
Montag, 2. Juli 2012
ein Lied, danach seid ihr mich los.
(Bernadette Hengst,
"Ein Abschied zu viel")
Häufig an Stränden, oft aber auch im mehr oder minder zivilisierten Urbangefüge finden sich singuläre Erscheinungen, die man eigentlich (in freierer, naturbelassenerer oder schlicht idealisierterer Umgebung) paarweise erwarten würde. Verlorene, aber brauchbare Einzelstücke, Übriggebliebenes, Vergessenes oder doch Zeugen einer weitreichenden Geschichte. Blogger machte am Straßenrand grauenhaften Fund möchte man dichten, gleich einem Spurensicherungsteam des FBI ein Fähnchen plazieren, eine Kreidelinie zeichnen und eifrig in den Notizblock schreiben.
So ein einzelner Schuh liegt mit Blümchen gefüttert wie eine Abschiedszugabe, ein letztes Lied auf dem Weg, manchen vielleicht im Weg, die Linie dazwischen ist kunstlederdünn, man müßte schon tiefer graben, unter das Pflaster schauen, in den Büschen suchen, gefaßt und alles erwartend. Ein Abschied vielleicht, besser nur ein Kleiderwechsel, eine neue Hülle, die jemandem eine neue Zukunft verspricht. Fragt sich aber, was mit dem Zweiten ist. Wie der Abschied lief, zwischen dem linken und dem rechten, dem einen und dem anderen, dieses, du bleibst jetzt hier, ich aber humpel weiter. Auf einem Bein, ganz eine Seite, ganz ohne Balance, tapfer womöglich, vielleicht auch verängstigt. Verfolgt oder getrieben. Und wenn man Glück hat, ein Stück weit getragen.

Donnerstag, 28. Juni 2012
Da Selina ja überraschend ihr Blog geschlossen hat (Blogger.de-Insider), muß jemand anderes dorthin gehen, wo rostige Herzen von grünem Alienschleim zerfressen werden sanftschwere Wehmut pocht. Wie Menschen, die mich näher kennen, bereits wissen, schaue ich in letzter Zeit noch einmal alle Folgen der US-amerikanischen Krankenhausserie Akte X (dazu aber später mehr), in der zwei FBI-Agenten mehr als sieben lange Staffeln lang keine Dienstanweisung in ihrem Handbuch finden, ihren eigenen Fall zu lösen. Und danach ist es auch nicht einfach, aber Pst!, soweit bin ich noch nicht. Es soll Hoffnung herrschen im Hause, wenigstens da.
Aus manchen Dingen oder Erinnerungen kommt man nicht raus, warum auch, die sind wie ein Luftkissenboot über rumpeligem Grund. Das Reden nämlich in einer ganz eigenen Sprache, das Verstehen in wortlosen Gesten. Es wurde ja viel gelacht. Seltsam, andererseits, als ich mit einem Mal die Initialen neu las, als seien sie ein versteckter Hinweis aus einer X-Akte. Wie manches sich selbst einlädt, als sei es immer schon da. Und doch eine Sprache spricht, die niemand versteht. Mein größter Fall.

Mittwoch, 27. Juni 2012
Kleines Update: Es fehlen nur noch wenige Münzen, um das Projekt Tomorrow Can Wait zu realisieren.
Mit nur einem Dollar ist man schon dabei, wenn also nur jeder Zehnte der 2000 Leser hier heute statt Bubble-Tea eine Wertmarke für eine gute Sache erwirbt, dann ist das Ziel erreicht! Der Lohn? Neben dem Buch das Gefühl, mit duften Leuten eine super Sache unterstützt zu haben, so wie damals, als Bloggen noch Versprechen auf Unabhängigkeit und Gemeinschaft war. Dazu ein lobender Gedanke von mir und Inklusion ins Nachtgebet. Drei Tage sind noch Zeit, einen eventuell noch zögerlichen Finger auf die Maustaste zu senken, einmal ruhig durchzuatmen und laut zu sagen: Ja! Ich will das jetzt! Ich will, daß Dinge wahr werden! Ich will schon heute damit beginnen, ein besserer Mensch zu werden!
Umkehr ist möglich! Wer bislang sein Taschengeld in billige Heftchen oder teure Applikationen investiert oder einfach immer nur brav Lizenzgebühren für Katzenbilder bezahlt hat, weil ihm weitergehende Ziele fehlten, steht jetzt auf der Türschwelle in ein neues Leben. Ernsthaft: Ich glaube, das wird ein lesenwertes, ungewöhnliches Buch, dem man in die Welt helfen sollte.
>>> Siehe hier, siehe Gedankenträger

Sonntag, 24. Juni 2012
Am Donnerstag bereits, man kommt zu nichts, war die Ausstellungseröffnung der diesjährigen Leadwards, bei der ein wenig nach dem Motto, heute ihr, morgen wir, die Zeitschriftenbranche ihre visuellen Leader kürt. Die große Boulevardzeitung befindet sich erstmals darunter, vielleicht weil sie Jubiläum feiert, vielleicht weil sie mit ganzseitigen Titelstories hin und wieder auch über gestalterische Grenzen geht, wenn inhaltliche und ethische Grenzen auch sonst schon sehr elastisch aufgefasst werden. Was wollte ich sagen? Ach so, Drecksblatt.
Drumherum viele übliche Verdächtige, SZ-Magazin, die Spex (hö, die haben jetzt auch Strecken mit künstlerischer Fotografie?), dazu Vice mit ihrem radical chic, besonders aber hat es mich gefreut, das im Konzert der Etablierten auch das formatkleine, aber inhaltlich großartige, unabhängige Fotomagazin Die Nacht gleich zwei Mal Erwähnung fand. Sehr schön.
Ein wenig diskussionswürdig vielleicht die Wahl der besten "Weblogs". Haw-Lin "setzt Maßstäbe mit ungewöhnlichen Bildwelten in der internationalen Fotoszene", urteilt der Freitag in einer Sonderausgabe über den Sieger. Ich sag nur leise "Aha" und fühle mich an ungefähr jedes fünfte Tumblr-Blog erinnert. Ich zum Beispiel schaue gerne Polarn Per, aber gut, der kommt nicht aus Deutschland. Das sind schöne Scrap-Books, aber kuratorisch? Visuell Maßstäbe setzend? Die Akademie hat entschieden, die medienkooperierende Zeitung lautmalt es nach, und zum Glück darf jeder seine Meinung haben.
("Visual Leader 2012", Hamburg, Deichtorhallen. Bis 26.8.2012)

Samstag, 23. Juni 2012
Ich stand also wie ein verspanntes weißes Kaninchen herum, immer wieder auf die Uhr schauend, die Zeit kontrollierend, meine Güte, die Zeit, die liebe Zeit! Ein Stück weiter wartete eine junge Frau ebenfalls etwas richtungslos in der Zeit herum. Sehr attraktiv Sie fiel mir gleich auf, und da ich, aus einem absonderlichen Grunde oder auch keinem, Blömsche in der Hand hatte, hielt ich es für eine gute Übung, mich an mein weiteres Leben als grauhaariger, im besten Falle harmloser alter Mann zu üben, der dereinst aus seinem Rollator heraus jungen, hübschen Damen Blümchen und ein Lächeln schenkt. Einfach so! Weil ich es kann. "Bitteschön, fürs lange Warten", schnarrte ich also ölig freundlich und übergab der überrascht und aus der Tiefe ihrer offenbar bereits aggressionsgeladenen Gedankengänge mit einem "Hmpf" reagierenden Frollein ein Blümchen aus meinem Gebinde. Gleich dem gebremsten Spiel evozierter Potentiale (für die Hirnforscher unter uns) konnte man förmlich den stark verlangsamten Erkenntnisablauf zwischen reflexartig Hand ausstrecken, Gegenstand in Empfang nehmen, Augen von mir weg auf den Gegenstand lenken, inneres Lexikon durchblättern, auf "Aha, Blume", kenn ich! entscheiden und ein rauhes "Danke" herausstottern. Aber da war ich fast schon weg, die nun fehlende Blume ersetzt durch den Gedanken, "sollte ihr Typ noch auftauchen, wird er eine sehr, sehr, sehr gute Erklärung brauchen". Vielleicht sogar eine Entschuldigung. Besser noch: noch mehr Blumen.
Von meiner eigenen Herzensgüte angenehm berauscht, lenkte ich meine Schritte nun zur Kunsthalle, darin die Ausstellung Alice im Wunderland der Kunst auf dem Spielplan steht. Die kleine Göre, die bei einem älteren Mathelehrer auch eine für manche zweifelhafte, sicherlich aber (s. o.) wohlmeinende Aufmerksamkeit fand, hat ja, seit sie auf der Jagd nach einem Kaninchen in ein tiefes Loch fiel, große Menschen und kleine Menschen zugleich begeistert. ("One pill makes you larger, and one pill makes you small", Q) Neben Fotografien von Lewis Carroll gibt es einige hübsche Positionen zu sehen. William Blakes Porträt der Liddell-Schwestern, Beiträge von Max Ernst und, da muß man durch, Dalí, dazu reizvolle modernere Ansätze, Kiki Smith etwa oder Pipilotti Rist.
Ein wenig fehlten mir Bezüge ins Zeitgenössische. Unter den ausgestellten Buchausgaben hätte sich zum Beispiel die wunderbare Arbeit von Camille Rose Garcia dringend empfohlen. Keine Verweis auch auf Cos-Play-Inszenierungen, aber gut, die Ausstellung heißt eben nicht "im Wunderland der Alltagswelt". Schön ist immerhin der kleine Raum, der sich nur durch eine kleine, sehr niedrige Tür betreten läßt. Habe ich alles geschafft! Allein! Auch ein kleines Wunder.
("Alice im Wunderland der Kunst", Hamburger Kunsthalle. Bis 30.9.2012)

Dienstag, 19. Juni 2012
Weitere Exkursionserprobungen. Altonale, Flohmarktschlendereien, dortselbst ein weiteres hübsches postviktorianisches, medizinisches Lehrbuch für die Bibliothek meines geheimen Forschungslabors erstanden. Aber man soll sein mitteljungesaltes Leben nicht mit der Nase in staubigen Folianten verbringen. Books are for the scholar's idle times, predigte Emerson sel. und so zog es mich anderentags zum ordentlichen Transzendieren hinaus über verwinkelte Pfade an träge Kanäle und verwitterte Stege.
Weil ich es kann.
Wegmarkierungen und sonderliche Landmarken führen mich ins Herz einer großen Überlandverschwörung, deren letzte Wahrheit wie so viele andere Wahrheiten mir noch verborgen sind. Es muß aber nichts Außerirdisches sein. Vielleicht ist alles auch einfach nur hingeworfen, im Leben, meine ich, wie ein Mikadospiel, das ohne zu Wackeln man abräumen muß, Stäbchen für Stäbchen. Bis man sie alle in der Hand hat. Alle.

Freitag, 15. Juni 2012
Derzeit bin ich ja im Behandlungszentrum Rock'n'Rollplattenstudio zu den Aufnahmen für mein neues Album Wut, Verzweiflung, Ingwertee und habe folglich nur wenig Zeit für allgemeine Wetterbeobachtungen. Der Kalender aber enthält feinsinnige Hinweise auf einen beginnenden Sommer. Man wird also bald wieder abends auf warmen Steinmauern an der Elbe sitzen können, mit einer Flasche Bier und ein paar Mietfreunden vielleicht für das soziale Rundumpaket und sich einer gewissen eintretenden Friedfertigkeit hingeben. Sekundenschlaf möglicherweise.
In meinem Buch Die Mörder sind alle Verbrecher beschreibe ich ja, wenn auch mit einem gewissen zuneigungsvollen Witz, die widerhakenbestäubte Kuscheligkeit der durchchoreographierten Quadrillen auf den Parketts des sozialen Miteinanders. Im Kapitel "Krämer und Kameraden" führe ich aus, wie Taxierung und Evaluation die letzten weißen Flecken der Optimierungslandschaft erreichen, den bislang noch unsubventionierten Prozess von internetgestützter Humanzusammenführung. Führt man, wie ich derzeit, eine Existenz eher als Bruchschokolade, gilt es, einer weiteren Zersplitterung vorbeugend entgegenzuwirken. Konzentration, ihr kleinen Robbenbabies der unbefangenen Liebe, Konzentration ist das Zauberwort. Bündelung von Energie, Widerstand gegen Zerfaserung, Obacht walten lassen vor einem Ende als ausgefranstes Handtuch im Warenlager der Restgestalten.
Das Leben also lieber nur in Ruhe füllen, vom Acker des Realen pflücken, erst den einen Schnürsenkel, dann den anderen Schnürsenkel, Schritt für Schritt und ab und zu mal langsam machen, so jedenfalls erklärte ich es heute morgen gestenreich meiner Ärztin, während diese mit einem sehr großen Instrument vor mir herumfuchtelte. Die Assistentin schaut herein, nicht aber auf meine entwürdigenden Situation auf der Behandlungsliege, sie berührt im Vorbeigehen und ganz wie nebenbei meine Schulter, drückt sie kurz, sucht einen Rezeptbogen und geht wieder hinaus, und ich sage, wieder zur Ärztin gewandt: Sehen Sie, davon benötigen wir mehr. Lieder wie "Das Land der tausend Gesten" oder "You Really Got A Hold On Me". Die Ärztin bleibt ungerührt, fragt, ob ich in die Kuschelgruppe wolle oder ein Ergebnis haben, ich frage, so im Vorbeigehen und ganz wie nebenbei, ob sie tanzen geht, ich müßte mich nur darauf einstellen, dann könnte ich auch spontan.
