
Sonntag, 5. Juni 2011
#1 Österreicher 1 - Marmeladinger 2, das soll wohl die Ordnung der Dinge darstellen. Die Tagesereignisse ziehen nach ihren ganz ähnlichen gerechtigkeitsfernen Gesetzen vorbei. Am Ende watet man wie ein Metzger im Blut, giert nach einer Fluppe und dem Heulen der Fabriksirene, geht hungrig hinunter zum metallenen Tor, wo mir Frauen Gurken schenken. Ich bin doch nicht Jeck, sage ich, da pfeife ich doch drauf. Der Tag indes liegt da wie heiße Rotze im Tee.
#2 Alles ein aufgewärmter Schlotz. Ich sage, ich esse nichts, ich trinke nichts, ich atme eine Erinnerung. Hinter den Kulissen malt eine unverfroren an der nächsten Fälschung, ich tippe ihr auf die Schulter und sage, das kenne ich nun schon, diese Geschichten, gleich klimpern Sie mit den Augen, lachen eine Spur zu laut, malen ein falsches Datum darunter oder erklären, da sei nix, ich würde mich täuschen, wo ich doch ganz genau sehe, wer hier der Täuscher ist.
#3 Alles bloß annagen. Die Momente festhalten. Manchmal, so erkläre ich später, sei es mir fast schon zu viel. Weil ich denke, die meinen das womöglich wirklich ernst, an den Stellen, wo sie mich aufziehen könnten oder einen Hintergedanken haben. Man muß auch das aushalten können. Man muß das auch aushalten können. Man muß da ganz tapfer sein.

Mittwoch, 1. Juni 2011
Nachdem die nicht wirklich nervige, aber doch etwas eintönige Vorband ihr Hinterhof-Instrumentengeraffel beiseite geräumt hatte, zeigten Low, wie man mit weniger Instrumenten und noch konsequenterer Eintönigkeit große Musik macht. Das um Bass und Keyboards erweiterte Duo klingt, um für Verirrte mal eine sehr grobe und gleich wieder falsche Richtung vorzugeben, an den exaltierteren Stellen wie "White Stripes spielen Neil Young" - aber in der Regel ist die Exaltiertheit sehr kontrolliert, fast schon wieder entspannt, auf jeden Fall sehr zeitgedehnt, runtergestimmt wie ein zu langsam laufendes Tonband, immer ein wenig "kann man mal machen" - gefolgt von einem "aber vielleicht nicht gerade jetzt".
Große Kunst also, die hübsch auf dem grauen Teppich bleibt. Wie in Monkey etwa, einem dieser fröhlichen Mitsummschlager für beschwingte Kaurismäki-Abende, an denen man die Tapetennähte an der Wand zählt oder Schrot aus den Brettern des Hühnerschuppens mit einem recht schon stumpfen Messer puhlt. In einem Anflug von Übermut eröffnet Sänger Alan Sparhawk eine Runde für auf den Nägeln brennende Fragen, die er nun herzlich gerne beantworten würde, mir aber fällt "What is the key to happiness?" eine Sekunde zu spät ein.
Sunshine, würden Low vielleicht sagen. Aber das ist nun bloß geraten.
>>> Geräusch des Tages: Low, Words

Dienstag, 31. Mai 2011
Peter Richter gratuliert dem Berliner Hauptbahnhof kritisch zum fünften Geburtstag und weist zurecht auf eine Vielzahl von Mißständen hin. Ich lese und nicke, während ich möglicherweise mit dem Flugzeug haarscharf an nämlichen Gebäude vorbeifliege. Dann aber schreibt Richter: "Wie Schiffbrüchige über den Sand sich herbeischleppende Fußgänger. Zusammen mit den orientierungslos Umherirrenden aus der Bahn machen sie den Ort zu einem einzigen täglichen Jammertal." Einige Zeilen vorher bereits verweist er auf die Ähnlichkeit der Treppen und Fluchten mit den von Piranesi dargestellten Gefängniswelten. "Das ist die Wahrheit", schreibt Richter ganz ohne unangebrachte Scham, versteigt sich aber gleich darauf zu der Behauptung: "Und warum muß ich der Erste sein, der sie aufschreibt?"
Bitte, liebe Leute von der FAS, die ihr Bücher schreibt mit Titeln wie "Hier spricht Berlin" und das "ich" in euren Texten Spazieren führt. Solche Kritik wurde nun wirklich schon zur Zeit der Eröffnung durch einen vielstimmigen Nabucco-Chor aus Bahnreisenden, Architekturkritikern und Blogs laut. Ich schrieb damals über ein Purgatorium für Bahnfahrer, über ein undurchsichtliches Treppen- und Gängelabyrinth.
Erster soll ein Mann sich nur mit Vorsicht nennen.
Das ist mal die Wahrheit. Bitte. Danke.

Montag, 30. Mai 2011
Aus dem schönsten Sonnenuntergang über Wien geht der Flug zurück in die Hamburger Nacht. Der Kollege, den ich beim Boarding treffe, meint, man solle solche Ausflüge ruhig regelmäßiger unternehmen, vielleicht nicht für einen Kaffee, aber um der hanseatischen Nüchternheit barocke Ironie und Spannungsreichtum beizumischen. Der Sprung aus den Wolken butterweich, mit der Entspanntheit einer kleinen Caféhausgesellschaft. Jetzt zurück, wo das Leben unter der Behauptung geführt wird, es sei keine Puppenstube. Muß ja.

Montag, 23. Mai 2011
Die freundlich andekorierten Räume im Gängeviertel, mit junger Kunst behängt, ein semisexuell verspieltes Bild trägt die hübsche Pointe im Titel ("Das auf dem Bild sind zwei Jungs"), das in meiner Tasche aber sind die letzten Besorgungen. Dabei die immer wiederkehrende Sorge, man habe etwas Wichtiges vergessen, so als sei man auf dem Weg in eine noch der Entwicklung bedürfenden Zone, und nicht auf dem in die schöne Stadt.
Letzte Ausfahrt Windwaldwasser, die Luft einsaugen, einen gleichmäßigen Takt mit den Pedalen treten, Windschattenfahren mit dem leisen Schnurren des Diamant an der Seite, der Stille unter den Bäumen lauschen. Die Pastorale wird umhüllt von weißen, feingesponnenen Netzen. Es ist das Werk der Gespinstmotte", deren Raupen im ruhelosen Gewühl umherkrabbeln. Ein Wochenende unruhiger Geister, verwebt wie eine mumifizierte Erinnerung, weißgewandete Geister huschen über die Lichtung und hängen ihre Kleider an die Bäume. Eine Gespinstinstallation, dem komplett vergipsten Zimmer bei Krüger ähnlich, man möchte es weitertreiben und im Gängeviertel ein komplettes Gebäude von fleißigen Gespinstmotten zuweben lassen. Oder sich selbst, und dann einfach davonwehen.
Letzte Sonnenstrahlen in der Düne. Dann setzt das Gewitter ein.

Freitag, 20. Mai 2011
Die Nachfolgeband New Order war auf jeden Fall in allen Belangen besser als Joy Division, vor allem musikalisch. [Q]

Mittwoch, 18. Mai 2011
Statt Friday Five: Miss Kinski sammelt jeweils fünf thematisch passende Bilder für eine kleine Fotostrecke, viele allerdings sind nicht sicher für die Arbeit. Oft sehr witzig oder überraschend, manches auch ein wenig gewollt, man kennt das von ähnlichen Anlegearbeiten.
Auch eine hübsche Idee für ein Heim: Wohnen in der Zementfabrik, oder: Wenn Architekten ihre Jungsträume verwirklichen können. Ich bin eine zeitlang immer wieder zum Fotografieren durch eine solche Fabrik gekrochen und muß festhalten: Sauber machen hätte ich sie nicht machen wollen. Ricardo Bofill hat da sicher auch eher mehr ein Auge denn seine Hände drauf gehabt.
Where I recall the memories
That gripped me
And pinned me down
(PJ Harvey, "Silence")
Ein Gebäude wie Herbstlaub. Eine entkernte Erinnerung. Wie ich den Platz am Klavier räumte, dem Vorwand nachgab, die Akkorde aber später nach Hause hämmerte, mich frei machte von dem, was nie war. Eine schweigende Nacht, eine Stille. Und nur für mich.
Sich immer weiter hinausstehlen, einen Iglu bauen, ein weißes Schneezelt, wo kein Fuchs mich findet. Das Schweigen als letztes Wort und Mittel, ein lautloser Klang gegen das Dröhnen der Versprechen, der flatternden Emphase eines großgedruckten "Ich".
Die Stille ganz laut drehen, bei sich sein, in lauter kleinen Schlucken trinken und durch einen Strohhalm atmen. Ganz lange, ganz viel.
Oh Gott. Cereal Killers schon zum Frühstück.
Ich mag das Kopfkissen. Das linke.
Ich mag das schöne Tier in dir.
