiquitäten. Romantiker und Schwarzromantiker wissen, es gibt Liebhaber für alle Dinge (sonst wäre ja auch alles hoffnungslos). In einem Blog hat Andrew Baseman seine Schätze dokumentiert. The Past Imperfect: The Art of Inventive Repair heißt es (so wie sein Buch). Er zeigt dekorative Haushaltsgegenstände (heute: Kunstschätze) aus früheren Jahrhunderten, als man zerschlagenes Porzellan nicht zum Scheidungsanwalt oder zum Mülleimer brachte, sondern von einem Tinkerer einfallsreich instand setzen ließ. Abgebrochene Ausgüsse am Keramikkrug? Kein Problem, das ein Klempner und Spengler nicht lösen könnte. Brüche und Sprünge fugen und fügen einem Teller etwas Besonderes hinzu. "Once regarded merely as damaged goods by antiques dealers and collectors alike, antiques with inventive repairs are justly receiving the respect they deserve", heißt es bei Basemen über das Charaktervolle dieser Schätze.
Wir nennen es heute schick-exotisch Wasi-Sabi und bieten es als teure Lebensartkurse für übersättigte Städter an. Die Kunst des Unperfekten - ich habe es immer schon gesagt.
>>> Sammlung von Andrew Baseman auf Instagram

Mittwoch, 9. Juni 2021
Letzte Woche hatte ich zu tun, da mußte ich die Aggro-Fun-Punk-Band Jenser und die Masken der Behinderten gründen (Album Der dünne Firniß erscheint im September). Nun sind minderwertige Masken für Behinderte natürlich Scherz, Satire, aber ohne höhere Bedeutung. Der Jenser aber schwört darauf. Manchmal, so kichert es, stehe er sogar nachts auf und hole sich eine. Alles andere wird derzeit wissenschaftlich geprüft, um für die Zukunft vorzubeugen.
Im letzten Jahr habe ich meine wissenschaftliche Zukunft hingegen zur Vergangenheit erklärt und mich von weiteren Teilen meiner umfangreichen akademischen Forschungsunterlagen getrennt. Stapel von Seminararbeiten, einst für interessierte Enkel bereitgehalten, landeten im Müll. Oder wie es im berühmten Schlußmonolog von Android Roy im Blade Runner heißt: "All those moments will be lost in time". "Lost for mankind. Forever", sprach ich durch eine ordentlich zertifizierte FFP2-Maske meinem eigenen, leicht ergreifenden Monolog vor dem Altpapiercontainer. Nun hatte die akademische Welt ja - von ihr selber weitgehend unbemerkt - mit mir bereits seit langer Zeit abgeschlossen. Dabei war meine damals am Institut verfasste Arbeit "Longevity through solid German Käsebrot and its implications on the Gamma-Nuclein-Channel of brain expanding Protein Cells" nicht einmal ausreichend gewürdigt worden. (Habe den Ansatz aber in einer umfassenden Privatstudie weiter verfolgt.)
Das Hauen und Stechen ist los. Den Leuten entgleitet mehr und mehr, Gesichtszüge, Haltung, Maßstäbe. Alle sind mit dünnem Faden genäht, die Knöpfe und Köpfe nach dem Kauf schon lose. Ich halte die Türen besser verrammelt und lese lieber gleich unbedacht brutale und aus dem Kanon gestrichene Märchen der Brüder Grimm. Etwa Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben.
Die unschuldigen Spiele der Kindheit.

Freitag, 4. Juni 2021
Das muß man sich mal vorstellen: Da zieht ein junger Mann mit angegrautem Haar nach New York (Brooklyn, ich habe offensichtlich nur drei Straßen weiter gewohnt), räumt sein Atelier bis unter die Decke mit allerlei Krempel voll, ist unter anderem beinflußt von künstlerischen Ideen aus dem Berlin der 20er-Jahre und von einer generellen Nostalgie, malt junge Damen mit Masken und Fledermäuse mit Gothic-Anmutung, macht Faxen und Filme im Stummfilmlook und trägt dunkle Jackets zum Ringelshirt (allein in diesem Videoporträt drei). Und doch bin es nicht ich!
Es ist hier zunächst einmal Marcel Dzama, der hier schamlos meine Ideen und vielleicht sogar die Identität stiehlt. Dieser Zwilling stammt wie Guy Maddin, ein anderes großes Leitbild für mich, aus Winnipeg, Kanada, was man sich wohl als das Wuppertal Nordamerikas vorstellen kann. Drei Bücher weiter (bislang) bin ich etwas deutlicher eingetaucht in sein Werk und sehr begeistert. Dabei hatte ich den Namen lange Jahre schon im Hinterkopf, selbst die Süddeutsche feierte das Wunderkid vor zehn Jahren mit einer ihrer jährlichen Spezial-Kunstausgaben des Magazins. Hier und da stolperte ich im Netz über ihn, sah ein, zwei Filme. Aber wieder einmal zeigt sich, daß Bücher und Ausstellungskataloge mehr zeigen als es das Netz vermag. Detaillierte Gouachen, Zeichnungen, Entwürfe für Opern, Objekte und Skulpturen stellen da aus dem Chaos einer unerschöpflichen Sammlung nach und nach Welten zusammen - nach dem Motto, wenn die Leute meinen, du hättest viel gesammelt, dann ist es noch nicht genug. Durch Dzamas organisiertes Chaos wandern mit Flinten bewaffnete Frauenfreiheitscorps, gestaltet sich die Welt als Schachspiel (mit Anleihen bei Schlemmers Bauhauskostümen), da laufen Parties im Boudoir sexuell aus dem Ruder, trifft Marcel Duchamp auf Andy Warhol und Kanonen aus dem kanadischen Norden auf Szenen, die an US-Straflager erinnern. Alles unterwoben von einer generellen Atmosphäre aus Melancholie und Verlust - wie im richtigen Leben halt.
>>> "Drawing a bat with Marcel Dzama" (Youtube)

Mittwoch, 2. Juni 2021
Als junger, aufstrebender Filmemacher habe ich mir ein Vorbild an der hier bereits erwähnten TV-Dokureihe Murder Maps genommen und steige jetzt ebenfalls in das True Crime-Genre ein, das in den letzten Jahren auch hierzulande immens populär geworden ist. Die kurze, erschütternde Historiendoku Terrorkitten (D 2021) über eine nur scheinbar friedliche Grachtengasse im Amsterdam der 1910er-Jahre ist mein Einstieg in die Welt der wahren Kriminalgeschichten. Die Recherche zu diesem aufwühlenden Fall über eine heimtückische Katze, die unbescholtene Hunde terrorisiert, ging mir dabei selbst sehr unter die Haut.
Ich könnte zu einer Art Fox Mulder für mysteriöse Katzenkriminalität werden. Ein Special Agent mit einer Kollegin, die einem ständig widerspricht und alle Theorien in Zweifel zieht (wie im richtigen Leben halt), am Ende aber selbst ins Grübeln kommt. Man könnte eine TV-Serie daraus machen, irgendetwas mit unerklärlichen Phänomenen und ungelösten Rätseln (wie im richtigen Leben halt). Wie so was aussehen kann, zeigt ja seit längerem eine österreichische Dioramaartistin, die unter dem Namen "Dolls Buzz" auf Instagram ihre detailverliebten Werke aus der Welt von Akte X ausstellt. Ganz groß und vor allem, von wegen "so 90er!" - wenn man bedenkt, daß sie zur Erstausstrahlung der Serie wahrscheinlich noch nicht einmal geboren war. Ich verstehe die Leidenschaft aber gut, war ich zum Zeitpunkt meiner das 19. Jahrhundert reminiszierenden Werke auch noch nicht geboren. (Da staunt ihr.)
Alles hängt mit allem auf delikate Weise zusammen, liest man. Und so freue ich mich, wenn das richtige Leben meine Filme spiegelt, die wiederum das richtige Leben spiegeln. So wie hier im tagesaktuellen Fall um eine junge Frau, die einen Terrorbären abwehrt, um ihre Hunde zu schützen. Es geschieht nichts zufälliges.
