
Samstag, 13. Oktober 2007
Diesmal bin ich nicht schuld. Ich war nämlich nicht da. Das ist ja abends viel zu spät. Soeben flattert mir eine Nachricht auf den hermetischen Newsticker, daß die
Frau fehlende Hälfte von Genesis P. Orridge - Lady Jaye Breyer P-Orridge - überraschend in New York verstorben ist. Zwar will ich nicht behaupten, einen wirklich großen inneren Bezug zum Bandprojekt gehabt zu haben, sonst wäre ich ja wohl auch auf dieses Konzert gegangen, das vor knapp zwei Wochen in Hamburg war. Und Psychic TV galten nun auch nicht exakt als Vorreiter einer sonderlich lebensbejahenden Musik. Aber Vorreiter wohl in vielerlei Hinsicht. Darf man sich trotzdem oder gerade deshalb ein bißchen wundern, vielleicht sogar traurig sein? Immerhin würden es sicher viele als "romantisch" bezeichnen, in den Armen des Liebsten zu sterben. Vielleicht nicht unbedingt so.
Vor fast zwei Jahren sah ich in Berlin die Ausstellung Education Through Pain - Annual Report , wo sich viele Kreise schlossen. Auf der Karte von Ian Curtis, der sich für den Verteiler des Projekts angemeldet hatte, stand kurz und trocken "Deceased". Vielleicht ist das so. Akte geschlossen.
>>> Webseite von Genesis P. Orridge
Psychic TV in der Wikipedia
- Video zu Godstar (Youtube)

Montag, 8. Oktober 2007
Ich freue mich immer auf den Samstag. An diesem Tag nämlich ist in der hermetischen Anstalt Handtuchwechsel. Da kann ich mittags morgens nach der Dusche meinen bleichen Körper mit einem frischen, brettharten Frottiertuch abreiben.
Meine Hinz&Kunzt kaufte ich bei einem Mann, der aussah wie ich in zwanzig Jahren. Er trug sogar die gleiche Brille, nur daß seine am Rand mit Leukoplast geklebt war.
In der Fabrik beginnt langsam das Vorweihnachtsgeschäft. Feiertage müssen rausgearbeitet, Gartenzwerge mit Nikolausmützen versehen, Stiefel und Ruten gefaltet werden. Die Motivbanderole dieses Jahr heißt "Sonderschichten". Ich bin kaum zu bremsen, finde aber keine adäquaten Worte.
Meinem zweiten Roman Traumaland gleich bleiben alle Menschen stumm. Ich hingegen könnte eine Weile aus meinen geheimen A-Blog-Tagebüchern zitieren, in denen ich alles im Präsens schreibe. Und klein natürlich.
~ zufällig ferngesehen. eine seltsam verschobene szene: wie der mann von ganz links nach ganz rechts im bild geht. bis er sich selbst aufzulösen scheint am schwarzen rand der mattscheibe.
dabei an hegel gedacht. ~
Aber nun ist heute der wichtigste Tag für mich. Der erste nämlich vom Rest meines Lebens. (Erweiterte Sinnsprüche und Aphorismen, demnächst in Buchform. Gleich in zwanzig Sprachen übersetzt, 15 Millionen Auflage. Verkauft. Dann Tantiemen vom Verlag plus Scheck der VG Wort = finanziell sorgenfreie Zukunft.)
Als das Denken noch geholfen hat, wäre mir vielleicht ein Ausweg eingefallen. Nun hilft nur noch Notverriegelung. Nennen wir es einfach kreative Pause.
Bald ist wieder Samstag.

Freitag, 5. Oktober 2007
Meine Name ist Kid37, und dies ist mein Blog.
Wir fangen an, wir gehen hin und zwischendurch sind wir dort, wo wir gerade sind. In fünfzig Jahren dann ist so ein Tagebuch ein Zeitraffer. Wie wir waren, wie wir wurden, was wir sind. Ein ruckelnder Film.
Die Fotos hat einer auf dem Flohmarkt entdeckt. Ein ganzes Leben in dreißig Bildern.

Mittwoch, 3. Oktober 2007
Herrliches Wetter am Nationalfeiertag also 17. Juni äh 14. Juli na, jetzt aber, Tag der Deutschen Einheit. Endlich wieder Kaiserwetter, Sonne satt für die Ausgehuniform, dazu ein leichter Wind, der die Fahnen spreizt, statt sie erektionsschlaff am Mast hängen zu lassen.
Auch auf dem Flohmarkt schwarzrotblonde Pracht. Mehr noch aber locken die Restbestände einer alten Zahnarztpraxis. Wieviel Geld man sparen könnte! Wieviel Nerven auch, drängte es nicht immer Menschen mit Kinderkarren und Fahrrädern durch dichtgedrängte Reihen. Was geht mit güldenen Oktoberwäldern und satten Flußlandschaften, möchte man rufen, Schuhe und Empfindliches in Sicherheit bewegend. Aber heute sind wir alle eins. Verbissene Mütter, die wie Großraumpflüge durch Herbstlaub mit Puki und Teutonia in bockige Grüppchenbildner preschen, schottergraue Heftchensammler, mit dem novemberfeuchten Geruch, der ihren Kleidern entsteigt, die Ein-Euro-Feilscher und angedellte-Ecken-Monierer, die Begeisterten und Zufriedenen, die Adressen-Austauscher und prospektiven Keller-Besichtiger. Kommt näher zu mir, ihr Beladenen, rufe ich, in einer seltenen Anwandlung von Leutseligkeit quer über den Platz zu den Kofferträgern, den Kindergeschminkten, den Kaffeetischsitzern. Laßt Schachern, laßt Feilschen! Doch schnell, schnell wie kleine flinke Mäuschen verstecken sie ihre Schätze tiefer in den Jackentaschen, äugen mißtrauisch und schräg, manch einer legt sogar die Stirn in Falten. Eine alte Dame umklammert ihren Gehstock, bis die Knöchel weiß werden.
Wir wollen doch eins sein, nur heute einmal. Gemeinsam singen, tanzen uns frei fühlen und kollektiv ausziehen vielleicht... Die letzten Worte entschlüpfen mir bereits tonloser, fast lautlos. Die ältere Dame ist empört, beginnt mit ihrem Krückstock quer über meinen Rücken zu schlagen. "Flegel", kreischt sie, während ich mich ducke, die Arme hochnehme, meinen frisch verheilten Kopf zu schützen.
Ach, denke ich traurig, stelle mich abseits und greife zur Stärkung zu einer Banane. Bald heißt es wieder, jeder Mann seine eigene Lichterkette. Wir sind wohl noch lange nicht eins.

Sonntag, 30. September 2007
Wer sich fragt, was eigentlich der famose Herr Mek Wito so treibt, seit er aus Hamburg heraus durch ein Dimensionstor schritt und in der Hauptstadt landete - nun, die Antwort fällt leicht: Er macht tolle Sachen!
Er hat die Geschichte vom Tango Mortale wunderbar vertont und mit passenden Klängen unterlegt. Nachzuhören bei Blogread.
Vielen lieben Dank, ich bin sehr begeistert! Laßt uns einfach ganz viele verregnete, melancholische Sonntage haben.

Das glaubt mir wahrscheinlich auch kein Mensch: Ich würde Madonnas Ray of Light locker unter eines der besten Alben der letzten zehn Jahre einordnen.
Ist auch egal. Man kann eh nur einmal zwangseingewiesen werden. Und bald ist es ja schon elf Jahre alt.
Es ist unglaublich, wie die Zeit vergeht.

Samstag, 29. September 2007
"Are they made with real girlscouts?"
(The Addams Family)
Regen, Regen und noch ein bißchen Regen. Morgens Regen, mittags Regen und, daran werden auch Uwe Wesps Abschiedsworte nichts ändern, für den Abend erwarte ich keine Änderung.
Nur am Plästern, würde man in meiner Heimat sagen. Dem Hamburger ist es vielleicht nicht usselig, aber auch nicht wirklich wohl in seiner Schuppenhaut. Ein prima Tag also, um nicht draußen spielen zu müssen, hej! Ein Tag, um mit gut gefüllter Keksschale und einem Heißgetränk sich einem wohlig warmen Eskapismus hinzugeben. Bei mir ertönt deshalb das charakteristische Da-da dada, das Amerika funktionierendste Familie ankündigt: Die Addams Family.
Die gehen warmherzig miteinander um, ertragen ihre Launen, sitzen abends miteinander, ach was, den ganzen Tag, ohne Fernseher, spielen Karten, machen Explosionsexperimente, genießen das Mondlicht, sinnieren laut über Sex, machen aus ihrer erotischen Leidenschaft füreinander (die Eltern jetzt) keinen Hehl und wußten schon ohne neuzeitliche Forschungsergebnisse, daß Tintenfische einfach die intelligenteren Spielkameraden sind. Ich bin ja ein Fan dieser alten TV-Serie, die zwar nicht so opulent ausgestattet ist wie die beiden Kinofilme (von denen ich den zweiten immerhin ganz witzig finde), die aber darunter leiden, Sensationen aufbieten zu müssen, Aktion und Geschichte und Wendepunkte, wo es doch gerade um das Banale und Alltägliche dieser sympathischen Vorstadtbewohner geht.
Leider ist die Originalfassung mit ihren eingespielten Lachern vom Band nicht so gut zu ertragen wie die insgesamt recht gute Synchronisation. Mir daheim schallen schließlich auch keine künstlichen Heiterkeitsgeräusche entgegen, wenn mir eine sarkastische Bemerkungen entschlüpft - die, in Ermangelung eines Tintenfischs, meist nur mein Monitor hört.
Fast, wir reden über den Eskapismus der Regentage, wäre ich noch dem Charme des deutschen Pendants zur Addams Family erlegen. Fünf Filme in einer DVD-Kollektion: Immenhof! Da war ich schon sehr hin- und hergerissen, hatte ich doch gleich das charakteristische Leitmotiv im Ohr, dieses "Trippel-trappel-trippel-trappel Pooony". Als Kid07 war ich ja, wie mir heute klar ist, ein wenig in Heidi Brühl verschossen. In einem Alter, in dem mir die Art der in mir tobenden Gefühle gar nicht deutlich war, weil ich erst später erfuhr, daß andere Menschen dies als "Liebe" bezeichnen. Mir jedenfalls waren die Ponys ziemlich egal, so lange nur die blonde "Dalli" wild und ungezähmt ihre wohlwollenden Ränke schmiedete. Heidi Brühl, auch schon tot.
In Malente, jetzt kommt's, so informierte mich die Rückseite der letztlich ungekauft gebliebenen Kollektion, gibt es ein Immenhof Museum. Der Geist von Malente, die Älteren werden sich daran erinnern. Hätte ich das mal gewußt. Das wäre ein herrlich eskapistisches Urlaubsziel gewesen. Nächstes Mal dann, so lange halte ich einfach noch durch.
>>> Webseite über Charles Addams, besonders hier.

Donnerstag, 27. September 2007
They will see the reason
Why we can't go on
(Sylvan, "We Don't Belong")*
Einem wunderbaren französischen Film zufolge liegt das Glück in der Wiese. Für den ausgezehrten deutschen Großstädter mag es auch einfach in der Vorstadt liegen, abseits womöglich der breiten Straßen, kleinen Freiheiten und großen Hoffnungen. Mir jedenfalls können ferne Sunde, mythische Schlünde und tiefe exotische Gründe gern gestohlen bleiben, gilt es doch vor grauer Städte Mauern eine Welt zu entdecken, die einem mehr eisige Wahrheit entgegenzuschleudern vermag als ein isländischer Geysir an heißer Naturgewalt. Zu pathetisch? Ach.
Wie wäre es mit wollstrumpffeuchter Tristesse und einer unerträglichen Beschaulichkeit, die schärfer schneidet als ein Blatt Papier - und ältere Bewohner hinter zurückgestutzte Rhododendronhecken und die jüngeren hinter die Lärmschutzwälle ihrer MP3-Player treibt?
Kaum ausgedacht, hielt es mich länger nicht zurück, einen Exkurs zu wagen in den Wilden Westen Hamburgs. Recht weit dort bei Sonnenuntergang liegt das schöne Städtchen Wedel, ein weltoffener Flecken mit 32000 Einwohnern und mittelalterlicher Ochsenmarkttradition.
Die Innenstadt zeigt fröhlich dekorierte Spielhallen, mit "top modisch" werbende Dessous-Läden (die Wedeler Frau ist auch untendrunter auf sich bedacht), auffällig viele Filialen von Geldinstituten und Immobilienmaklern, den üblichen gruselig-tristen Lädchenmix der Vorstädte aus Spiegelglas, korrodierten Metallfassaden und einer beschaulich altertümlichen Putzigkeit. Wedel hat Geschichte und der "Roland" legt davon Zeugnis ab. Die etwas trutzig geratene Statue mit Goldhelm dominiert den kleinen Marktplatz und irritiert den durchreisenden Besucher. Dieser Roland nämlich, so fällt auf, hat zwischen den Beinen einen ganz schön dicken, wie sagt man?, Beutel.
Wer hat, der hat, denkt sich vielleicht auch die Freiwillige Feuerwehr, deren moderne Wache von 1971 man auf dem Weg hinunter an die Elbe passiert. Die wird als Inhaberin "der längsten Leiter Wedels" gepriesen, wenn man der Webseite des Ortes glauben darf.
Mit solchen Primärmerkmalen aber will man sich nicht lange aufhalten, gilt es doch, große Pötte zu bewinken. Das Ziel heißt Schiffsbegrüßungsanlage, einer der ertragreichsten Geschäftsideen der Gastronomie, seit Erfindung des reservierungsfreien Schankstüberls. Unten am Fluß nämlich beschallt eine große Lautsprecheranlage noch größere Schiffe auf dem Weg von und nach Hamburg mit frischem Seemannsgruß und der passenden Nationalhymne. Dies beschränkt sich heutzutage zwar meist auf die aus Panama und Liberia, aber bekanntlich liegt auch in regelmäßiger Wiederholung ein gewisser Reiz. Für den, der es mag.
Währenddessen sitzen auf der kleinen Promenade oder direkt am Fährhaus neunmalkluge Blogger Rentner und fachsimpeln über Bruttoregistertonnen, Handelsbeziehungen und die Weltläufte. Es scheint fast wie Urlaub, schließlich ist die große weite Welt zu Gast - so wie man selbst bei den nur scheinbar desinteressiert wirkenden Seevögeln, die aus den Augenwinkeln aufmerksam meine Käsebrote beobachten. Es sind alles Freunde, das merke ich gleich.
Der Rückweg führt am Graf Luckner Haus vorbei. Eine heimelige Ruhestatt für alte Seeteufel, die nah am Wasser bleiben wollen. Ach Wedel, wo "Elbe-Döner" locken, Emo-Mädchen den Kopf noch ein Stück gesenkter tragen, du bist ungeheuer - Gott schütze diese Stadt, vor Not und Feuer, Krieg und Steuer.
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>>> *Sylvan Masons Blog und ihre Erinnerung an "We Don't Belong", einen der mitreißend-düstersten und erstaunlichsten Pop-Songs der Sixties.
