Freitag, 16. Januar 2004


Jungfrauen am Telefon

Nun kam der Wind auf, mild tastend, voll von Stimmen der Vergangenheit, vom Geflüster uralter Geranien, vom Geseufze der noch vor den hartnäckigsten Sehnsüchten erlebten Enttäuschungen.

Gabriel Garcia Marquez. Hundert Jahre Einsamkeit, 1967.

Halbabendliches Telefongespräch. Eine alte Freundin. Astrologisch versiert. Sternzeichen Jungfrau. "Das ist das Zeichen der Analyse." Tatsache. Nicht das der Intrige? "Ja, das ist der Schatten." Ok, laß uns über Schatten reden.

-Mich beschäftigt das Problem der Funktionaltheorie, Malinowksi, du weißt.
-Oh, Malinowski.
-Er sagt, anders als beim Tier gäbe es beim Menschen keine bestimmte Zeit der Brunst. "Das heißt, daß der Mann jederzeit zum Geschlechtsakt in der Lage ist und die Frau jederzeit fähig, sich ihm hinzugeben - Umstände, die, wie wir wissen, die menschlichen Beziehungen nicht vereinfachen."
-Das hat Malinowksi gesagt?
-Ja. Und er spricht über Kultur und Tabu, und er meint:
"Die Kultur übt aber nicht nur einen rein negativen Einfluß auf den Geschlechtstrieb aus. In jeder Gemeinschaft finden wir außer Verboten und Beschränkungen auch Anreize zur Partnerwerbung und sexuellem Interesse."
-Dieser Malinowski hat's voll drauf.
-Voll krass, würden jüngere Menschen sagen. Er erwähnt Festlichkeiten wie Tanz und so. "Solche Zeiten schaffen natürlich mit Hilfe der verschiedenen Stimulantien, künstlerischen Betätigung und der allgemeinen festlichen Stimmung Anreize zur Partnerwerbung."
-Karneval der Kultur? Oder was meint er?
-Fett, ich meine korrekt, ich meine, ja so was in der Art. Und ich dachte, Kunst diente der Sublimierung!
-Quatsch. Es geht doch immer nur ums ficken!
-Ist das nicht etwas platt?
-Du meinst, ich verallgemeinere?
-Du verallgemeinerst doch immer.
-Das ist jetzt aber auch verallgemeinernd.
-Ok, richtig. Ich meine, es ist ja nicht wie bei dem alten Roadie-Spruch: "If it moves, fuck it. If it doesn't move, put it on a truck."
-Nein. Ich meine ja auch auf einer tiefenpsychologischen Ebene. Dann reduziert sich halt alles.
-Hm, Du meinst tiefenpsychologisch reduziert sich gutes Essen auf McDonalds?
-Für den, der nur ans Ficken denkt, wahrscheinlich schon. Er wird es selbst nicht so sehen, weil er eine höhere Meinung von sich aufrecht erhalten will. Wahrscheinlich nimmt er ein gutes Buch mit, wenn er zu McDonalds geht.
-Das ist doch aber wieder Sublimierung?!?
-Oder ein Schwanzersatz.
-Ihr astrologischen Jungfrauen seid immer so direkt in eurer Ausdrucksweise.
-Man kann nicht immer rumeiern, haha, wenn du verstehst...
-Haha. Willkommen in Kalau. Manchmal versteht man ein Thema besser, wenn man es umkreist. Das Mäandrieren, Tasten, drumherum laufen. Stell Dir vor, jemand verlange von, sagen wir Garcia Marquez, komm mal auf den Punkt!
-Ha. Bei Marquez. Geil.
-Malinowski hat noch Interessantes über jugendliche Rivalitätskämpfe, Vatermord und so weiter...
-Na ja.
-Er spricht über das Fluchen. "Jede Form von Beschimpfung oder unflätiger Sprache enthält Aufforderungen, beladen mit starken emotionalen Möglichkeiten."
-Werd konkret.
-Aber voll fett, Alde: Also du sagst zwar, friß Staub! Leck mich! oder Stirb! aber das ist nur die Aufforderung, mit der du den anderen möglichst weit erniedrigen willst. Du Lügner! Je nach Kulturkreis: Je nachdem, welches Tabu herrscht. Fick deine Mutter! Du Idiot! Du Arschloch!
-Redest du mit mir?
-Äh, 'tschuldige, es ging gerade mit mir durch. Nein, ich dachte an jemand anderen.
-Ah ja. Was ist eigentlich mit Sonntag?
-Sonntag? Ja, ist ok.
-Vorher noch mal telefonieren oder sollen wir direkt was ausmachen?
-Wir telefonieren.
-Ha, rumeiern! Na ok, dann gute Nacht.
-Ja, schlaf gut.

(Zitate: Bronislaw Malinowski. Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften. 1962)


 



Der gefundene Satz

"Man kann leicht von seinen Erinnerungen betrogen werden. Vor allem dann, wenn sie sehr deutlich sind."

(Dai Sijies, Regisseur von "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin")

"Da fällt mir ein, daß kein Traum, mag er noch so absurd und einsam sein, im Weltall verloren geht."

(Bruno Schulz, Die Republik der Träume)


 



Demut

"... Ich glaube, das war eine Lektion in Demut. Wenn du über die Scheußlichkeit deines Fleisches hinwegkommst, kannst du über alles hinwegkommen."
(Alan Bates über den Film "Liebende Frauen" von Ken Russell)

Super 8 | von kid37 um 01:57h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link