Samstag, 20. Juni 2020


Faust in der Tasche



Schnauze voll von Pandemie: Mit dem Walter-Serner-Wort der "letzten Lockerung" auf den Lippen ist vieles wieder begehbar geworden. Zum Glück auch Galerien, laut einer von mir in meinem geheimen Geheimlabor durchgeführten Kleinstudie soll sich Kunst ja positiv auf vielerart Krankheitsverläufe auswirken. Die Affenfaust in Hamburg zeigt die beiden Leipziger Künstler Doppeldenk mit 100 + 1 Jahre Bauhaus.



Ungewohnt bunt für meine kleine verregnete Welt, aber voller Tiere und trauriger Sensationen (auch Jesus am Kreuz ist dabei). Neonskulpturen, bauhausgrafische Holzklotzmännchen, flächig gemaltes. Wie Street-Art im Galerieformat präsentieren sich die Werke im ehemaligen Supermarkt in der Nähe der Reeperbahn.



Maskenpflicht bleibt, wer bunte hat, fügt sich hier gut ein, geht bitte nah ran an die Kunst und hält Abstand zu den anderen Menschen. Ein vorbildliches Konzept, das ich mir für weitere Lebensbereiche wünsche. Die Doppeldenker Marcel Baer und Andreas Glauch kommen grellbunt, vordergründig unschuldig, dabei aber ganz schön ironisch daher - und irgendwie macht das nach einer Weile Süßkramhunger.



Wie schön wäre eine buntsortierte Eisdiele anbei oder ein Marshmallow- oder Fruchtgummiverkauf mit lustigen Erdbeerflamingos oder sauren, rosa Schaumgummischweinchen. Ums Eck liegen Kaffee & Kuchen im Café, auch hier bitte keine angestrengt überdachten Fantasienamen angeben. Anschließend entspannt durchs Revier streifen, jeglichen Groll in der Tasche lassen und alle Gesellschaftsteile freundlich grüßen.

Doppeldenk, "100 + 1 Jahre Bauhaus". Affenfaust-Gallery, Hamburg. Bis 8.8.2020.


 


Dienstag, 16. Juni 2020


Zwei und zwei zusammenzählen



Vor Jahren ist mal eine Bekannte von mir mit ihrem Steuerberater durchgebrannt. Das hat mich aus verschiedenen Gründen so pikiert, daß ich seither meine eigene Erklärung nur noch über die Elster abgebe. Das wird diesem Berufsstand eine Lehre sein. In die beamtenschelmisch benannte Elster trage ich einfach alles, was ich an Zahlen finde, in das (hoffentlich) entsprechende Feld ein - und am Ende bekomme ich 200,- Euro erstattet und habe meine Ruhe. Ich werde dann immer ausgelacht, weil andere jedes zweite Wochenende stundenlang Quittungen und Belege in einen Leitz-Ordner kleben und ächzen und anschließend einen "Termin beim Berater" haben, ächzen, und dann 400,- Euro zurückkriegen, aber auch viel Stress im imaginierten Arbeitszimmer und in der Lebensgemeinschaft haben. Also manchmal.

Ich jedenfalls habe gerade meine übers Jahr gut versteckten Tresore raufgeholt und sortiere meine drei Unterlagen, weil ich langsam die zweihundert Euro gut gebrauchen könnte. Pandemiefolgen. Nach langer Quarantäne habe ich kaum noch etwas anzuziehen, dabei kann man am Horizont fast den Herbst schon sehen, der seine Kollektionen Ende August bereits in die Läden wehen wird. Und dann geht's schon schnell an die Weihnachtsgeschenke und das Silvesterfondue. Dann sitzt man da und nuschelt undeutlich in seine Maske, Mensch, 2020 war jetzt auch nicht so ein schönes Jahr. Gut, daß ich noch 200,- Euro von der Steuer zurückerhalten habe.

Das war jetzt schon die ganze Moral von der Geschichte. Aufgeschrieben an Tag #537 der Quarantäne.


 


Samstag, 6. Juni 2020


Nachtstücke



Bye-bye, Junimond, heißt es wehmütig hierzulande. Der brave Bürger sitzt, Raspelstimme im Ohr, am Stutzflügel daheim, klimpert was um a-Moll herum und schaut mit vor sanfter Selbstüberflutung angeschmolzenem Bick in die zitternden Kerzenflammen, weil die Dichtungsstreifen an den Fenstern lange schon nicht mehr erneuert wurden. Mit Glück flattert die Hausfledermaus vor dem einsetzenden Gewitter zurück unters Dach (Filmspule), nachdenklich.

Vollmond im Juni, in knapp zwei Wochen werden die Tage zum Glück wieder kürzer, dann muß man das Elend nicht so lange und deutlich betrachten. Dieses Jahr ist die große Zwischenprüfung heißt es, ehe im nächsten unorthodoxe Anschauungen greifen. Noch lungern sich selbst demaskierende Hipster auf Hustenpartys im Park, man kabelt, man zoomt, stellt Rechnungen um und andere auf. Manche haben, schöne Oke, Automatenpuppen ihrer selbst vor Kameras gestellt.

Ins Haus ist ein wenig Ordnung eingezogen. Ich habe oben und unten Regale gebaut. Und hatte ich früher schon ein-, zwei Mal wilde Wespen unterm Dach, brütet dort seit ein paar Jahren ein Bachstelzenpaar. Die ziehen ein bis zwei Junge groß und räumen wie flitzeflinke Kammerjäger unter Insekten auf. Ich empfehle das sehr. Morgens Gezwitscher, mittags Flugstunden des Nachwuchs, nachts nur noch lautlose Fledermäuse.

Ein Blog im Ultraschallbereich wird meine neue Erfindung. Unerhörtes schreiben, sich mit Echowellen durch Twitter tasten, tagsüber aber wie ein Kohlwickel getarnt in der Internetecke hängen. Nur ab und zu mal umdrehen (Filmrolle).


 


Montag, 25. Mai 2020


Die Speisung der 6000



Wer immer weitermacht und die Flinte nicht voreilig ins Blogfeld wirft, erreicht auch runde Sachen. 6000 Tage Das hermetische Café, das sind umgerechnet ungefähr 237 Jahre Bloggen! Wer hätte das gedacht, damals als man Blogtexte noch mit der Pferdekutsche zum Briefkasten bringen mußte, damit der Herr Olbertz die auf seiner Plattform einstellen kann.

Dem Kontaktverbot ist geschuldet, daß es keine große Party gibt. Soviele Mitglieder hat ein Haushalt nicht. Andererseits auch schade, denn ich war am Wochenende fleißig und habe extra eine Hypnotisiermaschine gebaut. Die hätte ich gleich ausprobieren und die Trägen munter, die Rastlosen ruhig und die Erzürnten sanft machen können. Ein diplomatisches zirkuliertes "Ruhe im Karton!" hat schließlich oft schon Wunder gewirkt.

Auch hier hoffe ich, den Betrieb wieder ein bißchen anzukurbeln und regelmäßiger zu schreiben. Aber von Ankündigungen ist noch keiner satt geworden. Ich bin also selbst am meisten gespannt.


 


Sonntag, 24. Mai 2020


Das kurze Kino



Krise frißt Kultur: Leider mußte das von mir ausgedachte und praktischerweise auch gleich kuratierte David-Lynch-Talentfestival wegen Corona abgesagt werden. So wurde auch mein munter-dilettantischer Auftaktbeitrag über einen merkwürdigen Waldausflug nicht richtig fertig. Wie überall derzeit: Kaum hebt man die Stimme, wird man ausgebremst. Ausweichen ist die neue Lebenskunst. Zum Beispiel, anstatt Escape-Room-Rätsel lösen, einfach mal die Tarifpläne von Deutscher Bahn, HVV und Niedersachsen durchdringen, ohne Kompaß, ohne Führer. Und ohne Machete natürlich. Es ist ein Dschungel dort draußen.

Mit flackerndem Rotlicht, aber in Schwarzweiß, kommt überraschend David Lynch persönlich angefahren und sorgt für filmische Entschädigung. Der Youtube-Kanal David Lynch Theatre wird zum Autokino für daheim (Zeit, die Kekskrümel vom Rücksitzsofa zu kehren) und präsentiert den kuschelig animierten Kurzfilm Fire (Pozar). Marek Zebrowski (mit dem Lynch schon bei "Polish Night Music" zusammenarbeitete) spielte die Musik mit dem Penderecki String Quartet ein - ganz apart.

Wer es bunter mag, findet hier hingegen ein Vorstadtleben wie gemalt: Angenehm sorglos gezeichnet und unaufgeregt animiert, jongliert der so bezaubernde wie leise verstörende, mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm The Noise of Licking von Nadja Andrasev mit vielen Themen, die mich interessieren. Pflanzen zum Beispiel. Neben den Pflanzen gibt es eine blumenliebende Frau, eine voyeuristische Katze und einen seltsamen Besucher. Dressed in Black.

Super 8 | von kid37 um 14:43h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 17. Mai 2020


Vom Blatt in die Hirne



Das Leben ist keine Loggia. Deshalb lungerten Literaten im letzten Jahrhundert in Cafés und spelunkigen Nachtschuppen rum, zwecks Weltdiskussion und trunkenen Untergangsshantys. Gedichte dann als Après-Pulverschnee: Hier ein Ach! und dort ein Oh! im zehrenden Ringen um A wie Anerkennung bis D wie demütigsten Dank Herr Doktor für die freundliche Überlassung von 100 Mark, die Sie garantiert zum nächsten 1. des nächsten Monats... Usw.

Walter Rheiner (1895-1925) hieß eigentlich Schnorrenberger, was vielleicht Programm war, sich aber nicht gut auf Buchumschlägen machte. Der Kölner trudelte gen Berlin und schrieb, nicht ganz unerfolgreich, Gedichte im hymnischen Exklamationsstil und veröffentlichte in den relevanten Magazinen der Zeit (u.a. Die Aktion, Der Sturm). Von Dresden aus betreute er auch selbst eine zeitlang die Zeitschrift Menschen und kumpelte ansonsten in der Szene: Rheiner, zeitlebens in finanziellen Nöten, war bekannt mit den Golls, Else Lasker-Schüler, Hasenclever und dem Maler Conrad Felixmüller, ergab sich sonst aber seiner Morphin- und Kokainsucht, tourte durch Heilanstalten, träumte vom Erfolg und erlag der Sucht (und Hoffnungslosigkeit) mit 30 Jahren.

Frau und Kind (ein zweites war in einem Berliner Kinderheim) harrten derweil bei der Mutter in Köln auf Fortschritte oder wenigstens Geld für Brot und Marmelade, während Rheiner den Hausstand versetzte und Bewerbungen schrieb, in denen er sich als "großer Dichter" pries. Überhaupt, neben der deprimierend vorausschauenden Novelle Kokain (1918) ist seine Korrespondenz voller faszinierender Einblicke. Stell dir vor, jammerte er nach Hause, da habe ihm ein Kollege Geld gepumpt, hinterrücks (!) aber bekundet, er, der große Dichter Rheiner, ob der sich nicht schäme, solle mal Verantwortung für Frau und Kinder übernehmen, quasi was arbeiten und nicht im Wirtshaus rumhängen. Eine Unverschämtheit! Rheiners Frau Friederike, genannt "Fo", schrieb allerdings statt Trost zu spenden kühl zurück, sie könne diese Anwürfe allerdings Wort für Wort unterschreiben, wie lange er denn noch auf den Durchbruch als großer deutscher Dichter warten wolle und ob es nicht an der Zeit sei, sich um die Familie zu kümmern. Da war der Rheiner ganz zerknirscht und gelobte Besserung, kam aber weder von der Nadel noch von der Selbstverblendung los. Den Rest erledigte das Großstadtgetriebe.

Hundert Jahre später diesem Ehekrach (Friederike ließ sich scheiden) beizuwohnen, ist ein wenig wie bestimmte Blogs lesen und sich - ganz unliterarisch - einen Reim zu machen. Eine fröstelige bis muntere Faszination. Seine Gedichte zeigen einen wohl oft von sich selbst überwältigten Autor, haben dabei aber häufig eine hübsche Schonungslosigkeit. Expressionistische und erstaunlich aktuell wirkende Stadtbeschreibungen sind darunter wie In Wandel-Halle eisig kalter Tage/Erschauern wir. Wir liegen in den Ecken/Uns überfährt (mit grobem Fluch) ein Wagen.

Der schönste künstlerische Nachruf stammt vom Freund Conrad Felixmüller, dessen Bild den Rheiner zeigt, wie er endlich in den Himmel steigt, die Spritze noch in der Hand.


 


Mittwoch, 13. Mai 2020


Altmannbetrachtung


Pandemiepusteblumenfrisurvergleich (Beweisfoto 1)

Hinter dem Schlafraum hatte Man Ray sein Fotolabor eingerichtet, das so eng war, dass nur er allein Platz darin fand. Dort standen auf einer roh gezimmerten Ablage ein altertümliches Vergrößerungsgerät und auf den Regalen an den Wänden diverse Flaschen und Entwicklerschalen sowie ein Stapel sauber beschrifteter Schachteln mit Negativen und Kontaktkopien. Das Durcheinander auf dem Arbeitstisch und der auf den den Dingen liegende Staub verrieten, dass der Künstler in diesem Labor schon lange nicht mehr gearbeitet hatte. (Herbert Molderings, Atelier Man Ray, S. 6.)

Manchmal ist man den großen Vorbildern so nah. Beim Umräumen in den letzten Tagen, während ich zwischendurch immer wieder mal meinen neuen Akkuschrauber kurz anlaufen ließ, ein wohlig schnurrendes Duett gaben wir da beide, stieß auch ich in tieferen Grabungsschichten auf meine Dunkelkammer. Und siehe da: nicht nur verriet der auf den Dingen liegende Staub, daß der Künstler hier schon länger nicht mehr gearbeitet hatte, es fanden sich auch allerlei Entwicklerschalen und Flaschen, sauber beschriftete Kartons mit Negativen und Kontaktabzügen sowie ein als "altertümlich" bezeichenbarer Vergrößerer darin. Fast hätte ich erwartet, daß Herbert Molderings klingelt, der in zeitgenössischen Latzhosen gekleidet Man Ray und dessen Wohnatelier in den 70er-Jahren in Paris besucht, alles durchfotografiert hatte und später ein Buch dazu veröffentlichte.

Das neue Regal strahlt nun Arbeit & Struktur aus, die Arbeit über Kopf hat neuentdeckte Muskelgruppen aktiviert, und meine vom Sturz im frühen Jahr lädierten Hände schmerzen wieder ganz ordentlich, es ist also noch Leben darin. Oder ein Trümmerbruch. Bin also bereit, wenn sich in Hamburg alles wieder öffnet, mich in dunkle Kammern zurückzuziehen oder besser gesagt, den heimischen Rotlichtbezirk. Allzeit bereit!

Derweil beobachte ich fasziniert wie ein moderner Robert Anton Wilson das Summen von Verschwörungstheorien. Ich habe auch eine neue Erkenntnis gewonnen: Covid-19 verwandelt Köpfe in Pusteblumen! (s. Beweisfoto 1) Ob der von Pathologien besessene Hamburger Pathologieprofessor dies wohl bestätigen kann? Morbus Löwenzahn nennt der Pschyrembel dieses Phänomen. Eine der nächsten Auflagen wird dies bestätigen. Weht mir erst der Wind durchs Haar, verstreue ich mich in alle Welt. In tausend kleinen Strahlen.