Sonntag, 10. November 2019


Tiers in the Rain



Weil die große Frage im Film die nach der Zeit ist, die uns bleibt, ist es kein Zufall, daß der Blade Runner im totenfeiertagsreichen November spielt. Und zwar exakt in diesem November nämlich, 2019. Vieles aus diesem Film, so zeigt ein Rundblick in die Gegenwart, ist ja tatsächlich eingetreten. LED-Werbedisplays überall in der Stadt, die in U-Bahnstationen "wahre Früchte" bewerben oder Hamburger Leichtbier. Autonom agierende Staubsauger, schwirrende Drohnen, bald auch "Flugtaxis" - zumindestens aber allseits verfluchte Roller - und Menschen, die nicht mehr wissen, ob ihre Erinnerungen die eigenen sind oder bloß von ihrem Instagramaccount suggeriert wurden.

Im Freundeskreis faltet die ein oder andere Origami, papierne Tiere, die sich im Regen rasch auflösen. Als Android der 37. Generation bin ich kaum von einem Menschen zu unterscheiden, denke ich, auch wenn da draußen bei der einen oder dem anderen sicher - im EEG aber kaum zu dokumentierende - Zweifel bestehen.

Was ich sah, wird allerdings nicht wie Tiers im Regen verloren gehen, sondern nur, wenn die Blog-Server von einem elektromagnetischem Sturm zerstört werden. Oder einer mächtig dazwischenhauenden Androidenfaust. Oder einem böswillig vom Kurs gehackten Flugtaxi.

Super 8 | von kid37 um 02:37h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 7. November 2019


Rückspiegel



Man müßte das mal rückblickend zusammenstellen. Die Art, wie sich Farben in den Jahren verändern. Herbstmode dieses Jahr ist offenbar so ein Graublau- oder wie die Modeexperten sagen: ein Blaugrauton. Kontrastiert durch signalfarbene (und vielleicht auch richtungsweisende) Rotweiß-Akzente. Sehr schmackhaft übrigens.

Weitere Schnittmenge: Tiere. Norbert Scheuers Winterbienen war mir bei Erscheinen natürlich aufgefallen, aber die letzten Erfahrungen mit zeitgenössischer deutscher Literatur haben mich zögern lassen. Jetzt, wo das Buch ins Haus gesummt kam, muß ich sagen: Der Auftakt ist überraschend einnehmend. Seine Geschichte und sein Thema einkreisend wie ein Schwänzeltanz. Details werde ich einfühlend bei Brehm nachschlagen, der knochentrocken festhält: "Alle Schweine der Erde ähneln sich in ihrem Leibesbau und Wesen". (Die Illustrationen der sehr schönen Ausgabe vom Duden-Verlag sind ebenfalls eine Wucht.)

Man muß den Dingen ins Gesicht und dem Energiefluß in die Steckdosennase sehen. Die letzten Woche bescherten Formulare, Zahlen, Rechenmodelle, Termine und Gespräche, ein Summen wie im Bienenstock. Während ich über einen Urlaub nachdenke, erreichen mich Karten aus anderen Zeiten und Ländern. England nämlich. Vielleicht sollte ich die Chance nutzen, solange es noch einfach ist.

Mittlerweile, ganz anderes Thema, bin ich in der achten Staffel von Murdoch Mysteries angekommen. Nach der noch etwas steifen (und viel zu indianerstark geschminkten) ersten Staffel, hat sich die Serie wie so viele ab der zweiten freigespielt, ab der fünften wird amüsierend locker mit dem mittlerweile erreichten Kultstatus (also im Heimatland Kanada) gespielt. (So gibt es eine selbstironische Folge über den "Murdoch Appreciation Club", wo eine Gruppe Fanboys und -girls einen Mordfall konstruiert, um ihr Idol aus nächster Nähe bei der Ermittlungsarbeit beobachten zu können.) Gesellschaftliche Veränderungen um 1900, wie der Kampf um Frauenrechte, spielen ebenfalls mehr und mehr eine Rolle. Hübsch sind die vielen Anspielungen (gerade habe ich eine Folge gesehen, in der Murdoch als eine Art "Indiana Jones" in den "Tempel des Todes" muß.) Der große Kniff der Serie, den anachronistischen Blick auf die Technikgeschichte, der mal vor- oder auch zurückdeutet, ist nach wie vor der größte Spaß. Murdochs Basteleien und Erfindungen (zwischendurch hat er auch ma eben eine Gangschaltung adaptiert, um an einem Radrennen teilzunehmen - nicht des Rennens wegen,, sondern als "Proof of Concept") sind immer noch teils irrwitzige Beispiele der Entwicklung in der Foresnik: So entwickelt er die von ihm erfundene automatische Kamera mit einem kleinen Ballon zur Drohne weiter, um Luftaufnahmen machen zu können. Letztlich alles ein milder Humor für erschöpfte Menschen, die sich nach einem harten Tag auf Twitter nicht mehr aufregen wollen.


 


Montag, 28. Oktober 2019


Mensch im Eisen

Mein Tagwerk ist: im engen Kesselrohr
bei kleinem Glühlicht kniend krumm zu sitzen –
an Nieten hämmernd in der Hitze schwitzen.
Verrußt sind Aug' und Haar und Ohr

(Heinrich Lersch, "Mensch im Eisen". 1907)




Den Schreibtisch aufgeräumt, Schlüsselkarten abgegeben, wie ein Eichhörnchen oder ein Trupp fleißiger Ameisen alles, was ich nach und nach im Spind ausgelagert hatte, emsig wieder nach Hause transportiert.

Mein erstes Coaching absolviert in moderner Kommunikation und Gesprächsführung. Gelernt, daß es in Diskussionen nicht "Gott, sind Sie blöd!" heißt, sondern "Entschuldigen Sie, mein Fehler. Ich dachte, Sie hätten studiert." Interessant, aber wenn es einem zu einer gewissen Parkettsicherheit verhilft, soll es kein Schaden sein.

Ich kuratiere jetzt nur noch ernsthafte Fälle und rechne gerade ausstehende Gelder zusammen, weil ich ein Gemälde erwerben möchte, um einen späteren Dienstherren zum Essen einladen zu können. Es sind die kleinen Dinge und Details, die zählen.

Die Jahre zähle ich nicht zusammen. Ich erfahre, daß es da unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt, die Endergebnisse über Stufen hinweg nach oben oder unten und vielleicht sogar seitwärts verschieben können. Ich bin aber sicher, es gibt Menschen, die kennen sich mit derlei Rechenödnis wunderbar aus.

Das ist ja auch eine Kunst, wie überhaupt alles Kunst sein sollte.


 


Sonntag, 20. Oktober 2019


Monkey Business



Patti Smith und ich haben einiges gemeinsam, darunter das Problem, daß unsere Kameras nun "out of film" sind. Ich habe mir ja nie Gedanken darüber gemacht, denn schließlich gibt es das Impossible Project (heute: Polaroid Originals), das vor zehn Jahren Maschinen von Polaroid in den Niederlanden übernahm - und vor allem Fuji als Anbieter einer großartigen Schwarzweiß-Variante. Damit ist es aber für diesen Typ Kamera vorbei, und die letzten Chargen werden aus obskuren Quellen auf eBay zu Mondpreisen verhökert.

Eine Affenschande ist das, und so werde ich mich wohl mit Mrs. Smith auf (rein literarische) Wanderschaft durch Widrigkeiten und problematische Umstände begeben, was sicher gut zum Ausklang meines eigenen Jahres paßt. Es wäre aber auch eine Idee für eine eigene Wanderung mit dem Elektroscooter durch die "Mark Brandenburg", möglicherweise findet sich dort in einer in einer Scheunenecke abgestellten Kühltruhe noch eine große Charge Sofortbildfilm. Könnte doch sein - nur ein unbeirrbarer Glaube führt letztlich zum Erfolg.

Vor ein paar Jahren hat Patti Smith in Paris eine Ausstellung mit ihren Polaroids gemacht, begleitend gab es dazu einen exquisit aufgemachten Bildband, der so heißt wie die Kamera, nämlich Land 250, und nun ebenfalls zu Mondpreisen verhökert wird. (Wer den mal günstig sieht, sofort kaufen! Es gibt kein Bereuen.)

Jetzt in der Blüte meines Herbstes erfrischt es auch, wenn ein kühler Wind durch die goldbehangenen Bäume weht. Was jetzt nicht taugt, stirbt ab und kommt in die Scheune. Der Rest wird ordentlich durchgefegt. Nur wer jetzt keine Fledermaushöhle hat, der findet keine mehr. Ich hab' immerhin schon ein Kostüm.

(Patti Smith. Year of the Monkey. New York: Alfred A. Knopf, 2019.)


 


Montag, 14. Oktober 2019


Tagfalten


(Bild: Noah Doely)

Manchmal, wenn ich abends noch ein wenig gedankenverhangen in meinem Labor sitze, umgeben von den Träumen und Schöpfungen des Tages, ist mir ganz flattrig zumute. Man ist ja keine 37 mehr, ein Alter, in der Zukunft an jeder Ecke liegt und aus jeder halbgeöffnete Schublade drängt. Jetzt muß ich tatsächlich auch hier und da mal Pause machen. Und solange es ungewiß bleibt, ob ich ins neurowissenschaftliche Institut wechseln kann, wo man meinen Forschungen über Schmetterlinge im Bauch skeptisch gegenübersteht, wird die Pause vielleicht auch eine längere. Aber auch ich könnte mich noch in einen Schmetterling im Ringelhemd verwandeln!

Ich könnte endlich Autor meiner eigenen Geschichte werden, mich an Apfelessig beschwipsen und auf exotischen Wüstenplaneten traumversponnene Abenteuer erleben - das aber gibt es schon als brandneuen, knapp 20-minütigen Kurzfilm von Bertrand Mandico (dessen The Wild Boys diese Tage auf DVD und BR erscheint). In angemessen bekloppte 70er-Jahre-Ästehtik gehüllt, erzählt er in Extazus eine dunstig herbeihalluzinierte, pulpige Geschichte von wilden, queeren Kriegerinnen in schwülen Glitzerwelten. Wer sich das anschauen möchte, das Video liegt hier.

Zeitgleich läuft (u.a. auf der Viennale) seine ebenfalls ultrafrischer mittellanger Film Ultra Pulpe an, faul ist der Mann also nicht. Mir soll es ein Beispiel sein. Immer weitermachen!

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Donnerstag, 3. Oktober 2019


Sonnenenergie



Es wird kühl, vielleicht hat jemand die Sonne gegessen. Als aber vor Monaten bereits eine kleine Tageszeitung eine Rezension des neuen Buches der von mir ja streng sachlich geschätzten Floria Sigismondi (Redemption) veröffentlichte, war ich innerlich wie erhitzt. Da sonst nirgendwo etwas darüber zu finden war - weder auf den Kanälen der Fotografin und nicht einmal im Verlagsprogramm - hakte ich bei der kleinen Zeitung mal nach, denn es wäre nicht das erste Mal, irgendwo irgendwelche Phantomprojekte angekündigt zu sehen, aus denen nichts oder nur mit großer Verzögerung was wird. Die Antwort war von selten pampiger Natur (sie kämpfen dort um jeden Leser!), so daß ich zu dem Schluß kam, es wie ein Journalist Blogger besser einfach selbst zu recherchieren.

Und siehe da, dem freundichen Verlag sei dank, gab es rasch die Bestätigung (und dank freundlichem Buchversender auch ein existierendes Exemplar): Floria Sigismondis Eat the Sun. Die Fotografin und Regisseurin (ihre Fassung von Henry James' "The Turn of the Screw" erscheint 2020) hat nach den stilprägenden Bänden Redemption und Immune (beide ebenfalls Gestalten Verlag) ihre Porträtarbeiten der letzten Jahre zusammengefaßt. Exzentrische Bilder exzentrischer Künstler wie David Bowie und Tilda Swinton, dazu eine ganze Riege junger Schauspieler und Musiker (Sigismondi hat vor ein paar Jahren mit "MAMAROMA" auch ein eigenes Label gegründet) in bühnenhaften, symbolbeladenen Sets, dazu gibt es Stills aus der kleinen Reihe mit Kurz-Horrorfilmen, die Sigismondi für die New York Times gedreht hat.

Den Band kann sich jeder kaufen, der reinen Herzens und verständnisvollem Portemonnaies ist. Es ziert das Heim und macht bessere Menschen aus euch. Muß man nicht pampig werden.

(Floria Sigismondi. Eat the Sun. Berlin: Gestalten Verlag, 2019.)


 


Sonntag, 22. September 2019


"Dick Laurent ist tot."

Für die kommende Weihnachts- und Jahresendfeiersaison bereite ich gerade einen kleinen Kalender mit hilfreichen Small-Talk-Openern vor. Man stelle sich vor, man trifft einen wildfremden Menschen am Buffet und sagt launig und unkompliziert, während man Kleingeschnittenes von diesem und jenem auf den Teller schichtet: ""Chanel wird ja jetzt wieder mehr Coco". Durch die Beförderung von Virginie Viard zur obersten Chefdesignerin, wie wir alle wissen, aber das ist für einen Small-Talk-Opener schon zuviel der Information. Keep it simple, heißt auch hier die Zauberformel.

So ein Vorbereitungskalender kann wichtig ein, wie oft steht man da und hat kein passendes Wort parat. Mir selbst verschlägt regelmäßig die Sprache in solchen ungelenken Sozialsituationen meist aus unterforderter Langeweile oder einem zuviel an möglich-munteren Antworten (das Berliner Landgericht hat immerhin mit einem Urteil einer ganzen Reihe Wörtern soeben die Tür zum Alltag geöffnet), manchmal aber auch aus banaler Schüchternheit.

So, als ich gestern ein Netz Äpfel aus den Händen meiner Lieblingskassiererin im Supermarkt entgegennahm (vgl. Gen. 3.6), obwohl ich zuhause noch genug herumliegen habe. Aber so richtig ein eleganter Spruch fiel mir dazu nicht ein, man muß ja auch aufpassen beim Supermarkttalk. Hätte ich da nur meinen Kalender mit Jahreszeitendialogen gehabt! "Danke. Chanel wird jetzt übrigens wieder mehr Coco." Da hätte die junge Dame ("Bedienfrollein" sagte man früher) aber was zu überlegen gehabt und sich gefreut. "Chanel wird wieder mehr Coco", mein Eisbrecher für die kommenden Tage.

Neulich mußte ich schon eine überraschende Kommunikationssituation an der Sprechanlage meistern. Abends um neun klingelte es an der Türe, ein neuer Nachbar, wie ich über die Sprechanlage erfuhr, der mir gestand, daß er es war, der meinen Steuerbescheid aufgemacht und gelesen, dann aber immerhin in meinen Briefkasten steckte. Das Finanzamt hatte die Adresse tatsächlich falsch aufgeschrieben, der Zulieferer tat das nächste - und schon sah man mich verwundert mit einem aufgerissenen Brief am Kasten stehen. Nun aber auch an der Sprechanlage. Jedem fällt jetzt David Lynchs Lost Highway ein, die ominöse Nachricht zu Beginn - "Dick Laurent ist tot" - und jetzt warte ich auf vor der Türe deponierte verstörende Videonachrichten (auf VHS-Kassette). Erstmal aber stand ich abends um neun an der Sprechanlage und führte ein etwas surreales Gepräch sensiblen Inhalts mit einer ätherischen, mir unbekannten Stimme, die mir munter ihren Schreck über meine Steuersumme nannte (ich fühlte mit ihm), fürchtend (haha!), diese selbst als Steuerschuld zu haben usw. usf. Ich wollte den Mann auch nicht unhöflich abwürgen, hatte er sich doch netterweise zu seinem Faux-pas bekannt und mich damit auch ein Stück weit beruhigt. Wir tauschten unsere Berufe aus (sieh an, sieh an!), wobei ich denke, daß mir seiner noch nützlich sein könnte.

Wie gern aber hätte ich ihm auf dem abendlichen Weg ins Nachbarhaus ominös mit auf den Weg geraunt: "Chanel wird jetzt wieder mehr Coco." Da hätte er was zu Grübeln gehabt.