
Mittwoch, 24. Oktober 2007
Und ja, schlagt mich, aber das finde ich nett. Das Hermetische Café steht auf der Auswahlliste für die Bobs - dem Blogaward der Deutschen Welle.
Es freut mich schon deshalb, weil ich dort mit Liisa vom famosen Charming Quark und dem launigen Bestatterweblog gelistet bin, um mal gleich meine Favoriten zu nennen. Eingebettet zwischen Kunst und Tod, fühle ich mich jedenfalls wohlgeborgen, und den nun zufällig hier hereinstolpernden Lesern sage ich freundlich Hallo.
Beim Rumklicken stieß ich bereits auf ein paar giftspritzende Kommentare von "Kungelei" bis "alle doof", was ja immer der größte Spaß bei solchen Geschichten ist. Bob ist eben für einige eine ernste Sache und nicht etwa eine prima Gelegenheit, über den Tellerrand zu schauen und neue Blogs kennenzulernen. Wer mit abstimmen möchte: Bis zum 15.11. ist dazu Gelegenheit.

Montag, 22. Oktober 2007
Mutter" rufe ich, "was ist das für ein Wein?" Stirnrunzelnd betrachte ich das Etikett. Die Mutter hat sich vergriffen, einen Merlot gekauft, den Aufdruck "lieblich" vielleicht aber auf sich bezogen oder einfach auch nur übersehen. Doch erinnern wir uns daran, was in unserer Familie immer galt: einfach immer weiter machen. Und frei nach Nestroy ("Einen Jux will er sich machen") beschließen wir tapfer: Dieser Wein wird getrunken.
Zwei Gläser später sind wir bereits leicht beschwipst und schauen gemeinsam mit einem unterschiedlichen Grad an Begeisterung "Astro-TV". Ich parodiere die hellsichtigen Gestalten, die für gute Provision arglosen Menschen Glückskekssprüche verkaufen. Auch meine Mutter findet bald Gefallen an dem TV-Trash. Als eine Frau anruft, um zu erfahren, ob's noch was wird, mit der Liebe und ob das Schicksal doch noch mal gnädig sein wird, rufen wir fast aus einem Mund: "Vergiß es!" Offenbar lebt der Sender auch vom voyeuristischen Katastrophentourismus.
Am nächsten Tag berichte ich der Mutter, daß nun viele Menschen über Dinge wie "Apfelkuchen" und "Mutterkreuz"* diskutieren, aber entweder das eine oder das andere gar nicht kennen. Meine Mutter, alles andere als eine gute Apfelkuchenbäckerin, kramt in der Schachtel mit den drei Familienandenken und präsentiert achtlos das silberne Symbol des Anstoßes. Verliehen an meine Großmutter sel., die sechs Kinder geboren hatte.
Angeblich, so lese ich, hatte man mit dem Ding einen Anspruch auf einen Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln, doch ich bezweifle, ob meine Großmutter damals im tiefen Ostpreußen wirklich etwas davon hatte, blieb sie doch die meisten Tage daheim, um die Kinder zu versorgen und statt Apfelkuchen zu backen, lieber ein paar Hühner zu schlachten.
1945 blieben die Hühner und der schmale Kartoffelacker zurück, als "der Russe" kam. Der Großvater war schon längst "gefallen", irgendwo im Osten, so wie mein anderer Großvater auch, wie überhaupt die meisten Männer dieser Familie, bis auf einen später angeheirateten Onkel, der im Westen stationiert war und die lieblichen französischen Weinkeller bewachte, wie er später gern erzählte. Meine Großmutter aber packte wie eine Maria F. der Unterschicht Kind, Sack, Kegel und Mutterkreuz und flüchtete zur Küste, damals im Winter 1945.
In Gotenhafen versuchte die klamme Bagage über die Ostsee zu kommen, auf einem der großen und kleinen Schiffe, die von dort die schwierige Passage durch Eis, Minen und sowjetische U-Bootsperren wagten. Zu Tausenden hockte man dort, wartend und hoffend, Sand in einem Getriebe, das nun völlig aus den Fugen geraten war. Die Großmutter und die sechs Kinder schliefen in einem ehemaligen Kino, dessen Sitze verfeuert worden waren. Jeden Morgen packte man die Leichen auf Leiterwagen und füllte die freiwerdenden Plätze mit weiteren Flüchtlingen. Ein anderer Onkel, der bei der Marine war, besorgte über einen wendungsreichen Dienstweg Papiere, eines dieser trickreichen Manöver, deren Irrwitz 60 Jahre später auch keiner mehr versteht. Nachbarn, die es selbst nicht anders gehalten hätten, empörten sich, aber meine Großmutter, die resolute, packte ihre sechs Kinder und die paar Koffer, die sie noch hatten, denn auf der Fahrt mit der Eisenbahn, in - welch' böse Ironie - Güterwaggons, die man mit Stroh ausgelegt hatte, war eine Türe aufgesprungen, Koffer und Kinder oder Koffer oder Kinder fielen hinaus, die Großmutter hinterher, rennen, retten, flüchten, in den blauen Augen meiner damals fünfjährigen Mutter ein großes Abenteuer, von dem nichts blieb, außer dem halbnackten Leben, Papieren, Fotos und dem Mutterkreuz, packte also die Habseligkeiten zusammen und zwängte die Familie auf eines dieser umgebauten Minensuchboote. Die zwei älteren Brüder, die - sich einen Jux machen wollend - die Abfahrt verpassten, ruderten mit einem Boot dem auslaufenden Schiff hinterher, wurden aufgefischt und - ein weiteres Abenteuer - für eine deftige Standpauke vor den Kapitän zitiert.
Aber in diesen Tagen überlebte nicht unbedingt der, der erster war. In der schmalen Fahrrinne, die durchs Eis gebrochen war, tauchten, meine Mutter schwört es Stein und Bein, bald Holz- und Trümmerteile auf. Zwei Tage zuvor war hier die Wilhelm Gustloff auf dem Weg nach Kiel einem sowjetischen U-Boot ins Fadenkreuz gelaufen. Zehntausend Menschen waren wohl an Bord, in diesem Januar 1945, und nachdem der KdF-Kreuzer versunken war, wurden 1252 aus der eisigen See geborgen. "Das war es" sollen die Worte des Kapitäns gewesen sein, als erst der eine, dann der zweite und schließlich der dritte der vier abgefeuerten Torpedos unter der Wasserlinie einschlug. Es gab kein Weitermachen.
Das Minensuchboot mit meiner Mutter an Bord hingegen kam zwei Tage später durch, ohne Zwischenfall, mitsamt der Großmutter und dem Mutterkreuz. Für den sowjetischen U-Boot-Kommandanten Marinesko gab es nichts, nur die Erinnerung vielleicht an sein Fadenkreuz. Erst 1990 verlieh ihm Mütterchen Rußland postum einen Orden.
Am Ende trafen sie sich doch wieder, in ihrer Biografie jedenfalls, denn 1963 wurde ihr Schicksalsjahr. Meine ostpreußische Großmutter, die sechs Kinder geboren hatte, aber ihm entwischte, starb im Frühjahr jenes Jahres an Krebs. Marinesko, der elftausend auf den Grund der Ostsee geschickt hatte, folgte ihr ein halbes Jahr später.
Das Kreuz, sinnlos wie der Orden an Marinesko, ist nun in meinem Besitz. Eine Tante hatte sich unlängst beschwert, wie irgendeine Schwiegertochter aus der weitläufigen Familie, kaum, daß deren Mutter tot war, "alles weggeworfen hätte". Meine Mutter hingegen blieb stoisch. "So ist das halt." Vielleicht fielen ihr die Trümmer der Gustloff ein. Ich pflichtete ihr bei und bekräftigte, nach einem kurzen Blick auf ihr im Memphis-Stil gemustertes Geschirr, es nicht anders halten zu wollen, jedenfalls soweit ich ohne Astrologen-TV in die Zukunft blicken könne. "Ich würde mir auch nur ein paar Andenken raussuchen."
"Und", meinte sie. "Willst du sie jetzt schon haben?" Und wir lachten beide und nahmen einen letztes Glas von diesem widerlich lieblichen Merlot. Ich nahm dann das Mutterkreuz und ein paar andere Dinge. Muß ja immer weitergehen.
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* In der Wikipedia und einigen anderen Quellen wird behauptet, das Kreuz hätte die Aufschrift "Das Kind adelt die Mutter" getragen. Diese Inschrift habe ich nicht gefunden. Auch die Fotos in der Wikipedia selbst liefern dafür keinen Beweis. Vielleicht fand sich ein solcher Aufdruck auf der separaten Verleihungsurkunde - oder aber es hat hier eine Quelle von der anderen abgeschrieben. Die Seite des Deutschen Historischen Museums erwähnt diese Inschrift nicht.

Freitag, 19. Oktober 2007
Die Herbstsonne, das ist bekannt, kriecht am schönsten in den Wäldern des Bergischen Landes durchs fehlfarbige Laub. Zeit also, die Streikpause der BundesBahn zu nutzen und kurz einmal eine Luft zu schnuppern, für die es keine maritime Notausrüstung braucht. Sie wird erfüllt sein vom Fangesang des Regionalligaführers, dem psychedelischen Wispern der Wupperfabelwesen, vielleicht aber auch vom Heulen der zerzausten Klageweiber. Aber in den Baumlöchern der Gegend ist sicher noch Platz für ausgehauchte Geheimnisse. Schwere Erde, karges Essen und eisige Gemütlichkeit bei geöffneter Balkontüre erwarten den Wandersmann. Eine Reise ohne Rettungsring. In den Labyrinthen des Bergischen vertraut man schließlich besser nur sich selbst.
In der Zwischenzeit erfreuen sich alle herzensguten Menschen an den bezaubernd animierten Expeditionen des Jasper Morello (IMDb). Trailer
Wie heißt es: Jede Reise führt zu sich selbst zurück.
Außerdem brauche ich neue Schuhe.

Donnerstag, 18. Oktober 2007
daß der medicus nicht alles,
das er können und wissen soll,
auf den Hohen Schulen lernt...
(Paracelsus, 1493-1541)
Viel hat sich getan im Werbewunderland. Die Prospekte, die sich zum Wochenende in meinem hermetischen Briefkasten einfinden, heischen nicht mehr nur mit billigen Anspielungen unter die Gürtellinie um Aufmerksamkeit für weitgespreizte Hühnerbeine und klaffende Portionen Bauchfleisch.
PISA-Schock und Bildungsdebatten haben Folgen gezeigt und auch die Supermärkte in die Pflicht genommen. Die Discounter haben verstanden: Der Bildungsauftrag darf nicht länger nur den Ministerien überlassen bleiben. Jetzt heißt es: Wissenschaft statt frivoler Genußbefriedigung!
Den Auftakt macht ein Dingevermarkter mit realem Anspruch. Sein Prospekt ist gespickt mit Bildern, die eine forschende Jugend begeistern werden und heiße Kanidaten für den Wettbewerb der Mikroskopfotografie sind. Ich habe mir zwei ausgeschnitten und gleich mal mit meinem, zugegebenermaßen etwas simplen, Untersuchungsgerät analysiert.
Rechts oben, gibt es für einen Euro, erkennt man fast schon mit bloßem Auge (Vergrößerung 100fach) wie zwei Spermatozoen vor zwei Eizellen flüchten. Rückgang der Geburtenrate? Hier ist der Beweis, selten eindrucksvoller festgehalten. Das zweite Bild, ich nenne es das histologische Tablett, ist anspruchsvoller. In mehr als 300facher Vergrößerung entdeckt man in Kongorot-Agar-Nährlösung schwimmend diffus verteilte, mäßig ausdifferenzierte Zellstrukturen. Membran und Zellkerne sind deutlich abgegrenzt zu erkennen. Möglicherweise handelt es sich um einen Schnitt durch die Basalzellschicht. Melanozyten klumpen sich in einer UVA-Licht-induzierten Schreckstarre zusammen. Befund unklar, ein Nachschnitt wird empfohlen.
...
[Unterschrift unleserlich]*
Mit einem Wort: Sehen, Staunen, Lernen - und alles für einen Euro. Die Werbung zeigt: Es müssen nicht immer die teuren Folianten sein, die einem den Horizont erweitern. Wer Wissenschaft sehen will, findet Wissenschaft überall. Ihr müßt nur Hinschauen!
>>> Frühere Folgen
*Vermutlich lacht sich Frau Fragmente gerade tot, wie ich versuche, mich hier durch die Prüfung zu mogeln.

Dienstag, 16. Oktober 2007
Also known as the Justified Ancients of MuMu
Furthermore known as The Jams
(KLF, "Last Train To Transcentral")
Mir war, als sei Ende der 80er irgendwie die Luft rausgewesen - vor allem in den mit ekstatischen Sauerdrops gefüllten Ballonköpfen der House- und Rave-Szenenbewohner. Zum Glück tauchte für ein paar kurze Jahre ein Unterseeboot namens The KLF aus dem smileytrunkenen Elektrobeatsumpf und schrieb ein paar ebenso tanzbare wie unvergessliche Botschaften Kornkreisen gleich in empfangsbereite Hirnrinden.
Damals war ich noch sehr vertraut mit dem Werk von Robert Anton Wilson, hatte die Illuminatus!-Trilogie inhaliert, den Hagbard durch discordianische Sozialgefüge tauchen lassen, mein Hirn für Verschwörungstherorien aller Art aufgeweicht, Botschaften aus dem Radio empfangen und war von Herzen entzückt über die subversiven Kracher der Herren Bill Drummond und Jimmy Cauty.
Der Mix aus fetten Beats und brachialen Gitarren(-samples) von KLF war ein wenig die Kunsthochschulvariante der Grebo-Popper von Pop Will Eat Itself (mit ihrem Klassiker There Is No Love Between Us (Anymore)), mindestens so dreckig, aber eben mit Grips. KLF standen mit den Füßen tief im fruchtbaren Schlamm ihrer jeweiligen Punk- und Kunst-Biografien, zeichneten sich durch situationistische Aktionen und Streiche gegen die (Musik-)Industrie aus, die man nicht immer verstand (ich wäre wohl zu spießig, so wie sie eine Million Pfund auf der Isle of Man oder Helgoland zu verbrennen), aber spontan interessant gut finden konnte.
Bild via KLF
Zwei Copyright-Gangster (KLF bedeutete u.a. auch "Kopyright Liberation Front", ihr frech geklautes "Dancing Queen"-Sample hingegen beendete fast ihre Karriere, kaum daß sie begonnen hatte) mit schmutzigen Stiefeln auf dem Weg ins mythische "MuMu"-Land (schon klar, da kommen wir her, da wollen wir hin), ich war gleich hin und weg. Ich habe keine Ahnung, ob einen die kleinen intertextuellen Scherze ansprechen, wenn man nicht wenigsten ein paar hundert Seiten Robert Anton Wilson gelesen hat. Die Musik selbst ist natürlich wie immer Geschmacksache und selbst deren Zitatreichtum bleibt heute vielleicht unverstanden. Mag also sein, daß ich wieder einmal nur sinnfrei von damals™ schwadroniere, aber he, eure Aufgabe ist ja nicht Zuhören. Eure Aufgabe ist, euch eine eigene Vergangenheit zu schaffen. New style, meanwhile, always on a mission while fishing in the rivers of life... (KLF)
Zurück zu KLF. Die sind nun Geschichte ("Ladies and Gentlemen, The KLF have now left the building") und warten auf erste Doktorarbeiten, die über ihr Werk verfaßt werden. Ihr berühmtes "Handbuch" ("How To Have A Number One The Easy Way") jedenfalls ließe sich auch prima auf die Blogger-Szene übertragen. Das karnevaleske Revolutionsgehabe mit all seiner romantischen Ironie allerdings wirkt heute, bald 20 Jahre später, weniger wie postmoderne, selbstverliebte Scharadenspiele (i.e. Masturbation mit Popkulturmythen), sondern eher wie eine burleske Blaupause für post-freiheitliche Überlebensstrategien: Wenn das Innenministerium™ uns bald alle zu staubmanteltragenden Kanalisationsbewohnern gezwungen hat, die sich nur noch flüsternd verständigen, wird die ClockworkOrangeMadMax1984-Welt dringend subversive Winke, Übertragungen von "Radio Freedom", den Traum vom mythischen Mumuland, viel Witz und den Glauben an die Liebe brauchen. Dies alles kann aber auch in anderen Zeiten nicht schaden.
Ach, und Herr Gheist, falls Sie mitlesen: KLF haben auch für unser Opernprojekt wertvollen Inspirationsgrund gepflügt!
>>>
- Videos zu Last Train To Transcentral und 3 am Eternal
- KLF in der Wikipedia
- KLF in der Indiepedia
- Die sehr kompetente deutsche Fan-Seite
- Jimmy Cautys Videosammlung auf Youtube
- Timelords - Doctorin' The Tardis (Video)

Montag, 15. Oktober 2007
Das folgende Video zeigt bloß eine TV-Moderatorin, die vor laufender Kamera, nun ja, "spucken" muß, das kennen viele vielleicht, und anschließend, das wird ebenso viele sicher überraschen, einfach weitermacht. Es ist nicht besonders feinsinnig oder sonstwie "schön". Unerschrockene Kulturforscher klicken dann bitte hier [Youtube]

Sonntag, 14. Oktober 2007
Ich mache jetzt auch mal Food-Bloggen und stelle fest: Ein Sonntag ohne Kuchen ist wie ein Supermodel ohne Echtpelz. Irgendwie nackt nämlich fühlt sich so ein Nachmittag an, wenn der, nennen wir ihn ruhig, Milchkaffee ein unbegleitetes Dasein auf dem sonnenbeschienenen Holztisch fristet.
Das Schöne am Bloggen (mistige Metagedanken) ist ja die Freiheit sagen zu dürfen: Du trägst stolz eine verstorbene Blume auf dem Kopf, aber ich finde es trotzdem scheiße.
Leben 2007 muß als potentielles Verbrechen begriffen werden.
Danke.
"Bitte schick mir das Videoband dort wo ich kotze." Was Dieter Roth, von dem das Zitat stammt, nicht wissen konnte: Der Anstand des Privaten ist heuer einer Ästhetik der Selbstüberwältigung gewichen. [Youtube, not safe while eating]
Unsere größte Leistung: Wir haben den Handy-Film erfunden!
Mein nächstes Heim wiederum ließe ich am liebsten von Rebecca Purcell dekorieren. Sie scheint auch die böse Motte, des Requisiteurs größter Feind, im Griff zu haben. Für die Dieter-Roth-Abende allerdings wäre wenigstens im Sanitärbereich eine industriellere Variante vorteilhaft.
