Freitag, 12. August 2005


Absinthe-minded

Apropos grüne Fee und Gedankenschwere: Ein Tag in meinem Kopf. Schönes Schwarz und Weiß im groben Korn. Sehnsucht und Begehren, Melancholie und der Staub vergangener Tage.


 



Der Pesthauch des Todes

O Rose, thou art sick!
(William Blake, "The Sick Rose". 1794.)

Zwischen Nacht und Bangen entwickeln sich ja oft die luzideren Momente im Leben. So muß ich wohl neulich im Nachtbus, als ich in den barocken Versen von Martin Opitz las, einen wahrhaft prophetischen Moment erwischt haben, ohne daß ich es ahnte.

Heute morgen fragte ich mich beim Blick in den Spiegel, warum um alles in der Welt ich mir einen Tischtennisball in die Backentasche gestopft hatte. Call me Mumpsgesicht!, dachte ich, fand aber zugleich in dieser Elefantenmenschvisage den Beweis, daß die heftigen Zahnschmerzen, die mich die halbe Nacht wachgehalten hatten, keinem absinthgetränkten Delirium entstammten.

Kurz vor dem Wochenende habe ich solche Dinge ungerner im Haus als sonst schon und so fand ich mich kurz darauf nicht beim Zahnarzt meines Vertrauens, aber seiner Urlaubsvertretung wieder. Ich berichtete ihm vom Brodeln unter der Goldkrone auf 4-6, er wackelte pessimistisch mit dem Kopf und führte mich dann in sein kleines Fotostudio. Das schien mir so Küche, Lager und Röntgenraum in einem zu sein, er selbst ging auch nicht etwa hinter eine Schutztür, sondern trat nur drei Schritt zurück, um einen Schalter im Nachbarraum zu betätigen. Dann durfte ich ihm die Rolle Alufolie zurückgeben, mit der ich zuvor wesentlichere Teile meines Körpers bedeckt gehalten hatte.

Als das Röntgenbild fertig war, verstärkte sich sein pessimistisches Kopfwackeln, und er murmelte was "Wurzelspitzen", erweichten Knochen und "damit wären Sie nicht übers Wochenende gekommen". Das Wort "Abszeß" machte alsbald die Runde. So schlimm sei es aber noch nicht, vielmehr seien mein Zahn und ich Opfer einer "Infiltration".

So weit ist es also bereits wieder, dachte ich, während der Arzt nach einer Exzisionszange griff. Noch hegte er nämlich die Hoffnung, meine Goldkrone retten zu können, zwecks späterer Wiederverwendung. Er mühte sich dann auch eine Weile, flanschte, dengelte und bog in meinem Mund, bis er fluchte und schwitzte und schließlich den Löffel das Werkzeug hinwarf. So habe es keinen Zweck, grummelte er, während ich fasziniert, aber auch ein wenig ermattet in den Behandlungsstuhl sank. Dann enthüllte er mir seinen Plan B: Er werde, einem Kamin gleich, ein Loch von oben in den Zahn bohren, damit die Dinge in Fluß gerieten und die entzündeten Eiterherde mein Zahnfleisch nicht weiter ins Kugelige verformen können.

"Und da betäuben wir nicht"? fragte ich zaghaft, während er sich mit seinem Bohrgerät näherte. "Ach," antwortete er leutselig. "Lassen Sie es mich so ausdrücken: In der Pathologie betäubt man die Leichen auch nicht mehr, bevor man sie seziert." Da wo er bohre, er müsse es so sagen, sei alles tot.

"Schön," stöhnte ich. "In der Pathologie habe ich selbst zwei Jahre während des Studiums gearbeitet..." - "Dann kennen Sie das ja", unterband der Dentist meinen Anflug von Fachsimpelei. Das Bohren ging dann auch gleich in Gang, bis es plötzlich - und nun zurück zur Prophetie - gleich dem Zischen der Hydraulik in der Bustür tönte - und eine finstere Wolke putrider Gase meinem Mund entströmte. Die Assistentin zuckte unwillkürlich zurück, der Arzt dröhnte mit sichtlicher Freude: "Haben Sie das mitbekommen? Haha, ein schöner Eiterherd." Mir fielen die Verse Martin Opitz' ein:

Ein scheußlicher Gestanck
Wie sonst ein faules Aaß auch von sich pflegt zu geben
Roch aus dem Hals' herauß

Das war der Beweis. Der Kid ist böse durch und durch! Innerlich verrottet und stinkend wie eine lebende Leiche! Noch aber solle ich nicht alle Hoffnung fahren lassen, meinte der Dentist. "Wir wollen die Sache mal offen lassen, Sie nehmen Penicillin, und am Montag sehen wir weiter."

Mit zerstörter Krone und moralisch schwer angeschlagen wankte ich aus der Praxis. Auf dem Weg zur Apotheke, begegnete mir eine Frau mit Beinen bis zum Hals ungefähr drei Meter langen Beinen in Ringelstrümpfen. Das wäre normalerweise ein Ereignis gewesen, das mich über ein langes, einsames Wochenende getragen hätte. Aber heute verfluchte ich es als Hohn des Schicksals. Jeden Moment rechnete ich damit, daß ausgerechnet jetzt Liv Tyler oder Angelina Jolie ohnmächtig zu meinen Füßen zusammenbrechen und um Mund-zu-Mund-Beatmung röcheln würden. Einem achtzigjährigen Greis müßte ich den Vortritt lassen, nur weil mir der Rosenduft, der für gewöhnlich meinem Munde entströmt, abhanden gekommen ist. Vade retro! rufen die Weiber dieser Stadt, der Kidhaftige kommt! Vielleicht sollte ich mir einen Bocksfuß zulegen.