
Montag, 8. August 2005
Sometimes it's hard to see the beauty of life in it's everyday form. If we could freeze little moments here and there that are normally very private, very intimate, very raw, and very real I think we'd learn to appreciate things with much more ease.
(Rebecca Tillett)
Rebecca Tillett hat wieder ordentlich an ihrer Seite im Netz herumgeschraubt.
Ihre Fotos, die Slut-Version von Cindy Shermans amerikanischer Entdeckungsfahrt von Gesellschaftsklischees und Geschlechterrollen, sind cross-entwickelte Bilder (weiblicher) Selbsterforschung. Identity! schreit es, und Kill Your Idols wohl auch. Das ist nicht unbedingt neu, und radikaler hat man das auch schon gesehen. Aber wenn die fragilen Momente genau richtig zusammenfallen, dann liebt man es, ist zärtlich berührt.
Da haucht es beim Stern "Autoaggression" hier und "SVV" da. So als hätte es in der Jugendkultur der letzten 30 Jahre irgendwann einen anderen Antrieb gegeben. Punk/Blog: Die fotografische Selbstentdeckung, das Schnappschußhaft-Inszenierte, der Trash-Faktor des Unfertigen, Dilettantischen: Menschen, die sich nicht entäußern wollen oder für Fotografie interessieren, kommen mir überhaupt nicht mehr ins Haus. Das Rauhe, Private und Intime - kleine Momente, die es zu fassen gilt.

Sonntag, 7. August 2005
Reine Autobiographien werden geschrieben: entweder von Nervenkranken,
die immer an ihr Ich gebannt sind, wohin Rousseau mitgehört;
oder von einer derben künstlerischen oder abenteuerlichen Eigenliebe,
wie die des Benvenuto Cellini; oder von gebornen Geschichtsschreibern,
die sich selbst nur Stoff historischer Kunst sind;
oder von Frauen, die auch mit der Nachwelt kokettieren;
oder von sorglichen Gemütern, die vor ihrem Tode
noch das kleinste Stäubchen in Ordnung bringen
möchten, und sich selbst nicht ohne Erläuterungen
aus der Welt gehen lassen können. (Schlegel, 1798.)
Was schreiben wir? Selbstentäußerung. Was suchen wir? Vergebung. Wen finden wir? Komplizen. Der Leser, nie besser oder schlechter als wir, sammelt die Fragmente: "Es steht bei ihm, diese Teile zu sammeln und das Wesen zu bestimmen, das aus ihnen besteht; das Ergebnis soll ein Werk sein; und wenn er sich irrt, so ist der Fehler seine Sache". (Foucault, Schriften zur Literatur, 1988.)
Gestaltete Wirklichkeit, Erdachtes, Erlogenes, heimlich Wahres. Wird Robert Smith eigentlich jeden Abend daheim gefragt: "Was hast du denn Schlimmes erlebt, sag. Du hast heut auf der Bühne so traurig geklungen"? Ich denke, nicht. Ich hoffe es, denn sonst wird Herr Smith wohl mit den Augen rollen und sagen, Schatz (oder was immer er zu Hause so sagt), Schatz, mach dir keine Gedanken, es war nur ein Lied.
Ein Lied, das von irgendwoher kam und keine Quelle mehr kennt und keine Wirklichkeit, sobald es gesungen ist. Nur die Wirklichkeit, den Ort des Vortrags und die Quelle, die Deutung, die andere ihm beimessen.
"In gewisser Weise handelt es sich um eine écriture, in der dem Autor die Aufgabe zufällt, einen vollständigen und wahrhaftigen Bericht seiner seelischen Zustände zu geben, und dem Leser, aus diesem Material das soi zu bestimmen. Diese Figur einer gleichsam arbeitsteilig hergestellten écriture de soi erinnert an die Geschichten, aus denen [...] Mediziner und Psychiater beginnen "Fälle" zu rekonstruieren. Der Patient gesteht, der Arzt diagnostiziert.
(Sabine Maasen, Genealogie der Unmoral, 1998.)
Man schreibt, erzählt, wählt aus, schleift, läßt aus und setzt hinzu. Kurz, man gestaltet. Der eine bewußter, der andere weniger so. Man spinnt fort, strickt einen Faden, läßt ihn fallen, nimmt ihn auf, zerrt ihn hinter sich her durch ein Labyrinth, dessen Ende oder Ausgang niemand kennt. Reden, schreiben, singen: Alles sagen oder alles Sagen?
Und wer dann doch den Ausgang findet? Gejagt vielleicht vom Minotaurus oder gelenkt von der eigenen Rettungsleine, dem Rückholfädchen der furchtlosen Helden? Sie können Ihren Computer jetzt ausschalten.
Dieser Ausgang ist nur der Eingang zu einem anderen Labyrinth.

Samstag, 6. August 2005
Water, water, everywhere,
but not a drop to drink.
(Samuel Taylor Coleridge,
"The Rime of the Ancient Mariner". 1797.)
Nie brechen nur einzelne Dinge auf einmal. Wenn etwas zerbricht, dann ahnen auch die anderen Dinge ihre Gelegenheit. Ich habe in solchen Situationen - wenn alles zerbricht (und die abgemeldeten 80 GB an Daten auf meinem Rechner gehören zu den geringfügigeren Sorgen derzeit) - immer mit Wasser zu tun. Rohrbrüche, defekte Duschen, Klempner, die unvermutet den Haupthahn absperren - das ist das Schreiben, mit dem das Schicksal mir "Hallo" sagen will.
Diesmal kommt es von oben. Letzte Woche entdeckte ich einen Wasserfleck an meiner Decke. Eine kurze Inspektion des Speichers bestätigte meinen Anfangsverdacht: Sturm und Sturzregen hatte einen neuen Ausguck geschaffen und eine Dachpfanne entfernt. Die wurde auch am nächsten Tag ersetzt. Heute aber, eine gute Woche später, hatten mehrere Hektoliter ein guter Eimer voll Wasser sein Weg durch die offenbar völlig durchnäßten Bahnen Steinwolle, die Plastikversiegelung und die Zwischendecke gefunden. Ein munteres Tropfen begrüßte mich folglich bei der Heimkehr.
Mittlerweile habe ich oben ca. zwei Quadratmeter pitschnasse Steinwolle entfernt, die Plastikhaut aufgerissen und einen weiteren guten Putzeimer voll Wasser darunter aufgewischt. Von unten stieß ich beherzt mit einem Schraubendreher in der Mitte eines weiteren Wasserflecks durch die Rigipsdecke - nur um "O'zapft is" zu rufen und einen munteren Strahl Wasser in einer Schüssel aufzufangen.
Zum Glück sind weder Bücher, Kleidung oder Foto-Equipment zu Schaden gekommen. Bislang. (Klopf auf feuchtes Holz.) Ich werde auch nur ein paar Gramm Mikrofasern eingeatmet haben, was mir mit einiger Wahrscheinlichkeit das Nachdenken über die Rentenfrage ersparen wird.
Ansonsten sind das Dinge, die halt passieren und eigentlich keinen Blogeintrag wert. Auch nicht am Ende einer eher bescheidenen Woche. Hier wird eben auch nur mit Wasser gekocht.

Freitag, 5. August 2005
Ach, die Zeit, die Zeit, wo ist sie geblieben. Derzeit heißt das Motto, ihr macht am Brunnen so lange Überstunden, bis ihr brecht.
Dann schleiche ich heim, esse Schokolade und schaue, ob es Neues gibt beim Mindspine Network. Schöne Dinge oder schräge oder gar bizarre. Irgendein Augentrost für leergesaugte Seelen. Zum Beispiel die Fotografien von Keith Carter.
Und dann ein Hoffen, ein Hoffen auf das Wochenende.

"Und wie er, EJ, immer sagte, man müsse gerade jene Menschen die einen ins Herz geschlossen haben immer wieder verletzen indem man sich zurückzieht um an der eigenen Arbeit bleiben zu können, also ihre Briefe unbeantwortet lassen, ihrer Bitte um eine Begegnung nicht nachkommen, und einen Zipfel herausziehen ganz fremd, herausziehen und sein Eigenes daraus machen, nämlich Spielart Spektakel des Veilchens, sage ich zu EJ"
(Friederike Mayröcker, Lebensgefährtin von Ernst Jandl, der am 1. August 80 Jahre alt geworden wäre. FAZ, 1.8.2005)

Dienstag, 2. August 2005
"Wir haben nur unseren Job getan. Das werden Sie wohl nicht verstehen."
Nein, verstehen kann man es nicht. Aber das ist sechzig Jahre später natürlich leicht gesagt. Sechzig Jahre später noch den Geist von damals zu verströmen, ist mir hingegen wirklich völlig unverständlich:
Click here for a unique hot sauce offer in collectible decanter.
(Link von der Webseite von Brigade General Paul Warfield Tibbets, Jr., dem Piloten der Enola Gay.)


Nach Mitternacht legte sie ab. Während Sirenen heulten und am Nachthimmel Sterne explodierten. Ab und an darf man so etwas mal mitmachen.

Montag, 1. August 2005

Da ich selber nichts erlebe, träume ich mich manchmal für die ein oder andere fröhliche Minute in die Erlebnisse anderer Menschen hinein. Für das Gefühl der Teilhabe bin ich sehr dankbar.

Samstag, 30. Juli 2005
Sie sagt, dies ist eine Welt
voller Monster und böser Träume.
Und wenn die Sonne scheint,
glaubt sie, sie will sie nur blenden.
Seltsam, wie sie Tragödien anzieht...
(Die Braut haut ins Auge, "Ist sie ein Magnet?")

Als "Jahr der Orgien" geplant, habe ich wohl eher das "Jahr der Überstunden" erwischt. In der Fabrik sind nämlich seit einiger Zeit die Zwerge los. Vor ein paar Wochen wurde ein "Geheimprojekt" ausgeheckt und zum Vertikutieren und Durcheggen vor meine Abteilungstür gelegt, ehe sich die Führungsriege in den Surf-Urlaub zum Nachdenken verabschiedete. Seither komme ich kurz vor Mitternacht nach Hause und falle am Wochenende besinnungslos in die Ecke. Als gelernter Konsument würde ich mir nun von dem hart zusammengerechten Geld gern "was gönnen", um mit dem aus dem Einkaufserlebnis gewonnenen Wohlgefühl über den Sonntag zu kommen.
Freitag kam die zwar erwartete aber dennnoch saftige Steuernachforderung. Als ich heute die Überweisung ans Finanzamt ausfüllte, bemerkte ich jedoch, daß nicht jede Geldausgabe zu Wohlgefühl führt. Also bin ich in die Stadt. Weil ich immer noch ein 3210 als Mobiltelefon benutze und somit hoffnungslos hinter der Gadget-Avantgarde hinterherhinke, interssiere ich mich seit einiger Zeit für solcherart Geräte. In der Abteilung Frei & Vertragslos liebäugelte ich mit einem reduzierten, mattschwarzem Einzelstück modernerer Prägung, aber dann legte ich es kurz zum Überdenken zurück (Brigade Zögern & Zaudern) - und somit findet es sich nun in der Jackentasche irgendeines bösen schnell entschlossenen Menschen.
Geld hatte ich damit immer noch nicht ausgegeben, den Lottoschein ("Da haben Sie aber eine Zahl zuviel angekreuzt!" "O, Schummeln gilt nicht?") zähle ich nicht mit. Herr Kid braucht auch dringend einen neuen Computer, denn der Rechner hier ist sogar noch älter als ein 3210. Aber das ist nun wirklich keine Sache des Mal-eben-so, sondern eine Wissenschaft und muß in den nächsten Monaten Wochen Tagen gewissenhaft angegangen werden.
Wie ich also unschlüssig am Bahnhof rumstehe und auf meinen Pusher warte und überlege, welche Vergnügen so ein Wochenende sonst noch bringen könnte, kommt mir Udo Kier entgegen. Ich will schon rufen, Mensch Udo! aber da ist er bereits an mir vorbei und im Pissoir verschwunden. Und während ich noch denke, diese Schauspieler sind alle so klein, rauscht er auch schon wieder heraus und ist, ehe ich um Foto oder Autogramm bitten kann, mit seiner grünen Tüte im Gewühl verschwunden. Danke, das war Udo Kier! Rufen Sie mich bitte nicht mehr auf dem Handy an; Udo Kier has already left the building!
Daheim, und nun zu etwas nur scheinbar völlig anderem, lese ich dann einen interessanten Aufsatz in der Lettre International über Georges Bataille. Und höchstwahrscheinlich in einem entfesselnden Akt des Abschüttelns des ganzen Irrsinns und Vergeblichen und mit einer gewissen - ganz und gar nicht klandestinen - Gehässigkeit, die jetzt niemand verstehen muß, die ich aber freimütig einräume, weil sie auf einer alten persönlichen Geschichte beruht (oder meinetwegen ganz profan auf dem mir vor der Nase weggekauften Mobiltelefon) - mache ich also einmal, und zwar mit richtig befreiender, dreckiger Stimme, Muahahahaha:
Colette vergleicht Georges in seiner Praxis der Ausschweifung mit dem Spießer per se, Donald Duck oder dem "Milchhändler an der Ekke", der lieber stürbe, als nicht den Schein zu wahren. Die klandestine Lasterhaftigkeit, nicht Georges’ gewohnheitsmäßige Bordellbesuche als solche, empört sie, zumal sie weiß, wie heftig er gewisse Sade-Verehrer angreift, deren Leben in nichts mit dem Denken des Marquis korrespondiert.
Ist es nicht traurig? Überall nur Scheinheiligkeit! Liebe Damen, es ist Männerschlußverkauf, heute gibt es Nachlaß. Nur Udo Kier, der ist schon weg.
Ich trinke jetzt einen französischen Rotwein, Chateau du Charenton, der befreit, und plane meinen Urlaub. Auch eine Geldausgabe.

Ha, gute Nachricht. Schon vom Juni, aber nun auch bis hier durchgesickert. Die offizielle
Kid's Bride Corpse Bride-Seite im Netz ist ein wenig ausgeweitet worden mit neuen Fotos und Informationen.
via The Tim Burton Collective
