Tauperlen & Goldstrahlen

"Man würfelt. Säuft. Man schwatzt von Zukunftsstaaten.
Ein jeder übt behaglich seine Schnauze.
Die Erde ist ein fetter Sonntagsbraten,
Hübsch eingetunkt in süße Sonnensauce.
(Alfred Liechtenstein, "Sommerfrische". 1913)

Abends weiterhin Spargelzeit im Hermetischen Café, unten tuckern die Motorboote vorbei, ich gebe weißweinverstärkte Lichtsignale. Ich möchte jeden in seinem Hafen wissen, gute Fahrt, denke ich, wo kämen wir sonst auch hin. Am nächsten Tag dann einen sonnenverklärten Milchkaffee auf dem Flohmarkt, hinter dunkleren Gläsern den tieferen Blick.

Gegen Ende verschenkte ein Händler seine nichtverkauften Bücher. Alles gesittet, ein paar Interessierte, kein gieriges Gewühle. Geduld im Sonnenschein, heut ist nicht der letzte Tag auf Erden. Einen bedächtig alten vierbändigen Brockhaus lasse ich lieber liegen, ich weiß so schon nicht, wohin. Das Traumtagebuch von Elsa Morante in einer schönen Arche-Ausgabe hingegen nehme ich an mich. Und dann dieses wunderbare Werk in einer Ausgabe von 1894: Tauperlen und Goldstrahlen: Tägliche Morgen- und Abendandachten für stille Sammlung und häusliche Erbauung von C. H. Spurgeon, verlegt im schönen Hamburg-Borgfelde. Im Vorwort zu dieser (fünften) Auflage heißt es - ganz modern -: "In unseren Tagen, wo so wenig Ruhe ist, sondern ein Jagen und Rennen, ist es nicht leicht, sich mit der Familie in Ruhe zu sammeln... Und doch, wie notwendig ist es, wenn der innere Mensch nicht verhungern und verkümmern soll!"

Für jeden Tag (auch an den 29. Februar ist gedacht) gibt es zwei kurze Andachten, den Tau für morgens, die Strahlen für abends - eine Art immerwährender Kalender der inneren Einkehr. Heute, für den 25. Mai, heißt es: "Wenn das Schiff vom Steuermann verlasen wird, kommt's sogleich vom Kurs ab und treibt als Spielball der Wellen ziellos umher."

Sonst wird es sein wie in der aktuellen Autoreklame, die Alfred Liechtenstein bereits 1914 ahnte:

Im Windbrand steht die Welt.
Halloh, der Sturm, der große Sturm ist da.
Ein kleines Mädchen fliegt von den Geschwistern.
Ein junges Auto flieht nach Ithaka.
("Der Sturm")
Für diesen Montagmorgen möchte ich also allen andächtig nahelegen: Haltet die Hände immer schön am Steuer. Und achtet auf die Lichtsignale.

Homestory | 12:15h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
liisa - Montag, 25. Mai 2009, 14:21
bedanke mich artig für die andächtigen Wünsche! Wunderbare Fotos, wunderbare Fundstücke vom Flohmarkt!

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kid37 - Montag, 25. Mai 2009, 18:32
So gehen einem die Predigten nicht aus. Wie die Heimkehr nach Ithaka.

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frau klugscheisser - Montag, 25. Mai 2009, 15:43
WAAAAAH!!! Was'n hier los? So bunt...
Dass Sie mal nicht zu übermütig werden.

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saxanasnotizen.blogspot.com - Montag, 25. Mai 2009, 18:26
Bei dem Datum fällt mir ein ganz anderer Sturm ein, vor dem wir hoffentlich verschont bleiben in Zukunft, hoffentlich!!!

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kid37 - Montag, 25. Mai 2009, 18:28
Der ewige düstere Kram rüttelt ja keinen mehr auf. Ma muß auch mal neue, goldbestrahlte Wege gehen.

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kid37 - Montag, 25. Mai 2009, 18:36
@ Saxana: Ja, in diesen Jahren dräute mehr als Autoreklame. In "Prophezeiung" heißt es 1913: "Einmal kommt - ich habe Zeichen -/Sterbesturm aus fernem Norden./Überall stinkt es nach Leichen./Es beginnt das große Morden." Heym wurde da noch deutlicher.

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ladyjane - Montag, 25. Mai 2009, 20:18
Sie sind ein Poet, mein Herr. Ein feiner + ein lässiger. Das gefällt mir.

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kid37 - Montag, 25. Mai 2009, 22:49
Ich glaube, Lässigkeit assoziieren Menschen, die mich kennen, eher spät mit mir. Das sehe ich aber lässig. ;-)

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