Donnerstag, 20. April 2006


Der enge Wendekreis des Golfs

Sie sind wie Krebse. Mit ihren Scheren klammern sie sich an das bißchen, was sie haben, gehen immer nur noch seitwärts, beharrlich, stur. Und ängstlich vor jedem Schritt nach vorne.


 


Mittwoch, 19. April 2006


O Haupt voll Blut und Wunden

In the end you will submit,
It's got to hurt a little bit.

(New Order, "Subculture")


Die Karfreitagsprozession in Wuppertal - im Volksmund auch Regenschirmprozession genannt aufgrund der oft schwierigen Wetterlage im Tal - hat seit Jahren eine feste Tradition. Während sich anfangs nur ein paar hundert Leutchen, Mitglieder der italienischen Gemeinde zumeist, in der Stadt versammelten, um den Leidensweg Christi nachzustellen, ist das ganze mittlerweile zu einer durchorganisierten Großverstaltung gewachsen. Die Darsteller tragen drahtlose Mikrofone, die Kostüme sind aufwendig und das (Er-)Barmer Blasorchester fügt den inbrünstig gemurmelten italienischen Gebeten von der Maria voll der Gnade die nötige bergische Schwermut hinzu.

Man muß sich das mal vorstellen: da vermissen italienische Gastarbeiter ihre katholischen Traditionen aus Süditalien und beginnen, diese in einer Stadt, die das Feiern nur im Verborgenen kennt, aufleben zu lassen. 5000 Menschen folgten dieses Jahr dem feierlichen Zug auf die Wuppertaler Höhen. Bei weitem nicht nur Italiener, und so kam es nicht von ungefähr, daß in der zweisprachigen Predigt der Zusammenhalt und die Toleranz der Kulturen und das gute Zusammenleben von Italienern und Deutschen hervorgehoben wurde. Multikulti mag tot sein, in solchen Momenten funktioniert es einfach. Und man muß nicht an den allmächtigen Schöpfergott glauben, um universelle Lebensweisheiten über Opferbereitschaft, Liebe, Verrat, Tapferkeit, Erniedrigung und Hingabe für sich abzuleiten. Wer einmal eine größere Darbietung volksfrömmiger Hingabe erlebt hat - Ste Anne de Palud ist ein weiteres Beispiel - muß schon hart im Herzen und hochmütig im Geiste sein, will man sich den tieferen Botschaften verschließen.



Eingestimmt wurde ich, als ich eine Exfreundin aus seligeren Wuppertaler Tagen traf, die ihre Haare nach wie vor leuchtsignalfarben unübersehbar trug. Vor ein paar Jahren entdeckte sie meine grauen Strähnen und meinte in der ihr eigenen Herzlichkeit, "alt bist du geworden". Nun dachte ich ebenfalls, ein wenig uncharmant vielleicht und daher nur leise, "alt ist sie geworden", so wie man es an seinen Kindern merkt, wie die eigene Zeit vergeht.
Wer keine Kinder hat, wie ich, liest den eigenen Verfall nicht am Flug der Vögel ab, sondern am Werden und Vergehen der ihm gut bekannten Menschen. Aber was rede ich, sie sah natürlich, anders als ich, sehr gut aus und ihr aktueller Freund vielleicht sogar eine Spur besser noch. Was immer irgendwie blöd ist, erwartet man von seinen Exfreundinnen doch die Höflichkeit, daß sie sich - wenn sie schon nicht ins Kloster gehen - wenigstens verschlechtern mögen und beispielsweise an eben dem langweiligen Typen hängenbleiben, den man früher in der Schule immer verlacht hat.

Dergestalt also an die Tugend der Demut erinnert, war ich innerlich bereit für das Spektakel, das nun folgen sollte.



Der Herr Jesus wurde wie in den Vorjahren von einem feschen jungen Italiener gespielt, dem mit seinem unschuldigen Gesicht, der blutenden Stirne und dem zerzausten Haar sicher einige jungfräuliche Herzen vom Wegesrand aus zuflogen. Seine Mutter heißt übrigens Maria, was seiner Glaubwürdigkeit in fast unerschütterliche Höhen überführt.

Im Deweerth'schen Garten beginnt die Prozession traditionsgemäß mit dem Gebet von Gethsemane und der berüchtigten Szene, wo der verschlagene Judas dem lieben Herrn Jesus den verräterischen Kuß gibt. O, falsche Freundlichkeit, du herzlose Natter! Man kennt diese Bussi-bussi-Gesellschaft.

Auf dem Laurentiusplatz, gegenüber dem Kaffee Engel, wusch bald Stadthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld. Das Volk skandierte und schickte Jesus endgültig in den Tod.



Auf dem Rathausmarkt, am Neptunbrunnen, residieren für gewöhnlich Randständige und konsumieren ihr Bier. Man meint ja, daß die sich heute schwer gewundert haben dürften, als plötzlich ein paar tausend Menschen aus der Fußgängerzone auftauchten und sich um sie herumgruppierten, darunter eine Gruppe Römer in voller Montur, die sozusagen einen der ihren drangsalierten. Doch nicht so im bibelfesten Wuppertal.
Denn nachdem die Prozession weitergezogen war, meinte einer der Berber zum Kollegen: "Ich war ja zwei Jahre im Kloster, woll."
"Ach watt."
"Doch, war so. Un' ich kenn die Geschichten nämlich alle."



Nicht ganz so die Lage auf der Hardt. Die Wuppertaler Parkanlage wird jedes Jahr zum Golgatha, dem Schädelberg. Nachdem ich die Anhöhe mühsam erklommen hatte, bot sich mir ein tolles Panorama auf eine Kavalkade bußfertig erhobener Regenschirme, denn pünktlich zum traurigen Höhepunkt der schmerzensreichen Leidensgeschichte, hatte sich der Wuppertaler Himmel bedrohlich verfinstert.
Genervte, aber in Bibelkunde versierte Väter hievten ihren neugierigen Nachwuchs auf die Schultern und mußten den nur diffus vorinformierten Blagen geduldig die Sachlage erklären.

"Ist der Jesus jetzt tot?"
"Noch nicht. Gleich."
"Ist jetzt gleich? Ist er jetzt tot?
"Dauert noch ein bißchen."
"Wenn der Jesus tot ist, können wir dann gehen?"



In diesem Augenblick wurde mir klar, daß es es diese einfühlsamen Kommentare vor 2000 Jahren sicherlich bereits auch schon gab. Als schaulustige Väter ihren Kindern die Geschehnisse auf dem Richtplatz erklären mußten. Höchstwahrscheinlich, so möchte ich vermuten, fiel dabei aber nicht der Satz "Willst du noch ein Stück Schokolade, Anna-Maria?"

Die melancholischen Posaunen erklangen und die Menge fand mit schwankenden Stimmen in das Lied von Paul Gerhardt. Immer wieder griff ich in meine Tasche voller Dornen, und ich schwöre, am Ende zeigte meine Handfläche ein ganz klein wenig Blut.

Die Kreuzigung war übrigens sehr schön.


 


Montag, 17. April 2006


Hasen-Theorem

Ostern hat nicht nur Schokoladenseiten.


 


Donnerstag, 13. April 2006


Sieh nur, all die armen Häschen

I am the spring, the holy ground,
The endless seed of mystery,
The thorn, the veil, the face of grace,
The brazen image, the thief of sleep,
The ambassador of dreams, the prince of peace.
I am the sword, the wound, the stain.
Scorned transfigured child of Cain.

(Patti Smith, "Easter")

Nun gehe ich fort. Die Kerze anzünden, den Blick in die Morgenröte halten. Überhaupt: inne halten. Morgen ist Freitag, da werde ich denken: Das Fleisch, die Wunde, das Ende der kargen Zeit. In den letzten Wochen, Monaten war so viel zu denken, noch mehr zu glauben und wenig zu sagen. Zuviel Funktionieren auch und zu wenig Versuchen, Tasten, Probieren. Hier muß es wieder raus aus den flachen Gewässern, mehr ins Licht, noch mehr vielleicht aber in die Dunkelheit.

Die streunenden Hunde, die falschen Rotkäppchen liegen lange am Waldrand schon zur Ruhe. "Wie Schatten hinter schwarzen Büschen stehen" (Trakl). Sangre de Dios, mag es also tropfen im dunklen Gehölz. Kein Kain, kein Abel, kein böserer Bruder.

Danach aber folgt das Osterfest. Der Stadt und dem Erdkreis. Auferstehung, Licht und all überall hoppelnde Kaninchen. Astartentanz auf der Mümmelmannwiese.

Ich ziehe dann weiter. Im Osten, so heißt es, wartet auf mich ein Tanz um ein Martiniglas. Eine Verheißung, der ich mich gerne hingebe. Frohe Ostern.
Seid bis dahin so brav wie ich es bin.



(via The Reverse Cowgirl)


 



Der gefundene Satz, 31

Die Süße Traurigkeit wird man in einem gewissen Alter wohl nicht wiederfinden.
Ich glaube, die Süße Traurigkeit ist der angenehme Anfangsschauer gewesen der bitteren Traurigkeit.

(Dieter Roth. Da drinnen vor dem Auge - Lyrik und Prosa. Frankfurt/Main, 2005.)


 


Mittwoch, 12. April 2006


Merz/Bow #2

#

Ich hätte nicht gedacht, daß die Anschaffung eines TFT-Monitors so ein Drama sein könnte. Vielleicht sollte ich noch vor dem retardierenden vierten Akt das Theater verlassen und einfach einen Eizo kaufen.

#

Theater allerorten. (Nein, eigentlich nur an dem immergleichen, dafür altbekannten.) Geht mich diesmal zum Glück nichts an.

#
#

Apropos über andere Leute reden. Naughty James hat bekanntlich Sarah G. (das ist die mit den hier allerdings unvorteilhaft wirkenden Ringelstrümpfen) zum Jahreswechsel bekanntlich was versprochen. Details wissen wir natürlich nicht, aber anscheinend läuft da jetzt was mit dieser Asiatin, und ich vermute, es war Sarah selbst, die neulich in den Kommentaren eine wichtige Frage stellte.

#

Sobald Craig wieder erwacht, wird ihn dieses Auge verfolgen. (Nicht das surrealistische You-know-where, sondern das Poe'sche!)

#

Das hermetische Café hat jetzt eigene Cheerleader. Betrachten Sie Herrn Kid und seine Pompon-Girls.

#

Zauber der deutschen Sprache, die immerhin elegante und lobzupreisende Verse hervorbringt wie "Haufenweise Sonderpreise".

MerzBow | von kid37 um 14:49h | 12 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 10. April 2006


Ein Staubhaus grimmer Taten

Persons who are morally squeamish
should not attempt it.

(Assassination: A Primer,
via Gedankenträger)

Dem Verfall zu begegnen ist ein moralisch wertvoller Kampf, den die meisten Menschen am Wochenende führen. Feudeln, Wischen, Staubsaugen, manchmal sogar das Bett frisch beziehen, manche erinnern sich dunkel. Geschirrspülen zählt dabei zu den befriedigensten solcher Tätigkeiten, dicht gefolgt nur vom erhebenden Gefühl, die Wanne vom Abtropfständer von den Kalkablagerungen des letzten halben Jahres zu befreien. Ein wenig Zitronensäure (unauffällig beigemischt) führt da schnell und sicher zum Ziel und hinterher kann man sich daran berauschen, wie kalkiger Schlick den Weg in den Ausguß findet.
Sind die Sedimente entfernt, Schicht um Schicht, füllt das Röcheln und Schnaufen des Staubsaugers die frühlingshafte Luft. Mit begeistertem Gurgeln und Rattern schluckt er das, was andere nur spucken würden. So ist's brav, denkt man, und führt das Rohr in die dunkelsten Ecken.

Das stimuliert die empfindlichen Nerven. Au Rebours, bürste ich den finst'ren Abgrund! Tod, Tod dem bösen Staub! Dieser Kampf ist ein heiliger. Einmal soll eitel Glanz und Freude sein! Bevor es wieder hinabgeht, tief unten, là bas, in die abyssmalen Welten, wo tentakelarmige Haushaltsmonster ihre staubige Saat, ihre krustige Brut in den Räumen verteilen. Ich werde sie vernichten, ein moderner Van Helsing, ein Sinclair, ein Staubmonsterjäger. Als Ninja-Krieger im Haushaltskampf töte ich lautlos, presse das Staubtuch mit einer ebenso raschen wie unerbittlichen Bewegung auf den modrigen Schlund des Monstrums, ersticke das feindliche Wesen - und schleiche zurück, alle Spuren verwischend.


 


Sonntag, 9. April 2006


Der kleine Fakir

Ich bin kein Menschenfeind.
Aber wenn Sie mich besuchen wollen,
bitte kommen Sie pünktlich und
bleiben Sie nicht zu lange.
(Gottfried Benn)

Hurra, endlich kann man in Hamburg wieder auf Flohmärkte gehen, ohne sich anschließend die Eiszapfen aus den Haaren klauben zu müssen. Ehe der große Regen losbrach, war Gelegenheit für eine kleine sonnenbeschienene Spritztour von der Hellbrookstraße zur Alten Rinderschlachthalle. Sprechende Namen natürlich und gute Plätze für Schätze und andere Binnenreime Dinge.

Geht doch, möchte ich da sagen, auch wenn die Ausbeute noch gering war. (Immerhin: ein schönes altes Multimeßgerät mit Analoganzeige für die Radiobasteltage.) Verzückt hat mich dieser Besucherstuhl. Das wäre was fürs Hermetische Café! Da könnte ich die Gäste regelrecht einer Nagelprobe unterziehen. Denn mein Sofa kommt ja demnächst raus. Aus dem einen und auch dem anderen Grund. Zu oft schlafen mir die Leute vor lauter Gemütlichkeit dort einfach ein, anstatt meinen Worten zu lauschen oder sich mit mir gemeinsam auf einen Film zu konzentrieren. Mit solchen Stühlen geschähe das wohl weniger häufig. Außer, ein kleiner Fakir käme zu Besuch. Den würde ich womöglich gar nicht mehr los.