Weltliche Poemata
Nach dem kleinen Bloggerbesäufnis Treffen mit netten Menschen, klettere ich viel-zu-spät-schon-wieder denkend in den Nachtbus und halte Fahrkarte, Lektüre und Musikberieselungsgerät bereit. Schaukelnd geht es durch das Dunkel, die engen Buchstaben verschwimmen, fahle Gestalten steigen zu. Ein hübsches, aber übermüdetes junges Mädchen sinkt auf den Platz neben mir. Bald nickt sie ein und preßt dabei ihr Bein an meines. Ich weiche dem Druck nicht aus und spüre, wie die Körperwärme langsam auf meinen Oberschenkel übergreift.
Wie damals, als Schüler, denke ich. Aber nur, weil ich gleichzeitig in meinem gelben Reclam-Heftchen lese. Martin Opitz, Gedichte.
Was muste der nun leyden
Der an der Kranckheit lag/eh' als kundte scheyden
Vnd ward deß Coerpers loß? das angesteckte Blut
Trat in den gantzen Kopff als ein heisse Glut
Vnd nahm die Augen ein/dievoller Fewers stunden.
Konnte das ein Zufall sein? Im Ohrhörer singen New Order von Temptation.
"So you've got blue eyes, so you've got green eyes, so you've got grey eyes..." Zufall sicherlich. Ich zögere und denke kurz daran, mit meiner Hand die ihre zu berühren. Aber es ist spät und ich beschließe, die Nacht lieber in meinem Bett zu verbringen als in dem feuchten Kellerverlies, in das man in Hamburg die Lustmolche wirft.
Der sprachen weg der Schlund war jaemmerlich gebunden
Die Lunge werthe sich/der gantze Leib lag kranck
Vnd ließ die Kraefften fort. Ein scheußlicher Gestanck
Wie sonst ein faules Aaß auch von sich pflegt zu geben
Roch aus dem Hals' herauß
Gleich dem Zischen der Hydraulik in der Bustür läßt Martin Opitz aus der romantischen Stimmung ganz schön die Lüffte raus. Ach, seufze ich nach innen. Was war das früher schön, als man noch trank, um anschließend dramatisch unglücklich zu sein. Nun stiehlt man sich ein wenig Wärme, fährt durch die Poetischen Wälder heim und spricht zufrieden sein Danckgebet, wie von langwiriger Pest genesen.
Sie können gleichzeitig Lyrik lesen und Musik hören? Wahrlich, Herr Kid, Sie sind ein erstaunliches Wesen. Barocklyrik ist aber wirklich eine großartige Sache, auch das liest man viel zu wenig.
Überhaupt, vielleicht hätten Sie die junge Damen aufwecken und ihr vorlesen sollen, dann hätte die sich, betört von den barocken Gesängen von Lebenslust und Vergänglichkeit, möglicherweise gerührt in Ihre Arme gestürzt.
(Vielleicht wäre sie auch nur davongestürzt, aber das wäre doch einmal einen Versuch wert gewesen.)
hat das junge mädchen gesehen, dass sie opitz lesen? und hätte sie sich gleichwohl einem wondratschek leser hingegeben? vermutlich ist es aber wieder nur die reklam signalfarbe, welche die leute zutraulich macht.
Der tut nichts, der will nur lesen.
Heute morgen gab es die Revanche, als sich ein ungeduschter Zwei-Zentner-Mann schwer atmend auf meinen Schoß neben mich fallen ließ.
Das Mädchen ließ noch ein irrlichternden Blick über die Opitz'schen Zeilen wandern und verbuchte mich dann offenbar unter harmloser Nerd. Aber womöglich habe ich auch ihr Interesse für die Lyrik des Barock geweckt. Ich habe ja jetzt schließlich einen Kulturauftrag. Die Stiftung Lesen wird es mir danken.
Was war das früher schön, als man noch trank, um anschließend dramatisch unglücklich zu sein.
Jepp, heute ist es andersrum.....
sie hätten auch gut in die runde gepasst ;o)
Sie waren auch da, Herr Nase? Hach.....
Genau, Frau Eva, wo waren Sie eigentlich? Ich hätte Sie abfüllen können, um Ihnen dann im Nachtbus aus dem Opitz'schen Œuvre vorzulesen...
Und dann wäre ich eingeschlafen und hätte entweder mein Bein gegen Ihres gepresst oder Sie hätten mich wachgerüttelt, damit ich nicht ein Wort verpasse.
Da wir aber heutzutage andersrum saufen, hätten wir vermutlich den gesamten Bus unterhalten, auch wenn nur zwei, drei Besoffene drin gesessen hätten. Ich wäre beim Aussteigen in den Rinnstein geknallt und Sie hätten am nächsten Tag ein Foto von meinem blutigen Knie in Ihrem Blog vorzeigen können. Hmmmm, wenn ich es recht bedenke... schade, sehr schade....
Ich hätte Ihr Knie aber auch operiert, so bin ich ja nicht. Und überlegen Sie: Das ganze Gerede anschließend im Blogland! Herr Kid prokelt an Frau Evas blutigen Knien herum! Die hätten ja alle wochenlang Spaß gehabt.
ich hätte dann auch gern dann den pfleger gespielt, der nach dem rechten sieht...
Hehehe, das wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen, Ihr Maulsperrengerät auszuprobieren, mangels Narkosemittel, denn die gesamte Nachbarschaft zusammenschreien, das wäre mitten in der Nacht nicht ganz so dolle gewesen. Und dann hätten Sie ein Foto von ihren Fingern an meinem Knie und eines von mir mit Maulsperrengerät gehabt, na, wenn das nicht einige Wochen lang Spass bereitet hätte.
Womöglich hätten Sie mich so gut abgefüllt, dass ich auch noch in Ihre Kloschüssel gekotzt hätte, meine Güte, Frau Eva gibt alles, was für eine Überschrift....
Hauptsache, Sie hätten nicht neben die Kloschüssel gekotzt.
Nein, nein, keine Sorge, da bin ich penibel und gut kondioniert.
Herr Pappnase und ich als ihre Pfleger, das wäre der Stoff aus dem die (Alb-)Träume mancher Kollegen gestrickt sind. Gerne und immer wieder erzähle ich ja die Anekdote von dem Paar aus meiner Bekanntschaft, das zusammenfand, weil er ihr das Köpfchen hielt, beim Gebet über der Kloschüssel. Geradezu eine barocke Romantik.
Streichen Sie das "Alb" ruhig weg, ich würde Sie beide gerne mal in plauschiger Nacht mit ein paar Atue auf dem Kessel erleben, live und ohne Löschfunktion und Reload-Button. Ich bin mir sicher, davon könnte ich meinen Kindern erzählen, wenn ich denn irgendwann welche hätte.
Ja, ich kenne da auch so eine Geschichte von einer Kloschüssel am Anfang einer Romanze - nein, ich bin darin nicht verstrickt, obwohl ich da auch die eine oder andere Anekdote zum besten geben könnte.
geht bestimmt durch dick und dünn zusammen.
Die gemeinschaftsstiftende Wirkung solchen Tuns sollte man indes nicht unterschätzen. Im Umkehrschluss gilt nämlich: Ein Typ, der nicht auf die Idee kommt, seiner Holden die Haare aus dem Geschehen rauszuhalten, kassiert definitiv dicke Minuspunkte...
Das funktioniert aber nur, solange er seinen Mageninhalt bei sich behält und nicht aus Solidarität ebenfalls nach Jörg ruft.
Bye bye love
This chaos is killing me
(David Bowie, "Hallo Spaceboy")
Ja, die guten Samariter. Eine stehende Rolle im großen Kasperle-Theater genauso wie der Witwentröster. Strandpiraten der Liebe, die sich am Strandgut gütlich halten, weil kurzfristig die Positionslichter außer Kontrolle gerieten. Ganze Blogs könnte man darüber schreiben.
Aber ich mich nicht in Rage. ;-)
Oh ja, die guten Samariter, die vorne lächeln und hinten die Klinge in der Mantelfalte bereit halten. Ach nein, nein, für Rage ist es eindeutig zu spät und Rage steht mir auch nur halb so gut wie elendige Heulerei, mit oder ohne Alkohol.
Das finde ich auch. Mir gegenüber wurde bereits bemängelt, daß hier gar nicht mehr so gejammert wird. Dabei ist es ein reines Zeitproblem. (Haha, mindestens drei tiefere Anspielungen verbergen sich hier...)
Ob Witwentröster oder Samariter, sie haben alle ihre eigenen Interessen. Ob auf einer Messerspitze balancierend oder mit der Stanniolverpackung in der Jackeninnentasche im Hintersinn. (Ist heute noch Mittwoch, kann ich noch Moralbloggen?!?)
Klar ist noch Mittwoch, aber so was von Mittwoch!
Hmmm, ist ja irgendwie auch blöde, das mit den Samaritern, wer weiss ob nicht der eine oder andere, dem ich ohne lange zu Fackeln in den Rücken geschossen habe, nicht wirklich ein echter Gutmensch war. Aber besser gar nicht zu Wort kommen lassen, die quatschen einen sonst schwindelig und nachher hat man selbst den Stahl im Kreuz stecken.
("Übrigens werden Skorpione immer von hinten erschossen", mußte ich mal lesen.) Man kann nicht vorsichtig genug sein, allerdings. Ich traue mir selbst ja am wenigsten - und ich habe Gründe!
Aber dann denke ich, die Samariter haben auch so ihre Gründe, man kann da nicht vorsichtig genug sein. Vorhin habe ich was gelesen aus der Rubrik Das kann doch nicht wahr sein, aber dann erinnerte ich mich an die Vielfältigkeit des Lebens und daran, daß nicht alles mit Gerechtigkeit zu tun hat und daß auch Lieder wie "Schnappi" auf Platz eins landen.
Was wollte ich sagen? Ach so, Knoblauch, Silberkugeln und Kreuze bereithalten und hübsch vorsichtig sein. Ich bin da so was von einer Meinung mit Ihnen.
Was für Gründe könnten denn die Samariter haben? Lassen Sie mich mal nachdenken........ oh, ich hab´s: Edel sei der Mensch, gutherzig, und tapfer und selbstlos und.... , ach, ich krieg´s nicht zusammen, bin ja auch keiner - das Dumme ist nur, dass die Opfer dann irgendwann doch nicht so wollen wie die Samariter oder vielleicht auch nicht so voll der Lobrede sind, kein Lohn für all´ die Mühe, schnapp macht die Klinge beim Aufspringen, Heldentat erledigt, Ende, aus.
Ach, was soll´s.
Schlafen Sie wohl.
Schlafen Sie wohl.
Das wird heute meine letzte Heldentat sein.
Träumen Sie was Süßes.
Auch ein Entwicklung, die ich nachvollziehen kann und darf. Und muss.
boah, für son irrelevantes kontolenzschreiben so ein aufwand (bestimmt 20 minuten an deinen "aufnahmebedingungen" gescheitert). also:
nächstes mal wenn ihr n hamburger bloggerbesäufnis plant nehmt ihr mich mit, ok?
(Hm. Prinzipiell muß man sich, genau wie bei Twoday, nur einmal bei blogger.de registrieren und kann dann dann in allen Blogs hier kommentieren. Ich weiß jetzt auch nicht, woran es liegt.)
Es gab gestern ein nette illustre Runde, da hätten Sie sich bestimmt wohlgefühlt. War halt relativ spontan, trinken, reden, lustig sein. Ich habe ein bißchen aufgeschnitten, da wären Sie bestimmt die Richtige gewesen, mir hier und da das Wort abzuschneiden. Fühlen Sie sich also eingeladen für das nächste Mal.
oh ich freu mich und danke sehr für die einladung. und seien sie gewiss: das wort werde ich ihnen abschneiden wo - es - nur - geht!
Ihr habt es gut, in euren Großstädten. Wir hier, in der Profinz, müssen uns auf eine sehr profane und altmodische Art und Weise kennenlernen, treffen.
das ist einer der rührendsten beiträge, den ich in den letzten jahren gelesen habe, herr maz. das klingt ja, als ob man in hamburg und berlin eine extra taste auf dem keyboard hätte, um sich mal eben in ein leibhaftiges rendezvous zu beamen. glauben sie mir - das läuft in den sogenannten großstädten auch nicht mit irgendwelchen automatismen. sie brauchen nicht neidisch zu sein. (sich 'altmodisch kennenlernen' klingt irgendwie ziemlich klasse in meinen versauten ohren)
Hey, ich habe in einer Megagroßstadt meine Kindheit verbracht. So kenne ich sehr wohl die Segnungen einer solchen (ja, ja, dummes Kanzlei-Deutsch).
Für das Loch, in dem ich gerade mein Leben friste, gibt es kein beschönigendes Wort mehr.
Außerdem wird das Mitleid eh unterschätzt (nicht meine Worte, sondern die eines Constanzos).)))
Glauben Sie ja nicht, daß sei in Hamburg der Normalfall. Bis man da mal alle Szene-Stars, Überstundenarbeiter, Stadtteilfixierte und Frühschichtfahrer unter einen Hut gebracht hat... Aber demnächst spielen wir subversive Spiele in trunkener Runde, vielleicht fällt da die ein oder andere bizarre Geschichte für die Daheimgebliebenen ab. Das hermetische Café denkt an Sie!
lässt sich die Eremiten-Existenz in der Einöde doch gleich besser ertragen. Man stellt sich ja immer vor, in Hamburg, Berlin oder Wien würden die werten Bloggerkolleginnen und Kollegen ständig umeinand' fallen.
Über Berlin liest man ja ständig die wildesten Sachen. Aber im gesitteten Hamburg wirft man höchstens mal ein Stück Kluntje mehr in den Tee, wenn man so richtig einen drauf machen will.
Ich kenne sie zwar alle noch nicht, stolperte soeben aber über diesen Text und möchte hiermit meine größte Hochachtung aussprechen!
Werde in den nächsten Tagen ein lesender Gast sein, falls Sie gestatten.
Wir kennen uns manchmal selber nicht. Wir sind hier alle nur Femde unter Fremden. Setzen Sie sich ruhig dazu, manchmal gibt es hier auch lustige Getränke.
Nach so ausführlicher Rede nun zu einer lustigen Begebenheit, die sich just an dem Tage zutrug, da ich diesen wundervollen Beitrag las.
Denn beinahe machte ich Bekanntschaft mit einem Kellerverlies, als ich in einer mir gänzlich unbekannten Lokalität meine Notdurft verichtet hatte (auf stacheldrahtverzierter Brille, versteht sich) und die mir vorausgehende Dame vergessen hatte, wo der Ausgang war; sie öffnete eine Tür mit der Geste des Vortrittlassens und mit beherztem Schritt ging ich.... einer gähnenden Schwärze entgegen, die mir da entgegenlachte. "Das Verlies" dachte ich bei mir, "davon hat doch heute der Herr Kid..." schauderte es.... Ach nein, ist ja die falsche Stadt, dachte ich erleichtert. Und mit etwas ungelenkem Lächeln wandte ich mich um zur nächsten Tür....
Merkwürdig. Sollten die solche Verliese auch in anderen Städten vorrätig halten? Sehen Sie sich vor, dort liegt nur feuchtes Stroh, und an den Wänden klebt Salpeter und der Rost, von den Eisenketten. (Offenbar kann man nicht mal mehr aufs Klo gehen, ohne sich zu fürchten.)