Samstag, 14. Juli 2012


IGEL-Leistung muß sich wieder lohnen



In der gleich der glücklichen Kühen von Hand abgemolkenen und von empfindungshungrigen Mäulern gierig getrunkenen Milch der frommen Denkungsart heißdurstig begehrten schreckschraubenlockeren Reihe Mit toten Tieren durch das Jahr kommen wir heute zum Igel [Erinaceus europaeus].

So ein Igel hat es schwer. An seinem Stachelkeid perlt nichts ab, so wie es Schmutz und Schmand an einer Ente tun. Die kann durchs Laub watscheln und schauen, unbeschadet auch mal nass werden, an ihr bleibt nichts hängen, keine Beschuldigung, kein böser Traum, kein Regen, keine Tränen, nichts. Der Igel als Sandrechen der Erinnerung harkt alles auf, beschriebenes wie unbeschriebenes Blatt, hält fest und ordnet und rackert sich auf diese Weise bis in den Herbst, nach dem ihm dann ein erschöpftes Schläfchen winkt. Die Unbekümmerten im Garten indes danken es ihm nicht. Sie säen nicht, sie rechen nicht, doch siehe, sie liegen doch den lieben langen Tag auf aufgeräumtem Rasen, betrachten dies als selbstverständlich und haben für das abendliche Schnaufen ihres Kollegen im Stachelarbeitsanzug nur Hohn und Schulterzucken übrig.

Wohl wird unser fleißiger Geselle darob pieksig, macht spitze Bemerkungen wie eine widerborstige Spaßbremse, die sich rückwärts durch die Luftballonparty einer Krankenkasse robbt. Was ihn schnell aus der allgemein akzeptierten, wohlgefälligen Inklusion befördert. Ehe er sich versieht, ist der Igel extra. Und ehe man sich selbst versieht, heißt es, Laub rechen? Das kostet extra. Denn der Igel macht katalogbestückt die beleidigte Diva, streckt zum letzten Gruß den Mittelfinger raus und sagt: "Genossen, wir hätten Freunde sein können. Aber jetzt macht euren Scheiß allein, ich mach die Biege", und flüchtet sich in seinen letzten Winterschlaf.


 


Donnerstag, 12. Juli 2012


News from the Bunker

Die letzten Tage führe ich eine Existenz ähnlich der von W. S. Burroughs, hocke zwar nicht tagein, taugaus in einem lichtlosen Bunker, meditiere dafür aber auf meinem Krankenlager - oder nennen wir es für die späteren Biografen Mein kleines Feldlazarett. Wo andere in Maklersendungen oder Kochshows versinken, reiße ich mich immerhin soweit zusammen, hübsch gemütlich durch kleine Stapel meines Lieblingsmagazins Cabinet zu blättern.



Das Quarterly for Art and Culture ist in Deutschland leider schwer aufzutreiben und von den mittlerweile 45 Ausgaben besitze ich auch nur knapp ein Drittel. Aber was für ein Genuß! Die einzelnen Ausgaben sind thematisch orientiert (hier ein Überblick) und versammelt dazu Beiträge, Bilder und Dokumente aus unterschiedlichen Disziplinen von Kunst und Wissenschaft. Themen wie "Friendship", "Dust", "Insects" oder "Insecurity" werden dabei in oft hochüberraschenden, kenntnisreichen Gegenüberstellungen von zumeist akademischen Autoren an ungeahnten Stellen angepiekst und seziert. Getrieben wird das Konzept von der Idee der Wunderkammer. Man stößt auf historische Experimente, bizarre Anekdoten von der Antike bis zur Moderne, historische Abrisse und gelehrte Streifzüge durch Philosophie und Kunst- und Kulturgeschichte. An die Seite gestellt sind themenbezogene Kunstprojekte, popkulturelle Phänomene oder literarische Exkursionen.

Wirklich vorbildlich ist die Gestaltung der einzelnen Hefte. Von einer Stiftung getragen, bleibt der Inhalt werbefrei. Dazu sind jeder Ausgabe ein eigens gestaltetes Lesezeichen und eine Ansichtskarte beigefügt, zu schade fast zum Heraustrennen, aber auch das ist ein psychologischer Test für Leser und Sammler. Dringend fehlen mir noch die Ausgaben "Ruins", "Forensics", "Magic" und "Doubles". Wer solche mal irgendwo verstauben sieht entdeckt, mache doch bitte Meldung an mich.


 


Mittwoch, 11. Juli 2012


Älter werden

Schönheit liegt manchmal im Beklagenswertem. Auf einer Welle eines diffusen emotionalen Gleichklangs empfinde ich gerade eine gewisse Verbundenheit mit diesem Gnadenhof. Die US-amerikanische Fotografin Isa Leshko hat für ein Fotoprojekt alte Tiere porträtiert. Tiere, wie wir sie normalerweise nicht sehen, weil sie als Nutztier unbrauchbar oder als Heimtier zu kränkelnd und zu leidend scheinen. Häufig aber, so vermitteln ihre ganz behutsamen Bilder, sind eben auch Tiere einfach nur alt, eine Betrachtung, die uns jungen, urbanen Fitness-Gestalten fremd oder sogar befremdlich erscheint. Auch so eine Studie in Würde und Durchhaltevermögen.



>>> Webseite von Isa Leshko.


 


Dienstag, 10. Juli 2012


Mal weitersehen



In meiner Bibliothek sieht es gerade etwas rumpelig aus, was daran liegen mag, daß mir mitunter das ein oder andere aus der Hand fällt. Aber Staubwischen und andere niedere hauswirtschaftliche Tätigkeiten führen derzeit zu nichts, auf meinem Weg zur Altmannwerdung benötige ich meine Kraft, mir Hilfsmittel zu Basteln. Eigentlich kein Spaß, reden wir hier doch über das weitreichende Thema Autonomie im Alltag. Mein neuestes Projekt in Sachen Überbrückungstechnologie bezieht sich auf die Amplifizierung meiner Sehhilfe, denn im Moment sieht manches ziemlich düster aus. (Keine Details.) Mit ein paar Klebepunkten und alten Brillengläsern habe ich nun probehalber hochgestapelt und kann nun immerhin diese chiffrierte Mitteilung tippen.

Auch kann ich erkennen, wer mir in den letzten Tagen ab und an Nahrungsmittel vor die Türe stellt und behauptet, meinen Vornamen zu kennen, während ich hier eine kleine unvorhergesehene Auszeit im Kriechgang nehme. I'm a Cyborg, But That's OK heißt es im Film, das könnte folglich noch eine spannende Unternehmung werden, wenn [Stromausf.]


 


Sonntag, 8. Juli 2012


Dog Star

Ein schönes Gefühl, denke ich still bei mir, als ich ein paar Hundehaare von meinem Teppich zupfe und zu einem kleinen Strang zusammenzwirbel. Auch so ein Anklang von Normalität, entspannt schnorchelnde Hunde auf meinem Teppich, in die diese Tieren in der ihnen oft eigenen Art von vertrauter Hingabe sich fallen lassen, arglos und anspruchslos, fast überall zuhause, wenn der Geruch und die Atmosphäre stimmen.

Durchatmen ins Nebenher, Türen öffnen und Fenster, wie ein Lotse vorsichtig die Untiefen umsteuern, Wege erkunden und Möglichkeiten, die Grenzen, die Kraft, die Leichtigkeit herausschälen, die fester geschnürten Sicherheitswege verlassen, mal tastend, mal forscher. Jeder Tag ein Trainingstag.

Selber oft hundemüde sein, sich einfach langstrecken wollen, sich einfach dazulegen, entspannen und den Rest irgendwie wie immer, einfach der Nase nach. Entdeckungen am Wegesrand.


 


Mittwoch, 4. Juli 2012


Die Suche nach dem Gottesteilchen

Scully: There's not going to be any
bride, Mulder. Not in this story.

Mulder: Where's the writer? I want to
speak to the writer.

(Akte X, "The Post-Modern Prometheus")



Als ich mich heute morgen beherzt von patenten Händen ins Auto verfrachten und ins Forschungszentrum bringen ließ, erwartete ich eigentlich, anschließend gleich die Fahrt ins CERN antreten zu müssen. Gleich einer Hochschwangeren habe ich ja seit ein paar Tagen mein Täschchen gepackt; wenn der Ruf mich ereilt, will ich bereit sein. Der vertretende Forschungsleiter aber griff nicht minder beherzt zu und ließ mich meine beeindruckende Physis präsentieren (auf Hacken laufen, auf Zehenspitzen laufen, auf einem Bein hüpfen - "Oh", sagt er, "ich halte Sie mal besser fest." - nur mit dem Zeigefinger meine Nasenspitze treffen mußte ich nicht zeigen, dabei hatte ich geübt!). Anschließend waren wir beide sicher, auch abseits eines fotografierbaren Beweises, im Besitz der Wahrheit zu sein. Freundliches Verständnis und verhaltener, sachlicher Ernst.

Danach dann die Frage nach der Konsequenz. Zugriff? Verhaftung? Untersuchungsgefängnis? Ich gab einen Bericht, danach sahen wir uns, wie Männer eben, tief in die Augen, so weit mir das in meiner persönlichen Story of an Eye bild- und erkenntnisgebend möglich ist (die Diagnosekriterien sind vielfältig, umstritten, aber immer interessant), und es wurde beschlossen: ambulante Untersuchungshaft, SOFA statt CERN, erstmal abwarten, sichten, konservativ handeln. Danach diskutieren, wie das Projekt weitergeht, ob man eine neue Stufe zündet.

Ich sage, ich sei zuversichtlich, die Wahrheit sei sicher irgendwo da draußen. Wir redeten hier quasi über Flugrost, das schmirgel ich zurecht.


 


Dienstag, 3. Juli 2012


I disappear



Aus dem Dunkel des Westwerks schält sich eine Woge heraus, strukturierter Lärm für die Sachlichen unter uns, dicht gepacktes Emo-Symphongetöse für die mit einer Erinnerung an hormonell ungezähmtere Zeiten. Zunächst walzen Disappears die deutlich post-punk-beinflußten Lieder ihres dritten Albums von der Bühne, kämpfen mit dem schwer zu kontrollierenden Sound im Westwerk, das eigentlich eine Kunstgalerie und nur nebenher ein Ort für Musik ist. An den Drums Steve Shelley, der Mann kämpft nicht mit dem Sound, der Mann ist der Sound. Vermutlich hat man sein Schlagzeug bis hinunter in die Bauruine der Elbphilharmonie gehört, damit da auch mal etwas Musik drin ist.

Star des Abends ist aber Lee Ranaldo, der - wiederum durch Steve Shelley mit seinem zweiten Arbeitseinsatz an diesem Abend verstärkt - sein Soloalbum Between The Times And The Tides vorstellt. Im Publikum viele junge Leute, Velvet-Underground-Mädchen, Kunstbubis und Langzeitvergessene, ein, zwei Anzugträger mit Blackberry und Begleitmenschen, dazu grauhaarige Altherrengymnasten wie mich. Zum Glück ist es nicht zuuu voll, zum Glück gelten im Westwerk besondere Lärmschutzbestimmungen, was die beiden Bands pünktlich beginnen und zeitig enden läßt. In diesem Alter, darin einen Vorteil zu sehen, bin ich also auch schon.

Die andere Hälfte von Sonic Youth also, auch mal ein Erlebnis. Am Ende spielt Ranaldo mit seiner Band noch ein Talking-Heads- und Sonic-Youth-Cover, wäscht uns von innen nach außen, pflanzt uns den Lärm ins Rückenmark, demonstriert, das daß Leben erst voller Rückkopplungen ins Rollen kommt. Eine diamantene See, durch die ich schwimmen will.

>>> Lee Ranaldo, Angels.

Radau | von kid37 um 14:12h | 3 mal Zuspruch | Kondolieren | Link