
Montag, 7. Juni 2004
Merkwürdig. Mich träumte, Frau Sonne und ich säßen in meiner alten schwarzweißen Küche, hörten Musik, lesen ein paar alte französische Magazine und schraubten uns gegenseitig am Kopf rum.
Oder woanders.

The Only Bush I Trust Is My Own.


Die Hamburger Deichtorhallen zeigen als einzige Station in Deutschland die Retrospektive des englischen Fotografen Martin Parr. Der Magnum-Fotograf (und deren derzeitiger Präsident) Parr, Jahrgang 1952, beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit sozialdokumentarischer Fotografie. Seine penible Sicht, sein skuriller Humor, der es weitgehend vermeidet, seine Subjects (im Deutschen: "Objekte") bloßzustellen, zeichnen seine Bilder aus.
International bekannt wurde er mit seinen Serien "The Last Resort" und "Cost of Living", in denen er den Verfall der Mittelklasse während der Ära Thatcher z.B. anhand des Niedergangs des Seebads Brighton dokumentierte. Amüsant auch seine Videodokumentation über "Being English", in denen Bewohner der Insel patriotische Statements zum besten geben ("A new Rolls Royce? By gosh why, there'd be a BMW engine in it, wouldn't it?"). Sein Bildband "Boring Postcards" ist ein echter Bestseller. Sehr gefällig auch die Installationen durch Kurator Val Williams: Martin Parrs Diplomarbeit, ein "typisch" nordenglisches Wohnzimmer mit schäbigem Interieur und kitschigen Bilderrahmen und ein Lesezimmer, in dem die Vitrinen des Sammlers Martin Parrs zu besichtigen sind.
( Martin Parr. Die Retrospektive: Photographische Werke 1971 - 2001. Hamburger Deichtorhallen. Internationales Haus der Photographie. 06.05.2004 - 01.08.2004)

Nach dem gestrigen, moralisch eher zweifelhaften Abend, war heute dringend Ausgleich für das ethische Equilibrium geboten. Was lag da näher als die Nacht der Kirchen, die heute in Hamburg stattfand.
Die Wichernkirche in meiner Nachbarschaft bot bis 24 Uhr den längsten Büchertisch der Stadt (jedes Buch 50 Cents, das nenne ich mal vorbildlich. Neben Erzählungen von Pitigrilli und Ian McEwan und einem Bildband über das Bergische Land fand ich dort wohl auch die verlustig gegangenen Chandlers und Hammetts von Maz).
Heute konnte man auch gratis Hamburgs einziges Bunkermuseum auf dem Pfarrgelände besichtigen. Dieser Luftschutzbunker für 200 Menschen zeigt bedrückende Fotos, Fundstücke und Dokumente aus den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges. Hier im Stadtteil Hamm wurde während der sogenannten "Operation Gomorrha" fast 96 Prozent der bebauten Fläche zerstört. 20.000 Menschen fanden allein in einer Nacht den Tod. Noch im September 1943 wurden zahlreiche Leichen in den Trümmern gefunden.

In ergreifenden Tondokumenten erinnern sich Zeitzeugen an die brutalen, beengten und angsterfüllten Nächte in den Bunkern; grotesk verformte Fundstücke aus Beton, Glas, Keramik und Metall geben Zeugnis über die extremen Hitzegrade, die während des Feuersturms in den Straßen geherrscht haben.
(Öffnungzeiten: Donnerstag von 10 - 12 Uhr und 15 - 18 Uhr. Info Stadtteilarchiv Hamm, Tel. 040-2513927)

Samstag, 5. Juni 2004

Yo! Wie nur wenige wissen, sind AxelK und ich ja die Semi-hardest working men in Show business. Und so waren wir heute im Komet zum "Rock & Wrestling"!
Erstmal nur als Zuschauer, während Nik Neandertal und Klöten-Klaus, Baster und Heidi H**ler, Hackfleisch-Hase und Batter Betty voll motiviert und extrem enthemmt gegeneinander in den Ring stiegen. Die ganze Show fand auf dem schmierigen Hinterhof vom Komet mitten auf dem Kiez statt. Kulisse: Exaltierte Schaugierige galore, strömender Gerstensaft, billige Quarzstengel... die ganze Chose eben.

Großartige Animation, Slam Dunks, Double Body Checker, Head Crusher, Spine Breaker, Klöten Kraller, das volle Programm. Ausführlicher Bericht vielleicht, wenn ich wieder geradeausgucken kann. Die gute Nachricht: Die Memmen bekamen gehörig eins auf den Sack, die "Nazisau" Heidi H. ordentlich auf die Fresse (wie es sich gehört und unter dem Gejohle der Menge), der smarte Sailor kam nach viel Gedresche zurück und ging siegreich vor Anker, Hackfleisch-Hase war vorgeblich dermaßen gen-manipuliert, daß er nicht als falscher Hase im Topf landete.
Rübe ab, rief das Publikum.
Großartiges Programm, full Mexican Punk Rock Wrestle Mania!. Irgendwelche Nörgler riefen was von "Schiebung" und "alles abgekartet" - aber solche negativ eingestellten unsportlichen Kameraden beachtet man am besten gar nicht weiter. Ich überlege sogar, ob ich nicht als Manager mit auf Tour gehe. Wenn nicht als Aktiver!
Morgen geht es in die zweite Runde. Mit Captain Penis, Lobo del Rio und dem Bengalischen Tiger und vielen, vielen weiteren großartigen, alles-gebenden, sich selbst zerfetzenden Wrestlern mehr!!! (drei Ausrufezeichen!)
Jetzt ausschlafen und Stimmbänder wiederfinden.

Freitag, 4. Juni 2004
Sie blickte durch ihr Guckloch auf das graue Laub der grauen Bäume hinaus und dachte an Soledad Ordóñez, die unscheinbare, bucklige alte Frau aus dem barrio San Miguel, die zweiundzwanzig Jahre lang nicht mit ihrem Mann redete, weil er auf dem Markt von San Andrés ihr Schwein verkauft und sich von dem Erlös eine Woche lang betrunken hatte. Als er auf dem Sterbebett lag, umringt vom Priester, ihren drei Söhnen und vier Töchtern, allen siebzehn Enkelkindern und seinem Bruder, krächzte er mit viel Mühe die Worte heraus: "Soledad, sprich mit mir!" Ihr Gesicht war steinern, der Priester und der Bruder und alle Kinder und Enkel hielten den Atem an, und dann sagt sie ein einziges Wort: "Suffkopf", und er starb.
(T. C. Boyle, América, 1995.)
Ein schönes, deprimierendes Buch, das nicht ohne Hoffnung ist. Es zeigt, wie alle zaghaft keimende Hoffnung durch irrwitzige, unwahrscheinliche aber immer glaubhafte und dann fast doch vorhersehbare Weise immer wieder aufs Neue zerstört wird. Mit anderen Worten: Ein äußerst lebensnahes Buch, das unter anderem zeigt, wie ein liberaler Mittelklasse-US-Amerikaner zum wütenden Rassisten oder rassistischem Wüterich wird.
Warum? Weil der Mexikaner Cándido (sprechender Name) heimlich mit seiner schwangeren Braut América (sprechender Name) die Grenze zu den USA überwindet, um als Illegaler Arbeit und die Aussicht auf ein kleines bißchen Wohlstand zu finden. Und wie die beiden, wie weiland ein Paar namens Joseph und Maria, als Aussätzige und Unerwünschte in einem fremden Land leben müssen. Und wie alles immer nur schief läuft, fast 400 Seiten lang.
Bis am Ende buchstäblich alles verschlungen ist.

Mittwoch, 2. Juni 2004

Zum 15. Mal findet dieses Jahr das internationale Filmfestival Emden - Aurich - Norderney vom 2. bis 9. Juni statt. Das kleine, aber sehr feine Festival hat sich im Laufe der Jahre ein beachtliches Renommée erarbeitet und glänzt mit seinen Spezialreihen aus dem Bereich des jungen deutschen und britischen Kinos. Da ich der Festivalleitung auf nachgerade erstaunliche Weise privat verbunden bin, darf ich hier gerne einen Hinweis machen.
Über 180 Veranstaltungen stehen dieses Jahr auf dem Programm. Darunter ein Stanley-Kubrick-Special und ein Porträt über Maria Schrader mit sechs Filmen. Zu sehen sind unter vielen anderen Ken Loachs neuer Film "AE Fond Kiss" (GB 2003), Stephen Frys "Bright Young Things" (GB 2003), Hermine Huntgeburths "Der Boxer und die Friseuse" (D 2004), der Gewinner des diesjährigen Max-Ophüls-Preises, Marcus Mittermeiers Film "Muxmäuschenstill" (D 2004), und Richard Linklaters Fortsetzung zu "Before Sunrise" (USA 1994) "Before Sunset" (USA 2003) mit Ethan Hawke und July Delpy.
Ein hochinteressantes Kurzfilmprogramm weckt weiteren cineastischen Hunger. Im Rahmen des Festivals wird der Bernhard-Wicki-Preis 2004 verliehen.

Dienstag, 1. Juni 2004
Spiegel: Der Existenzialismus war auch eine Revolte, eine Suche nach absoluter Freiheit. Ist er darin nicht gescheitert?
Gréco: Wir machen Rückschritte. Die Jugend von heute durchlebt eine eigenartige Desillusionierung. Sie schwankt zwischen kindlicher Romantik und unerbittlicher Härte hin und her. Ihre Freiheit ist in Wahrheit oft nur Permissivität, die wiederum der Gleichgültigkeit entspringt. Es ist keine existenzielle Freiheit.
(Juliette Gréco im Spiegel Interview, 2003/04. Quelle leider verbummelt.)

Montag, 31. Mai 2004
Ok, Donnie ist wirklich verrückt. Mit Beginn des Films ist Donnies Krankheit gegeben. Ihre Ursachen bleiben im diffusen Hintergrund. Donnie wird medikamentiert, befindet sich in Therapie. Seine Therapeutin ist - nicht untypisch - leicht überfordert. Aber auch nicht völlig inkompetent. Am Ende ahnt sie immerhin die Gefahr.
Ok, Donnie imaginiert einen unsichtbaren Freund. Der ist ein Hase, heißt nicht Harvey, sondern Frank. Der verrät Donnie, daß die Welt in 28 Tagen untergehen wird, pünktlich zu Halloween. Zeit also, noch ein paar Dinge zu erledigen. Bösewichte zum Beispiel.
Ok, „Donnie Darko“, der Film, ist ebenfalls verrückt. Eine verschobene, verschrobene Geschichte, die harmlos beginnt wie David Lynchs „Blue Velvet“. Das Grauen lebt im sonnendurchfluteten Suburbia. Die Sonne scheint, und Echo and the Bunnymen singen „The Killing Moon“. Es ist 1988 in Middlesex, Virginia. (Memo: Synchronizität? Middlesex? Virgin Suicides?) Damit haben wir einen netten kleinen Coming-of-age-Film, dessen Protagonist daran scheitert, seine Initiationsreise ins Erwachsenwerden zu bestehen. Kommt vor.
„Dabei wirkt „Mad World“ wie eine musikalische Madeleine, die Bilder aus der eigenen Jugend hervorruft“, schreibt Harald Staun* in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. (Und in welchem blog habe ich vor ein paar Tagen etwas über „musikalische Madeleines“ gelesen? Alles Proust-Leser hier? Synchronizitäten?) Der Song, der nie auf meiner persönlichen Liste stand, gehört tatsächlich untrennbar dazu. Dennoch ist „Donnie Darko“ kein nostalgisches Drama, kein „Quadrophenia“ für die 80er.
Der Film könnte jederzeit spielen und dann wieder nicht. „Donnie Darko“ ist ein Echo auf die 80er Jahre, weil er das aufgreift, was damals, vielleicht erstmals, das „Lebensgefühl“ hieß. Donnie Krankheit ist die Krankheit der 80er. Das schizophrene Jahrzehnt. Zerrissen, kaputt, immer einen Schritt am Weltuntergang. Die Rede ist natürlich nicht von der unsäglichen, sogenannten „Generation Golf“, sondern der (geburtenstarken) Jahrgänge davor, der „No-Future“-Generation. Jugend und Todestrieb, nur ein scheinbarer Widerspruch in diesem zerrissenen, widersprüchlichen Jahrzehnt. Die Symbole waren das Dreieck, das ZickZack-Muster, die diagonale, zerschneidende Neonröhre. Die etablierte Welt blieb skeptisch – und produzierte ungehemmt noch größere Schizophrenien.
Nato-Doppelbeschluß. Aufrüsten um abzurüsten. Hat man etwas Gespalteneres je gehört? Doppelzüngiges Neusprech wie in Orwells „1984“. Ähnliches Dichotomien durchzogen andere gesellschaftliche Diskurse und Reizthemen wie die Atomkraft (selbst ein Spaltungsprodukt) und Anti-Atomkraft-Bewegung. Harte Bruchkanten, Kalte-Kriegs-Szenarien, Nein-danke-Antwort im Standardrepertoire. Zum Abitur gab uns unser Schuldirektor mit auf den Weg: „Euch braucht man nicht. Ihr seid zuviele.“ Bitte, Danke, Wiedersehen.
Geistig-moralische Wende, und die „Rente war sicher“. Das Jahrzehnt der zynischen Lüge. Das Jahrzehnt des Zusammenbruchs, wenn man den Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung als Endmarke akzeptiert.
Allgemeiner Sinnverlust, also. Thatcher, Reagan und Kohl: Abbruchbirnen. Ich gegen das System. Die Illuminaten schlagen zurück. Die Zeit der Verschwörungstheorien. Der Synchronizitäten. Robert Anton Wilson. Karl Koch, Hackerkönig. „23“ hat mit Donnie Darko einiges gemeinsam, aus dieser Warte betrachtet.
Fickt das System, hieß, penetriert, infiltriert die Herrschafts- und Lügenstrukturen. Träume oder Datennetze. Steuert oder laßt euch steuern. Alles ist Manipulation, ist Traum. Ein „Tanz der Teufel“, so die Anspielung in „Donnie Darko“. „Und im Gegensatz zu einigen Blumenkindern vor ihnen sind die damals gerne als „Null-Bock-Generation“ bezeichneten Zeitgenossen nicht auf dem Kindlichkeitstrip hängengeblieben, sondern irgendwo am Wegesrand, wundervoll schlecht gelaunt und chronisch zynisch. [...] Im Umgang mit trostlosen Zeiten sind sie geübt: da fängt man wegen einer kleinen Wirtschaftskrise nicht gleich das Jammern an“ (Harald Staun).
Das Problem der Politik mit unserer Generation: Wir haben den Weltuntergang überlebt. Lasst ruhig Turbinen auf unser Haus fallen.
"...and I don't care." (Pistols).
"A nuclear error, and I have no fear." (Clash)
"Vielleicht solltest du dich mal fragen, warum Frauen keine Kinder mit dir haben wollen."
Das ist nicht die Frage. Das ist die Antwort.
Der Film ist Zitatkino. „Donnie und wie er der Welt sah“ (das abstürzende Flugzeug eine Reminiszenz an „Garp“), „Mein Freund Harvey“, der eingeübte Kanon an Horrorklassikern, die David-Lynchianische Entblößung, Abschälung der sauber lackierten Oberfläche bürgerlicher Vorstadtexistenz. Wann konnte man sagen, einen Film gesehen zu haben, in dem Patrick Swayze eine gute Figur macht? Abgesehen von "Waking Up In Reno"?
Noch was?
Ja, Hasen sind wirklich böse. Träume manchmal auch. „And I find it kind of funny. I find it kind of sad. The dreams in which I'm dying are the best I've ever had.“ (Tears for Fears, „Mad World“)
(USA 2001, Regie: Richard Kelly)
(* Harald Staun, „Wer will schon erwachsen werden?“ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.1.2004. Dem Autor möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich für seine angebotene Hilfe für das Finden der Zitate danken. Aber ich habe meinen Zettelkasten aufgeräumt und den Artikel doch noch gefunden.)
PS: Für die Quizfans: "Which Donnie Darko Character Are You?"

Sonntag, 30. Mai 2004
Ich habe heute meinen Wagen beim Hamburger Restaurant geparkt.
