
Samstag, 29. April 2006
Tetsu Tominari lebt in Tokio und bekommt den Finger nicht vom Auslöser. Ich mag ja diesen trashigen, uninszenierten Ansatz, Leben zu dokumentieren, ziellos, probierend wie ein Tagebuch mit einer gewissen Hemmungslosigkeit, die uns Europäern eher charmant denn provokant vorkommt. Andererseits, wenn man weiß, daß schon lautes Benehmen in der Öffentlichkeit für Japaner peinlich ist, bewertet man die Tabubrüche vielleicht noch einmal neu.
So gesehen eben doch eine Inszenierung, und sei es - wie bei Araki - daß hinter der ungebremsten Schaffenslust die Eitelkeit steckt, vielleicht dem Tod doch noch ein wenig Zeit abringen zu können.
Und darum, seien wir ehrlich, geht es am Ende eben immer. Der Ringelstrumpf der Woche geht also nach Japan, dem Land der aufgehenden Sonne und unaufgeräumten Kleinstwohnungen.
Tetsu Tominaris Bildband gibt es hier, über Preise wollen wir nicht reden.
Ich hoffe, am Wochende steht für jeden ein geringelter Maibaum bereit, zum Tanzen und frivolen Locken.

Freitag, 28. April 2006
Plastinator Gunther von Hagens, Schöpfer der Körperwelten™ (Ja, ich war auch mal dort), hat ein wenig mehr TotenRuhe ins Land gebracht. Nachdem er nun im schönen Städtchen Guben das Rathaus gekauft hat (kann man ja mal machen, das Hamburger Rathaus ist auch sehr schön) und zugleich grünes Licht erhielt für den Bau einer Plastinationsfabrik, bereitet auch das Sterben wieder Freude.
Für die Angehörigen.
Einen kostenlosen "Abholservice" für Leichen werde er einrichten, schreibt der Körperbastelfreund. "Dieser Service wird großen Zuspruch finden, denn er ermöglicht Trauer ohne Sorge um Begräbniskosten."
Wundern wir uns also bitte nicht, wenn demnächst diskrete Kombis und Kastenwagen durch die Stadt eilen - mit dem Slogan:
Trauern ohne Sorge dank Gubener Plastinate
Ich mag diese 50er-Jahre-Ästhetik dieses möglicherweise vom Chef selbst gedichteten Spruchs. "Die Welt sehen - als Gubener Plastinat!" gefiele mir auch sehr gut. "Plaste + Elaste - selbstverständlich aus Guben" eignete sich z.B. für Werbematerialien aller Art. Kugelschreiber, Wandkalender, solche Sachen ("sonne Sachen", sagt man in der Gegend, glaube ich).
Da ja die Angehörigen angesprochen werden sollen, könnte man in der U-Bahn die Plakate mit Tschüß Omi - wir ziehen um. Aber für dein Grab ist gesorgt. - Grabpflege ab 50 Ct. pro Tag!, die mich bislang immer ein wenig irritierten, ersetzen durch: "Mal wieder einer tot? Keine Sorge - ab nach Guben!"
Danke, Gubener Plastinate.
Und wer weiß, wie lang es dauert, bis auch der Volksmund sagt: Wer andere nach Guben schickt, fällt selbst hinein.

Donnerstag, 27. April 2006
Dieser Anflug von Tragik. Morgens aufwachen und die Idee seines Lebens haben. Kurzer Taumel des Glücks. Dann bemerken, jemand anderes hatte sie bereits.

breitet es sich überall aus.
Neulich morgens wachte ich auf und war für einen verhältnismäßig langen Moment der Überzeugung, ich sei der wiedergeborene Michael Flatley. Zwar lebt der noch, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, tänzelte und steppte aber dennoch, so gut es die langen Beine meiner Schlafanzughose (gestreift) zuließen, ins Bad. Der eher plumpe Aufprall auf den Badezimmerfliesen bereitete allerdings eine gewisse geistige und körperliche Ernüchterung vor. Das eiskalte Wasser der Morgendusche brachte mich dann vollends zur Besinnung. Glaube ich.
Als Tanzbodenfürst wäre mit mir kein Staat zu machen. Ich hatte aber gleich darauf eine neue Idee, wie ich zu künstlerischem Ruhm - und mehr noch - zu Geld kommen könnte. Ich werde nämlich einen Roman schreiben! Genauer gesagt, ein Kinderbuch, das muß man ja in Deutschland fein unterscheiden.
Seit ich diesen Film über die barfüßigen Typen gesehen habe, die mit einem Schmuckstück durch Auenwälder latschen, (das ist der, in dem auch die spitzohrige Prinzessin mitspielt, die aussieht wie Schneewittchen mit unheimlich großem Mund), ist mir nämlich aufgefallen, daß Themen mit Hokuspokus und Magie ziemlich gut laufen derzeit.
Also habe ich mir eine hübsche Geschichte ausgedacht. Held meines Romans wird ein kleiner Junge sein. Eine Waise, habe ich mir überlegt, um ihn ein wenig herauszustellen und besonders zu machen. Was der Junge anfangs nicht weiß: Er hat eigentlich Zauberkräfte! Wie das aber bei kleinen Jungen so ist, und bei Zauberlehrlingen allemal, muß er erstmal zur Schule, am besten also eine Zauberschule, um ordentlich zu lernen. (Pädagogische Botschaft muß sein im deutschen Kinderbuch!) Weil die Kinder, die mein Buch lesen, wie viele Leseratten bestimmt eine Brille tragen und deswegen gehänselt werden, mache ich meinen Helden auch zum Außenseiter und verpasse ihm ebenfalls eine Sehhilfe. Das verbindet und kommt an. Die Spreepiratin, der ich von dieser tollen Sache erzählte, weil sie sich mit Medien ein wenig auskennt, sprach mir gut zu war gleich Feuer und Flamme und schlug vor, dem jungen Helden obendrein eine Narbe anzudichten. (Ich glaube, sie hat da für so was ein gewisses Faible.)
Mein kleiner Held (Arbeitsname "Kid"), ich werde ihn später vielleicht Herbert nennen oder Horst, jedenfalls was mit "H", ist nun dreifach stigmatisiert: Brille und Narbe und Waise. Da hat er was zu überwinden und einen kleinen dunklen Schatten auf der Seele, ein Geheimnis vielleicht, das es im folgenden zu ergründen gilt. Natürlich muß er sich auch gegen Neider, verblödete Erwachsene und Schulhofterroristen zur Wehr setzen, damit werden sich meine jungen bebrillten Leser sicher gut identifizieren könen.
Das Ganze werde ich mit allerlei Quatschwörtern aufpeppen, denn in diesem Film mit der spitzohrigen Prinzessin gab es sogar eine eigene Sprache und Mythologie. Ich hörte, so was gibt echten Fans das Gefühl, "Insider" zu sein. Und echte Fans machen ein Buch erst zum Erfolg. Also werde ich Begriffe wie "Quuuuuggle" oder "Kramlat" einführen, die meine Insiderfans dann beiläufig in Partygesprächen fallen lassen können.
Später könnte man auch T-Shirts verkaufen mit Sprüchen wie "Mit Quuuuuggles rede ich nicht" oder "Wo ich bin, ist immer Kramlat".
Mein Held braucht noch ein Haustier. Da bin ich aber noch unsicher. Einen Hund? Den haben Zauberer nicht. Eine Katze vielleicht. Oder besser einen Vogel? Die werden ja immer seltener.
Ich glaube, ich mache daraus besser gleich eine Saga und lege das auf sechs Bände an. Ich bin sicher, das wird ein Hit. Dann bin ich stinkreich und tanze auf dem Dach der Welt. Wie Michael Flatley.

Mittwoch, 26. April 2006
Vor zwanzig Jahren, möglicherweise leicht verstrahlt: Tage nach dem Reaktorunglück. Caesium 137 wäscht sich seinen Weg in unsere Körper. Warum sollte es auch nicht schneller gehen, das Ende. Die Ernte ist verseucht, und die Dichter grübeln. Vielleicht erscheint uns nun eine Erscheinung: Ein Spiel ins [sic!] System. Ein Hustenbonbon ohne Nachgeschmack.
In der Woche nach der Katastrophe stammte plötzlich alles Gemüse, das kurz zuvor noch als "Freiland" deklariert gewesen war, aus Treibhäusern. Ganz Deutschland war offenbar über Nacht zu einem riesigen Gewächshaus geworden. Von Holland wußte man das ja schon. Der Begriff "Milchpulver" tauchte erstmals wieder im aktiven Wortschatz auf und weckte diffuse Bilder einer nicht erlebten Nachkriegszeit. Minister Zimmermann beruhigte jeden Abend: Für die Bevölkerung geht keine Gefahr aus. Die Rente war plötzlich auch sicher und wir glaubten es, weil nun klar war, daß dieses Alter keiner mehr erleben würde.
Als sicherer galt nur noch Neuseeland.

Dienstag, 25. April 2006
And you should know I suffer the same
If I lose you
My heart will be broken
(Madonna, "Frozen")
Als ich dich suchte, als ich Lichter sah und Klänge und die Schrittfolgen auf den glänzenden Böden. Diese Tage, als ich nicht wußte, war es der Hunger. Oder nur Durst. Diese Tage als ich Augenpaare sah und weitere Augenpaare. Auge um Auge, sehend suchen, Sehnsucht, aber nie mehr das, was ich in dir suchte.
Ich traf dich in den dunkleren Straßen der Stadt. Ich traf dich auf dem Boden des Ozeans. Ich traf dich in den Tiefen schwarzer Bunker und am Ende von irgendwas. In Lärmgewittern, dort wo die Wogen an den Strand schlagen und Herzen sich öffnen. Auf der anderen Seite der Stahltür sah ich dich, getragen von verwehten Bassdrums und Tinitusfiepen, zwischen langen Haaren und den Trümmern der letzten Party.

Auf den Lippen der Geschmack schaler Getränke, auf der Haut keine Küsse, nur Schweiß der Tänzer, die klebrige Schicht verstreuter Tränen. Süßes Parfüm, gehauchte Erinnerung, gehauchtere Worte, ein Flüstern, kurz bevor die Woge herabbricht - der lautere Klang, die tieferen Bässe, die giftigeren Gitarren, das härtere Schlagzeug. Alles verschluckend, in Echos wandernd von tief unten nach noch tiefer unten. Zur Herzschlagfrequenz.
Im Dunkeln, einst, faßtest du meine Hand. Wir suchten, getrieben, getragen vom pulsierenden Rhythmus, ein enger Tunnel durch Trockeneis, zuckendem Licht. Ich wußte, ich kannte dich von irgendwo.
Wenn das Ohr nicht mehr hört, nur noch die Haut, wenn die dummen Worte, meine, nur noch Klang sind und keine Klage. Und immer richtig.
Wie alt sind wir geworden? Was wird uns heute noch wichtig sein? Ich schreibe deinen Namen, fein addiert. Mal um Mal, hundert mal. Haben, nicht halten.

Montag, 24. April 2006
Die Schweizer Fotografin Alexandra Crespi ist so eine, die geht nah ran. Mit einem Punch, wie ein Boxer, hart, ein wenig roh vielleicht. In ihren Porträts holt sie die Menschen und Körper aus dem diffusen Raum, entkernt die Schatten und entblößt die Gesichter, zerbeult, getroffen, schutzlos, all battled und bruised. Genau anders herum ihre Raumerkundungen. Der nackte Körper scheint in den kargen, zerschlagenen Raum zu diffundieren, sich aufzulösen, in Wände, Struktur und Verfall. Technisch recht simpel, unaufwendig. Begrenzte Zonen aus Licht und Schärfen als wiederkehrender Stil. Aber immens beeindruckende Protagonisten.

Freitag, 21. April 2006
Zu den schönsten Flohmarktfunden zähle ich alte Scrap-Books und Fotoalben. Hin und wieder kaufe ich ein paar Sachen, so wie der Held aus One Hour Photo, und denke mir die fehlenden Geschichten aus.
Vor fünfzehn Jahren ging ich spät nachts noch durchs regnerische Tal auf dem Weg zu meiner Freundin und wurde durch einen wahren Schatz vom Wege abgebracht. Es war Sperrmülltag, und jemand hatte säckeweise alte Fotos rausgestellt. Vieles war naß geworden und zerstört, vieles andere war einfach viel zu viel, aber eine kleine Tüte voll habe ich doch gerettet. Seit Jahren liegen sie in einer Blechdose verstaut: Eine Familiensaga vom 1. Weltkrieg bis in die 50er Jahre, als einer der Söhne in Amerika heiratete.
Die Familie, kleine Fabrikanten, so vermute ich, tritt noch heute ab und an aus den Schatten des Vergessens heraus. In Fotos, die beide Weltkriege zeigen, Interieurs, Ausflüge und die großen und kleinen Festlichkeiten. Leider sind die meisten Bilder undatiert (Kleiner Hinweis: immer schön Fotos hinten beschriften, falls ich die mal auf dem Flohmarkt finde. Vielen Dank.), was die historische Einordnung erschwert, die Fantasie aber um so mehr anregt. Sozial- und kunstgeschichtlich eine hübsche Aufgabe, mehr noch aber ein Steinbruch unendlicher Assoziationsketten.
Demnächst stelle ich das ein oder andere näher vor.
