Montag, 13. April 2020


Hefeland

"Was, wenn es jetzt für immer so bleiben wird?" fragte Eva, während sie sich kleine Krümel von Sauerteig von den Fingern puhlte. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster. In der Ferne bellte ein Hund.

So beginnt mein aufsehenerregender Debütroman Hefeland, der eine melancholische, aber schonungslose Studie über ein Land und seine Bewohner in Zeiten der Pandemie abliefert. Ich hoffe, daß mir die Kaltmamsell dieses Einkaufsfoto für das Cover zur Verfügung stellt. Der Rest geht dann fluffig wie von selbst auf: Bachmannlesung, Sondertisch, Dennis Scheck, Abverkäufe.



Bis dahin lebe ich maskiert und weitgehend distanziert (aber nicht arrogant) in meinem kleinen Leuchtturm am Rande der bewohnten Stadt, höre abwechselnd Karen Daltons schonungslose, aber melancholische Interpretation von Something On Your Mind und dem schonungslosen, teilweise wild enthemmten Konzert der Gänse unten auf dem Wasser. Die Natur holt sich derzeit eben alles zurück, da beißt die Maus keinen Faden ab oder der Fuchs ins Gänsebein. Nur immer mehr Sonntagsausflügler, die früher über Land gefahren sind, verirren sich jetzt hier ins Gewerbegebiet, wo ich meine zart verhüllten Radausflüge unternehme. Unangenehm.

Zur Ablenkung lese ich in einer munteren Sammlung von schundigen Polizeiberichten aus dem viktorianischen England. Da fallen von einem Supermond gelockte Somnambulisten von Dächern und gehen entzwei, rippern sich Bösewichte durch fahl beleuchtete Straßen, Geister irren umher und erschreckem unschuldige Leute. Verwirrte ältere Damen hamstern Katzen in ihrer Wohnung, kluge Hunde helfen Polizeimännern oder retten Kinder vor dem Ertrinken, in Schaubuden sind seltsame Menschen zu betrachten, der ein oder andere Artistentrick schlägt auf fatale Weise fehl. Eine nicht sonderlich gut erzählte, eher anekdotenhaft aneinandergereihte Sammlung aus dem Vermischten früherer Tage. Aber unterhaltsam, akkurat zusammengetragen (aus dem Revolverblatt Illustrated Police News) und mit einem Index versehen - etwas, das man aus deutschen Verlagen ja kaum noch kennt.

(Jan Bondeson. Strange Victoriana. Stroud, Gloucestershire: Amberley Publishing, 2016.)


 


Freitag, 3. April 2020


Das Haus der Krokodile



In Zeiten der großen Heimisolation haben manche begonnen, komplexe Sprachen zu lernen, Kochrezepte oder sogar ein bislang unterrepräsentiertes Musikinstrument. Andere bringen ihren Haustieren lustige Tricks bei. Mir ist ja die ganze Welt ein Instrument, daher sah ich meinem Hauskrokodil ins noch unfertige Auge und lehrte es geduldig, selbst noch einen Tick geduldiger mit weit geöffnetem Maul dazusitzen. Wir haben das jetzt ein paar Mal geübt, und ich kann nun meinen Kopf zwischen die beiden kräftigen Kiefer legen (und im zweiten Schritt drei Rollen Klopapier jonglieren, die ich gerade noch im Supermarkt ergattern konnte). Wie Krokodilbesitzer wissen, neigen diese Tiere leider zu Halitosis, weshalb es ratsam ist, die über der Nase gut geschlossene Behelfsmaske auch in der Manege zu tragen. Ich habe bislang leider noch keinen diplomatischen Weg gefunden, das Thema Mundgeruch anzuschneiden, ohne die bekanntlich empfindsame Seele des Krokodils zu verletzen.

Wofür braucht man das? Das ist eine Frage, die sich selbstverständlich aufdrängt, wenn die Gedanken sonst nur um "Mehl" und "Hefe" kreisen. Ich aber muß an die Zukunft denken. Irgendwann werden wieder Straßenkünstler gesucht, die vor einer imaginären Glasscheibe stehen oder aus dem Atem eines Krokodils die Zukunft vorhersagen. Vielleicht ruft auch der Cirque du Soleil an, der mich bittet, meinen Kroko-Akt auf dem Hochseil vorzuführen. Bleibt gesund und habt Ideen!

>>> Geräusch des Tages: Echo and the Bunnymen, Crocodiles


 


Mittwoch, 1. April 2020


Merz/Bow #60

Vor ein paar Jahren hatte ich einen zarten Flirt mit einem Pferd, das einer Bekannten gehörte. Seither erst weiß ich, daß Pferde für den Auslauf auf gut ausgestatteten Reiterhöfen in so Karussells gepackt werden, wo sie - hübsch getrennt in einzelnen Kammern - eine halbe Stunde im Kreis laufen und Strecke machen können gegen die Langeweile. Na ja, ihr kennt das ja sicher gut von euren eigenen Hamsterrädern.

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Als gesetzter Herr von roundabout 37 Jahren kann ich natürlich rund um meinen kleinen Leuchtturm nicht mehr so Rumhüpfen, aber der Kontakt zur Außenwelt soll ja nicht völlig abreißen. Ich habe daher umständlich ein modernes Bildübertragungssystem installiert, um vor interessiertem Publikum regelmäßige Quarantäneansprachen zu halten und besonders Vertraute zum Greifen nah zu haben. Was es alles gibt fürs Heimkontor.

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David Lynch wurde für Mulholland Drive 2001 zwar mit Preisen überhäuft, fand in Hollywood aber kaum noch Geldgeber, drehte (digital) 2006 noch Inland Empire, ansonsten aber vor allem (groteske) Kurzdokus oder Werbefilme. Zwischendurch stand er in den Nullerjahren meist im Atelier, baute Skulpturen aus Holz und Gips, malte und druckte und sichtete sein Werk. So wie seine Präsenz auf Kinoleinwänden ab 2000 abnahm, stieg sie in Galerien und Museen. Von den zahlreichen Werkschauen und Sonderausstellungen sind mittlerweile einige Kataloge erschienen. Zuletzt nun bei Prestel der Band Someone is in my House. Darin sind viele bekannte, gut kanonisierte Gemälde und Zeichnungen, aber auch einige recht aktuelle, dazu Verweise auf Twin Peaks: The Return. Wer also sowieso alles haben will oder überhaupt noch keinen Bildband zu Lynchs malerischem Werk besitzt, findet hier einen guten Einblick.

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Aus Übersee wurde ich unterdessen auf den wunderbaren Film Hotel Splendide aufmerksam gemacht, der hierzulande nie richtig erschienen ist, obwohl er mit Toni Collette und Daniel Craig recht prominent besetzt ist. Immerhin gibt es eine DVD-Ausgabe (OmU), für Leute, die so was noch kennen. Visuell rückenmarkgespeist von den Filmen Jean-Pierre Jeunets und Marc Caros (vor allem natürlich Delicatessen und Die Stadt der verlorenen Kinder), dazu versetzt mit britischem Sarkasmus, verzerrt die muntere Groteske das titelgebende Hotel zur Psychocouch: Eine verkracht-verbogene Familie hält auf einsamer Insel den Betrieb aufrecht, während das viktorianische Gebäude immer mehr zum "House of Usher" verschrägt. Gestörte Mutterbeziehungen, Eifersucht und Neurosen sorgen für nach Leib und Leben trachtenden Exzessen und tragischen Liebschaften, während unten, tief im Unterbewußtsein Keller eine rumpelnde, nur von Eingeweihten zu bedienende Maschine durch wie Eingeweide mäandernde Rohrsysteme die Heizung befeuert - angetrieben von den Exkrementen der Hotelbewohner (da nutzt auch kein Papier). Das ist teilweise derbe, oft munter, manchmal romantisch, toll gespielt und stets wunderbar ausgestattet - wenn auch nicht so über-originell, wie man wünschen könnte. Schönes Abbild des ein oder anderen Quarantänekollers in splendid isolation aber.

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Ich selbst räume ja gerade ein wenig im Keller auf, sortiere eingetrocknete Wandfarbe von der letzten Renovierung 1910 beiseite, entdecke Gegenstände, deren Bedeutung mir nicht ganz klar ist, dabei immer bedroht vom auf halb acht hängenden, mir gefährlich zugeneigten Regal, das aber nächste Woche schon endgültig rausgeflext werden soll. Es ist eine Zeit der Prüfungen und des Aufräumens und des Neuanfangs. Zähne, Toilettenpapier und Nahrungsmittel zusammen-, alles andere bitte auf Abstand halten. Bleiben Sie gesund!

MerzBow | von kid37 um 00:22h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 27. März 2020


Ein Blob namens Wilson



Um Vereinsamungsnachteilen während der Heimkontorarbeit zu entgehen, habe ich mich mit neugewonnenem Interesse anderen Lebewesen zugewandt. Da ist der durch eine Heißklebepistole zum Leben erweckte Oktopus (derzeit noch Quattropus), der nun in meinem Bad lebt und mit mir launiges Liedgut unter der Dusche absingt, andererseits aber ein manchmal irriterend hartnäckiges Bedürfnis nach philosophischen Gesprächen hat. Ich bringe ihm derzeit das Schachspielen bei.

Dieses andere Lebewesen kann dies vermutlich schon. Der Blob (Physarum polycephalum ), ein Schleimpilz, der sich auf der Suche nach Haferflocken mit verblüffender Effizienz durch Irrgärten bewegen und recht "bewußte" Ernährungsentscheidungen treffen kann (in beiden Bereichen ist er den meisten Menschen im Supermarkt voraus), lebt zum Glück nicht in meinem Bad. Dafür in meinem Kopf, denn dieses Dings regt, wie man so schön sagt, zum Nachdenken an. Eine Doku auf Arte erklärt den Superorganismus.

Sollte er wirklich, wie im TV-Beitrag beschrieben, dereinst wie in einem Jules-Verne-Roman die Reise ins All antreten, wird er die neue Laika sein. Ein scheinfüßiges Superwesen auf dem Weg, wo nie ein Mensch den Fuß hinsetzte. Während wir uns immer mehr einigeln, bedroht von unsichtbaren Gefahren wie sonst nur im 50er-Jahre-Trash-Scifi-Film, düst der Superschleim von Porridge ernährt in unendliche Weiten davon. Guten Flug, kleiner Blob!


 


Montag, 16. März 2020


Aus dem Familienalbum #2



Mein Urgroßonkel Stanislaus, von dem leider nur dieses verwaschene Foto existiert, fand nach dem großen Krieg keine Arbeit mehr und war fortan als sogenannter Wanderimker unterwegs. Mit einem an einem Wanderstock befestigten Bienenkorb zog er über die Dörfer, hielt mal an diesem Heidebusch oder an jenem Akazienbaum, so muß man sich das wohl vorstellen, hielt auch mal Rast an einem Rapsfeld und reiste auf diese Weise immer der wechselnden Blütenfolge nach. Zum Schutz vor den Bienen, die ihn aber gut kannten und selten stachen, hielt er dabei ein Ringnetz vors Gesicht so wie ein Detektiv seine Lupe halten würde.

Stanislaus war findig im Finden, hatte ein Näschen für duftende Blüten und fand so immer die besten Weideplätze für seine summsigen Immen. (In Wahrheit, so ist zu vermuten, waren es die Bienen, die ihre Späher und Scout vorschickten und deren Navigationstänze er lesen konnte. So nahm er seinen "Bienenstock" und ging den Blütenständen einfach entgegen.) Sein Honig galt als exquisit und war daher besonders begehrt. So erhielt er 1927 auch die begehrte Jahresmedaille Goldene Wabe des Imkerverbandes. (Dies war sicher der Anlaß für das Foto, auf dem er die Wabe wohl um den Hals trägt, so weit man das erkennen kann.)



Die Medaille findet sich noch heute in unserer Familienschatulle. Ein Glas Honig ist leider nicht erhalten geblieben, die Vorräte wurden irgendwann zu Notzeiten aufgebraucht. Nun, da ich zuletzt gebeten wurde, für mich selber und meinen beruflichen Wanderweg neue Ziele und Ideen zu entwickeln, hatte ich den Plan, Onkelchen Stanislaus' Tradition als Wanderimker aufleben zu lassen und selber mit einem Bienestock (auf einem Tragestell auf dem Rücken vielleicht oder auch am Wanderstock befestigt) umherzuziehen. Dabei würde ich heute, wo ein Großteil unseres Honigs gemäß Warendeklaration vorzugsweise aus "EU- und Nicht-EU-Ländern" stammt, aber eher in der Wissensvermittlung arbeiten wollen. So könnte ich vielleicht umherwandern und Schulen und Kindergärten besuchen, um Kindern die Welt der Bienen zu erklären. Ganz ohne Maja-Kitsch und nostalgische Verklärung. Leider kam jetzt die Schließung dieser Einrichtungen dazwischen und meine Idee starb einen schmerzlichen Drohnentod.

Stanislaus' Spuren verloren sich irgendwo bei Lüneburg. Vielleicht traf er eine kesse Biene, die ihn in ihre Wabe lockte, so die Version, die wir als Kinder öfter hörten. Vielleicht, so meine dunkel bewolkte Befürchtung, wurde er in einer stürmischen Nacht von seinem Volk erstochen, das seine Panikbeute verteidigen wollte. Ein König Lear der Bienen, der einsam und zerstochen in der Heide endete.


 


Montag, 9. März 2020


Walk Like A Giant

I used to walk like a giant on the land
Now I feel like a leaf floating in a stream

(Neil Young, "Walk Like A Giant")



Wie sich ältere Leser hier erinnern, habe ich ja lange in einer Gartenzwergfabrik gearbeitet. Keine große Kunst, aber was Nettes und überaus Sinnvolles für die Leute, manchmal spöttisch belächelt, aber im Grunde eine coole, kreative Sache. Wie manche wissen, ist damit nun Schluß, weil die gesamte Firma entkernt und ohne Stammpersonal, wenn auch mit den alten Gußformen, weitergereicht wurde. Letzte Woche habe ich die wirklich allerletzten Arbeitsmaterialien abgegeben und den letzten Sachverwaltern im zugigen Gebäude (tumbleweed!) kämpferisch die Faust gezeigt und auf Hamburgisch "Tschüß!" gesagt.

Jetzt erst mal Altsackphase, feucht-fröhliche Auskehr, Fenster auf und frische Luft, Gedankenkeller ausmisten und Schuhe frisch geputzt. Mit 37plus denkt man schon mal an Fahrtrichtungsänderung raus aus der Drei-Meilen-Zone. Stichwort: die alte Familienimkerei wiederbeleben und mit sieben Hühnern und drei Ziegen auf den Resthof im Mecklenburgischen ziehen. Eine Garagenband (Name: "Drei Pfeifen im Wind") gründen. Nach New York ziehen, um es dort zu schaffen.

Viele muntern mich auf ("Junge Leute werden immer gesucht!"), andere prüfen schon mal die Bausubstanz. Ich habe fünf Schubladen voller Pläne, fühle mich aber auch ein wenig müde. Aufgabe also: einmal komplett umstülpen, dann wie ein stures Pferd voran. I wanna walk like a giant.

>>> Geräusch des Tages: Neil Young, Walk Like A Giant


 


Donnerstag, 5. März 2020


Ährenmord



Schutzmasken sind all überall ausverkauft. Ich habe nun einfach eine alte Kupferplatte poliert, zurechtgebogen und gelötet und einen Helm zurechtgedengelt. (Und bevor wieder einer meckert: Ja, es fehlen noch die Nieten und natürlich der Schlauch für die Sauerstoffzufuhr.) Bald kann ich auch mal wieder raus und die Sonne genießen.

Willst du aber auch das Internet erobern, so heißt es, vergiß die Katze nicht. Wenn ich dann aber mal ein mir gerecht werdendes Katzenbild im Internet posten will, stößt das nicht immer auf die erhoffte Anerkennung. Mit anderen Worten: Nicht alles, was man in Workshops über neue Medien lernt, führt auch zum Erfolg. Die Lage ist häufig unter schwierigen Umständen wie in einer dunklen Tiefsee erstarrt.

Ich könnte es dafür mit dem Schreiben probieren. Das machen viele, so höre ich. Und viele schreiben in letzter Zeit in der heimischen Provinz angelegte Kriminalromane. Ich könnte daher, sollte ich bald einen Resthof mit drei Ziegen und sieben Hühnern bewirtschaften, ein bäuerliches Milieu beackern und aus dem Bauchladen heraus den vorbeituckernden Treckerfahrern nach ihrer Demo jeweils ein Exemplar verkaufen. Der Auftakt meiner Kriminalromanreihe hieße nämlich: Ährenmord - Ein Bauernkrimi.

Nebenher will ich dann ein Geschäft als Blumenfotograf aufbauen. Da es schon sehr viele, sehr gute Blumenfotografen gibt, werde ich es als sehr schlechter Blumenfotograf probieren, denn in diesem Bereich, das haben meine Marktstudien ergeben, klafft noch eine Lücke, die es zu füllen gilt. Wundert euch also nicht, wenn ihr einen zauseligen Mann mit Taucherhelm Strohhut auf Hamburger Märkten herumlungern seht, der Bilder von ebenso zerzausten Blumen feilbietet.