
Montag, 22. Februar 2010
Samstagnacht drei Stunden um den Block gelaufen, wie man so sagt. Abhärtung für größere Aufgaben, Orientierungslauf und Steigerung der Kältetoleranz. Die von fahlen Straßenlaternen nur in düsteren Lichtinseln bestrahlten frischvereisten Wege wie eine dampfende kleine Maschine abgestapft, ein rumpelnder, rostiger Roboter, am Fischladen vorbei bis hinunter zur Tankstelle, die roten und gelben Lichter als Leuchttürme, trunkenes Geschrei nach irgendwelchen "Taxiiis" auf der anderen Straßenseite, weiter aber, man muß das mit halbgeschlossenen Augen schaffen, sich vorkämpfen in die stilleren Seitenstraßen, das trügerisch glitzernde Kopfsteinpflaster nicht als einziger Feind, fragt nicht. Irgendwann Abbruch des Experiments, Tiefstand der Gestirne, ich möchte kein Eisbär sein.
Tags drauf dann kurz die Nase in die Kunsthalle gesteckt. Aber "Pop Art" und "Sonntag" gleich "knüppelvoll", die Menschen, die wollen das Goldene Kalb von Damien Hirst sehen, bitte, danke, ich bete an einem anderen Tag. Im Gängeviertel dann kurz über die Auswirkungen nächtlicher Kältewanderungen nachgedacht, bis Berlin muß ich wohl irgendwie und unbemerkt gekommen sein, denn auf einmal steht da Frau Kopffüßler, so klein ist diese Stadt. Hatte aber alles seine Richtigkeit, die Orte also und die Koordinaten. Das Gängeviertel liegt eingeigelt in Matsch und Schnee und feuchter Kälte, umso mehr zeigen die freundlichen Menschen, um was es auch geht: Beharrungsvermögen.

Samstag, 20. Februar 2010
by its cover.
Mal die kalte Hand aufs Herz: Wer möchte sich schon die Butter vom Brot nehmen lassen, geschweige denn das ganze Brot? Wenn ich morgens Glenn-Gould-umklimpert wie Hannibal Lecter in Küche stehe und liebevoll meine Käsebrote schmiere, sehe ich aber leider schon die gierigen Augen meiner Kollegen vor mir. Wenn sie des mittags ihre Fertigpampe in die Strahlenmaschine stellen, den Geruch von verbrannten künstlichen Aromen als "was Asiatisches" deklarieren, heimlich aber doch auf meine Stullen schielen, gute alte Kost für lange Tage. Bislang hielt ich mir Neider und hungrige Blicke mit einer rostigen Brotdose vom Leibe, deren schiere Unansehnlichkeit über den leckeren Inhalt täuschen sollte oder sich mit Nachdruck auf lange Finger schlagen ließ. Nun aber hat auch die Produkteindustrie ein Einsehen und liefert den ultimativen Schutz für zarte Brote. Nie mehr heimlich unterm Schreibtisch muß ich essen, offen kann ich's Vesperbrot plazieren. Stilles Glück.
>>> Geräusch des Tages: Foyer des Arts, Schimmliges Brot.

Donnerstag, 18. Februar 2010
Jetzt habe ich mir das Buch einfach mal zugelegt, nachdem mir mehr und mehr Menschen aus meinem Bekanntenkreis heimlich zuflüsterten, sie hätten "es" gelesen und... (die Gespräche brachen dann verschwörerisch ab). Meine zweite überarbeitete Auflage enthält Danksagungen, detaillierte Quellenangaben (!), ein umfangreiches Glossar (!!) und ebenfalls umfangreiches Literaturverzeichnis und viele Bilder (!!!). Inhaltlich ist es tatsächlich ausgesprochen explizit, ein schonungslos-animalischer Bericht aus schummrig beleuchteten Feuchtgebieten: "Die eigentliche Paarung findet nachts statt; das Männchen setzt eine oval-zylindrische Spermatophore ab, die vom Weibchen in die Kloake aufgenommen wird."
Man hört augenblicklich den dumpfen, hammerharten Beat, sieht das fluoreszierende Licht aus Clubs, die "Aquarium" heißen und eine glaswandharte Türpolitik betreiben.
An einigen Stellen, das muß man einräumen, liest es sich etwas holprig und verstellt abstrakt ("Die Umwandlung muß zwischen Schlupf und Geschlechtsreife stattfinden und Strukturen umfassen, die nicht mit der Fortpflanzung im Zusammenhang stehen.") Vielleicht ist das mit dem Alter des Autors zu erklären, der Lesefreude steht das nur selten im Wege, überzeugen doch immer wieder im Sound einer Generation gesetzte, messerscharfe Beobachtungen über flüchtige Begegnungen mit Bewohnern der dunklen Hinterräume: "Sie sind schwanzlos, ihr Darm ist relativ kurz." Unmißverständlich.
Die Anwürfe, daß manche Bilder an die erinnern, die sich auch in Blogs finden, lassen sich leicht entkräften. Es ist ein Remix, ein ebenso intelligentes wie ironisches Spiel, freundlich lächelnd wie das Axolotl selbst.
(Joachim Wistuba. Axolotl. Münster: Natur und Tier Verlag, 2. Aufl. 2008.)

Mittwoch, 17. Februar 2010
Denn wir sind wie Boote im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte ein Axolotl sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Eis verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
(Für Franz)

Dienstag, 16. Februar 2010
Es ist ja nichts ohne Folge. Gestern also wie ein aus dem Schlaf erwachtes Axolotl und immer noch mit dem Gefühl, als hätte ich beim Grottenolmtauchen Wasser ins Ohr bekommen, zum HNO gestapft. Das kam so: Weil ich ja zum Konzert meine Ohrstöpsel vergessen hatte und den alten Trick mit dem Papiertaschentuch, also einem kleineren Teil davon, benutzte, sich dann aber nachher der Pfropfen im rechten Ohr nicht wiederfinden wollte, fühlte ich mich ein wenig, nun ja, verstopft. Mancher hat auf Konzerten schon sein Herz verloren, ein anderer einen steilen Zahn oder das Gedächtnis. Gut bedient also war ich, aber doch einseitig in einer etwas dumpfen Welt gefangen.
Die Ohreninspektorin, eine muntere ältere Dame mit lustiger Höhlenexpeditionsstirnlampe um den Kopf, grinste sich denn auch nur eins, bohrte mir einen kleinen metallenen Metalltrichter ins Ohr, griff dann zu einer langen Stahlpinzette und zog beherzt den zusammengerollten Knüssel ins Freie. Ah, was für eine wohltuende Empfindung, wie sie mir den Stopfen durch die enggebaute Körperöffnung zog, so ein befreiendes kleines Glücksgefühl, an dessen Ende eine sinnliche, funkensprühende Hörexplosion stand, konnte ich doch plötzlich Töne hören - ich dachte, die Engel singen, so klar war auf einmal wieder meine Welt. So muß sich also ein Ohrvaginalorgasmus anfühlen, dachte ich, aber dann kann ich das vielleicht nicht wirklich beurteilen, ist dies doch eventuell "so ein Mädchending", wie A Softer World vermuten.
Doch während ich noch "Prima!" rief und zugleich ein "Noch mal!" unterdrückte, wurden mir Praktiken nahegebracht, die man anderswo unter dem Begriff "Wassersport" kennt. Na ja, eigentlich mehr ein Einlauf: Zur kleinen Dusche wurde erneut mein Ohr penetriert, mit einem harten, metallenem Rohr diesmal, warm ergoß sich das Wasser in mir, hui, dachte ich und hörte das Glucksen an meinem Trommelfell, maybe that's a girl thing, danach war ich wieder in dumpfe Taubheit umhüllt - Wasser im Ohr. Unersättlich, griff Frau Doktor zum nächsten Instrument, ein dünner Stab diesmal, mit einem Wattepfropf umhüllt, wanderte in meinen Gehörgang - na toll, dachte ich. Wenn der jetzt steckenbleibt, bin ich so weit wie am Anfang, immerhin aber um interessante sinnliche Erfahrungen reicher.
Es ging aber alles gut, das O war befreit und trocken, schnell noch ein Blick in H und N, der flotte Dreier der Kopföffnungsbeschau, dann aber ins andere Zimmer zu einem kurzen Hörtest, galt es doch, den berüchtigten "Discoschaden!" auszuschließen. Flüsterleises Fiepen hauchte mir aus den Kopfhörern entgegen, munter drückte ich den Knopf, Reiz-Reaktions-Experiment, los, rief ich, 120 Volt! Da geht noch was, und drehen Sie mal die Bässe auf! Die Hörkurve aber wie 25, meinte die Ärztin. "Die jungen Leute", sprach sie und sah mich dabei an, als wolle sie sagen "also diese andere demographische Gruppe, zu der wir beide nicht mehr gehören", also "die jungen Leute, haben da" - sie zeigte auf die 4 kHz-Markierung - "schon einen deutlichen Abfall". Sie setzte ein wissendes Lächeln auf: "Discoschaden!"
Diese Welt ist eben stiller, tief in den Höhlen, in die sich nur wenige verirren. Hier hört man alles ganz genau, die steten Wassertropfen, die leisen und die Zwischentöne.

Montag, 15. Februar 2010
Wer herzlich eingeladen wird, darf nicht fehlen. Im Hamburger Knust sorgten am Freitag drei Bands für das innere und äußere Warmwerden der steifgefrorenen Kapuzenpullifrostbrigade, eingerahmt von einem schönen Mix mit Hits aus meiner Jugend. Potato Fritz durchschwammen schlafwandlerisch sicher einmal das große Freirockerbecken und zurück, Heimspiel nicht für jedermann, "Unentschieden!" rief jemand, könnte aber auch das Endergebnis des an diesem Abend ebenfalls spielenden FC St. Pauli gemeint haben. Meditation und Eruption: Danach der Höhepunkt des Abends heizten Herr Krüger und seine Jungs von Happy Grindcore den grindigen Schmalz aus den Ohren, großes Spektakel, Publikums- und Weltbeschimpfung, Verhandlung der letzten Dinge, der unplugged Tritt gegen akustische Eier, alle gegen Alles, demnächst dann Welthit, documenta, Klagenfurt. Axolotl-Kettensägenmassaker.
Aufs Hirn folgt das Herz, die Boxhamsters kochen kurz, trocken und schnickschnacklos den Saal auf, großes Gewoge vor der Bühne, Ergriffenheit links und rechts, der Sound allerdings, das muß man sagen, hätte besser sein können. Man versicherte mir, man könne die sowieso ganz ausgezeichnet mit dem Herzen hören, weshalb es wohl nichts machte, daß ich mein eines vorsorglich zugestopftes Ohr anschließend nicht mehr freibekam. Die herbstblättrige Brut Imperial-Tour endet im Sommer im Ratinger Hof, standesgemäß also.

Freitag, 12. Februar 2010
Immer wieder faszinierend, wie sich Leute öffentlich umturteln, von denen man weiß, was sie wirklich übereinander denken.

Die Menschen in der großen Stadt, die nicht an die 60. Berlinale gebunden sind oder mit Helene H. und René P. in der Volksbühnenkantine sitzen müssen, können sich glücklich schätzen. Sie können heute abend über das schillernde Eis der Boxhagener Straße schlittern und die Vernissage zum siebten Jubiläum der Strychnin-Galerie erleben. Das kleine vibrierende Universum füllen Pop-Surrealism- und Low-Brow- Künstler, die im Laufe der letzten Jahren in der Galerie gezeigt wurden: Leslie Ditto, Wee Flowers, Lisa Mei Ling Fong, Richard Kirk sind dabei, Beth Robinson, Raf Veulemans, Tim Roosen, Ver Mar, Scott Holloway, Chris Peters, Alexander Sterzel, Christian Rothenhagen, Christina Graf, der großartige Scott Radke, David Hochbaum, Mark Verhaagen, Diva - und viele weitere. Die Strychnin-Truppe ist sicher schon ganz gespannt und im übrigen erfahren darin, auch den verfrorensten Gast noch aufzuwärmen. Weiß ich genau. Also, keine Ausreden, ihr Schneemänner und Eisdiven.
("7 Year Itch" - Gruppenausstellung in der Strychnin Galerie, Boxhagener Str. 36. Berlin.)
