
Samstag, 19. März 2005
At night it gets cold and
You'd dearly like to turn away
The escape that fills
that makes you want to turn on heel
Alone, alone, alone, alone
(New Order,
"Procession")
Heute in der Therapiegruppe sollten wir was malen und frei assoziierte Begriffe dazuschreiben. Ich schrieb "Schlüsselkind", "Holzleiter", Gasmaske" und "Strumpfhalter". Ehrlich gesagt, schrieb ich das nur, um die fette Carola aus meiner Gruppe zu ärgern, die neulich erzählt hatte, wie sie sich mal ihre Strumpfhalter zerrissen hatte, weil sie an einer Holzleiter hängengeblieben war. Ich habe die Geschichte nicht geglaubt, aber Regel Nummer eins lautet "Erzählen - nicht Interpretieren". Dafür ist ja die Therapeutin da, die sich die ganze Zeit über Notizen macht und dann ein paar Fragen stellt.
Ich würde gerne was mit Tina anfangen. Die berichtet ab und an von ihren Albträumen, die ich irgendwie sexy finde, aber Regel Nummer zwei lautet "Don't fuck the Patientenkreis". Ich habe trotzdem vor ein paar Tagen Bernd nach ihrer Nummer gefragt, weil ich weiß, daß er sie hat. Bernd ist Tinas Exfreund und besucht dieselbe Gruppe, weil sie beide das gleiche Problem haben. Einander. Einmal war ich mit Bernd ein Bier trinken und habe ihn über Tina ausgefragt. In seinen Augen lag Hoffnung, in meinen bloß Gier.
Seither weiß ich, daß Tina nie Unterwäsche trägt, und Carola weiß das auch. Deshalb versuchte sie, sich mit dieser Strumpfhaltergeschichte wichtig zu machen. Ständig will sie alle übertrumpfen. Natürlich hat sie von uns allen die schwerste Kindheit gehabt. Einmal lachte ich ihr ins Gesicht, seither ist unsere Beziehung ein wenig gespannt. Heute fing sie an zu heulen, als ich meine Schlüsselwörter vorlas. Sie beschwerte sich, ich wolle mich über sie lustig machen, dabei ahnte sie gar nicht, daß sie recht hatte. Sonst hätte sie das erste Mal im Leben wirklich geheult.
Patrick drohte heute damit, die Gruppe zu verlassen. Das macht er ungefähr alle zwei, drei Wochen, obwohl er für sein pathetisches Gehabe nur Häme von Tina und Carola erntet. Ich glaube, Bernd hat Tina nie richtig rangenommen, dabei ist sie geil bis unter die Haarspitzen. Leider findet Tina meine Probleme langweilig, weshalb ich die gerne ein wenig aufbausche. Tina ritzt sich immer die Unterarme und hat dadurch alle Aufmerksamkeit für sich. Nur Bernd schaut dann beleidigt aus dem Fenster. Carola erschien in der nächsten Stunde mit einem verbrühten Bein, was sie stolz herumzeigte und dabei ihren Rock ein wenig zu weit hochzog. Ich sagte trocken, man könne auch verbrühte Beine rasieren - schon allein, weil ich mal gelesen hatte, daß zynische Männer auf manche Frauen anziehend wirken. Aber nur Tina kicherte anerkennend. Carola fing an zu weinen, und die Therapeutin schalt mich vor allen Leuten.
Neulich ging es um Wünsche. Ich sagte, ich würde gerne mal einen Kuchen mitbringen. Das fanden alle toll. Ich sagte, ich würde aber Rasierklingen darin einbacken. Daraufhin mußte ich den Raum verlassen. Die Therapeutin meinte nachher, meine sozialen Kompetenzen seien "fragwürdig". Ich sagte, das sei doch egal, ich ginge doch eh immer allein nach Hause. Sie wurde etwas lauter. Fragen wie, was eigentlich mit mir los sei, was ich mir einbildete usw. schallten durch den Flur.
Ich war etwas betroffen, obwohl ich weiß, daß die Therapeutin große Stücke auf mich hält. Oder vielleicht gerade deshalb. Dann mußte ich in die Tanzgruppe zur Körperarbeit. Das ist ein bißchen dämlich, wir müssen da zu Musik Szenen wie "Speck in der Pfanne" oder "Die Geburt" mimisch nachstellen.
Die Tanztherapeutin ist Tantrikerin und hat schon mit jedem und mit jeder aus der Gruppe was gehabt, außer mit mir. (Einmal wollte sie sich an einem Sonntag mit mir verabreden, ich sagte ihr aber, ich sei Katholik und müsse am Sonntag den ganzen Tag in die Kirche. Sie ist nicht getauft und glaubte mir jedes Wort.)
Am liebsten bin ich in der Tränengruppe. Das heißt "Affektive Emotionskonvulsionstherapie" und ist so gruppendynamisches Heul-Psychodrama. Man sitzt dabei im Kreis, hält sich die Hand und jeder versucht, eine möglichst traurige Geschichte zu erzählen. Ich gewinne jedes Mal.

"Ich wiederhole, ich hatte nicht sonderlich darauf geachtet, was ich sagte. Vielleicht hatte ich sogar unbewußt gesprochen, aus unerklärlicher Lust und weil mein Gefühl mich dazu trieb. Aber Freunde sind ja Freunde nicht umsonst! Ich hatte kaum geendet, da verrissen sie mich um die Wette. Ich sei ein Poseur, ein verkommenes und beschämendes Subjekt, wirklich eine traurige Gestalt u.a.m."
(Paul Léautaud. Der kleine Freund, oder: Leichtfertige Erinnerungen. 1903.)

Donnerstag, 17. März 2005
Nach einem langen und regnerischen Tag in der Praxis kehre ich oft erschöpft heim, wickle meinen Ringelschal an den Haken der Garderobe, mich selbst aber nicht dazu, sondern vor den Monitor und entspanne mich im cyrealen Down under, einer Heimstätte für die Gestrandeten, Verwirrten und all jenen Nachtgestalten, die doch auch nur Spielen wollen.
Dann klopfe ich mir den Rost vom Herzen und schaue, was andere bereits in dunkleren Schubladen gesammelt haben.

Donnerstag, 17. März 2005
Als altgedienter Flohmarkt-Aficionado besteht die größte hormonausschüttende Freude im Entdecken kleiner Schätze, ungewöhnlicher Requisiten, Trophäen und Trouvaillen für die hauseigene Wunderkammer und Erinnerungsstücke der verlorengegangenen Jugend. Bei Mai las ich neulich über den kleinen Mirakel- kasten verschollener Kindertage - den View-Master. Auf kleinen Scheiben befinden sich stereoskopische Bildpaare, die einen dreidimensionalen Eindruck von weiter Landschaft, aktionsreichen Filmszenen und hormon- beschleunigendem Gemüse verschaffen.
Als Kind besaß ich nie einen Viewmaster, denn selbstverständlich waren wir bitteram, wie sich das gehört. Aber seit einigen Jahren besitze ich ein Model C aus den 40er Jahren. Der schnieke, "retro"-rufende Bakelitkasten kommt meinem Kindheitsempfinden sehr nahe und verspricht schon beim vorsichtigen Betasten den Zauber einer Zeit, in der alles besser war, selbst die Zukunft.
Vier oder fünf Mark habe ich dafür bezahlt, ein Witz, nach menschlichen Maßstäben. Mittlerweile habe ich einen hübschen Stapel Scheiben zusammengesucht, viel Reisenthemen und Landschaften, aber auch Märchen, die Munsters, olle Western und Zeichentrickabenteuer. Leider aber besitze ich nichts aus dieser großartigen Pinup-Serie. Das wäre ein weiterer Traum.

Suzie 9mm. Sie hätte es auch in einem Blog erzählen können. Sie macht aber lieber Bilder für die Nacht.

Dienstag, 15. März 2005
Interessantes englischsprachiges Blog über Fotografie und Art-verwandtes.
Something to watch.

And still out there through the window
At six in the morning. The essence survives.
Berlin...Berlin...
(Fischer Z., "Berlin")
Die Versprechen unserer Jugend versinken nach und nach im Geruch eingemotteter Träume.
Heute koch' ich,
morgen kauf' ich einen Bauwagen.
Übermorgen mach' ich Sophie Rois ein Kind.

Sonntag, 13. März 2005
Aus dem Schmodder recken sich die Lebensgeister. Das mag man jetzt symbolisch sehen, kindlich faszinierend ist es immer wieder.
Gesprächsfetzen und Erinnerungsreste geistern durch meinen Kopf. Ein unheimlicher Wandschrank, wie in einer Geschichte von Edward Gorey.
"Jedenfalls liegt das maßgebliche Konzept dieser thematischen Konzeption in der Erinnerung an eine bedeutende Zäsur, die der Frau nicht nur einen Platz in der Kunst, sondern auch in der Kneipe erkämpft hat", schreibt Till Briegler in der SZ (25.1.2005).
Endlich mal eine vitalistische Betrachtung, die ich unterschreiben kann. Gerade singen die Les Hurlements d'Léo vom wogenden Leben zwischen Tischen und Tresen. Vielleicht heißt es auch "unter den Tischen" und "hinter dem Tresen" - so gut ist mein Französisch nicht.
Extreme Menschen können auch extrem faszinierend sein, geisterte es in den letzten Tagen auch ab und an durch Gespräche. Das macht sie so extrem gefährlich. Vor Tagen fürchtete ich, ich müsse das Telefon erschießen.
"Doch wenn man schreit/und ist nervös gleich/dann werd ich bös' gleich/und bleibe still", heißt es in dem Schlager von 1919 ("Hallo, du süße Klingelfee").
"Wenn ich dich scheiden seh/das macht mir heut schon Kummer/ich kriege keine Nummer/beim Selberwählen jetzt/ist doch immer besetzt."
Wann wird es den ersten Schlager über Blogger geben?
Selberwählen. Ganz genau. Oder nur Bilder schauen, nicht reden. Pflanzen beim Keimen zusehen. Immer mehr Pflanzen, gieriges Treiben, bis alles erstickt. Sein Leben in ein schwül-dekadentes Treibhaus verwandeln. Entropie. Dann wieder alles Geranke, alle Ornamente abschneiden, zerhacken, mit Energie durchblitzen wie ein zackiger Holzschnitt. Nur noch Schwarz und Weiß.

"Die Shimmywut hatte jetzt alle ergriffen. Gläser, Stühle, Kellner, Arme und Beine flogen durch den Saal. Ich sah noch, wie Emil der spanischen Sybille den Skalp herunterriß, während sie ihm mit Indianergeheul die Hutnadeln ins Gesäß bohrte, dieweil er krampfhaft bemüht war, aus dem Banjo, mit dem er umkränzt war, herauszukommen.
Dann mußte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Ansager widmen, der mich mit seinen andauernden "Knock out"-Gekreisch verrückt machte. Ich brachte ihn durch die gütige Vermittlung eines Stuhlbeins zum Schweigen."
(Harry Reuss-Löwenstein, "Shimmy". Klamauk: Grotesken und Burlesken. 1925.)

Samstag, 12. März 2005
Der Prozeß des Zeugens - so oder so, natürlich - ist ungleich befriedigender als dieses endlose Starren in einen Computermonitor. Das Tasten im Dunklel, geführt nur von einem schwachen, roten Licht. Das Warten auf die ersten Spuren im Bild, das im Entwickler liegt. Dann das Erkennen.
Immer noch ein alchimistischer Prozeß.

Die wirklich sehr zarten Erwähnungen von Kuchen in letzter Zeit erinnerten mich an eine alte Geschichte von Lyssa, die ja einst die sehr schöne Frau als stehende Wendung einführte (übrigens auch ein hübscher Spruch für ein T-Shirt). Dieselbe hat ja immer noch kein Blog - und das ist wohl für alle besser. Denn so schön wie meine sehr flüchtige Bekannte auch ist und so gut sie auch Kuchen backt - ein Blatt vor den Mund nehmen kann sie nicht.
Ihren Geschlechtsgenossinnen begegnet sie oft spottend, Männern aber auch. Man könnte sagen, daß sie generell dem Phänomen "Mitmensch" leicht ungeduldig gegenüber eingestellt ist. Erzähle ich ihr irgendetwas Possierliches über eine Frau, heißt es oft, "Hat die ihre Tage?". Berichte ich über meine Tage, heißt es, "Zick' nicht rum, sei ein Mann!" Beklage ich mich, weil in irgendeinem Blog stand, "kid37 ist ein Vollpfosten!" - zieht sie nur leicht einen Mundwinkel nach oben und bemerkt trocken: "Diese Blogger sind manchmal erstaunlich hellsichtig."
Dabei ist sie ein weitaus geselligerer Typ als ich. Solange man ihr nicht auf die Nerven fällt (mir kann man ja zu oft zu lange auf die Nerven fallen). Dann neigt sie ungefragt zu messerscharfen Analysen oder schlagfertigen Repliken, die kaum Raum für Interpretationen, wohl aber für fruchtlose Diskussionen lassen. Das Beste ist, man lacht einfach mit. Denn sie ist eine Frau und dazu noch furchtbar klug, also befindet man sich als Mann gleich doppelt im Unrecht.
Zum Glück hat die sehr schöne Frau auch ein paar negative Eigenschaften, sonst wäre es ja nicht auszuhalten. So hat sie einen grauenhaften Musikgeschmack und interessiert sich generell für "Kram". Außerdem kann sie von ungefähr allen 5.000 Kinofilmen, die sie je sah, die komplette Darstellerliste herunterbeten und anstrengungslos aus dem Kopf aus jedem Buch zitieren, das sie jemals las. Das ist zwar völlig nutzlos, nervt aber schlichter gestrickte Menschen wie mich ungemein.
Jedenfalls kenne ich die sehr schöne Frau schon sehr lange und muß sagen, sie hat mit mir manches Mal schweres Gepäck tragen müssen. Oder wollen. Wie auch immer. Trotz diesem oder jenem mußte ich aber feststellen, daß man sich nicht nur auf die Kuchen der sehr schönen Frau stets verlassen kann.
Und dafür möchte ich Danke sagen.

Freitag, 11. März 2005
Das ist nach meinem Geschmack. Japanese Psychiatric Art - Werbung für Medizinische Geräte von 1956 bis 2003.
(via Nase)

Haha, wie surreal. Habe gerade "Taste the new Snatch" gelesen. Dämliche internationale Claims.
Andererseits...
