Sonntag, 2. Dezember 2007


Tanzen, bis die Luft weg ist



Bei den interessanten Dingen muß man drängeln, sich balgen, laut aufzeigen, mit den Fingern (beweglich) schnipsen. Es ist ein Kreuz. Vielleicht wäre es besser, ich versuchte etwas aus der Mode geratenes zu ergattern, eine Lichtorgel zum Beispiel, wie sie in den 70ern die Cooleren meiner Klassenkameraden aus der Siebten besaßen. Die konnten die Vorhänge ihrer Kinderzimmer zuziehen und drei trübselige Lichter wie eine irregeleitete Ampel flackern lassen, während aus den kleinen kunststoffverstärkten Lautsprechern ihrer Kompaktanlagen Partyhits wie "Lady Bump" oder "Popcorn" quäkten. Heiße Sache. Ein Freund hatte sowas. Eines nachmittags ließ er mich lange seine Partyhits hören, während er unter dem Vorwand, eine Besorgung machen zu müssen, die Wohnung verließ. Irgendwann kehrte er zurück, und wir diskutierten noch ein wenig über die Qualitäten eines Stücks wie "Popcorn". Als ich ging, zu spät vielleicht, hatte jemand die Luft aus meinem im Hausflur abgestellten Fahrrad gelassen. Er war sehr empört über die Heimtücke der Nachbarn. Ich sah, daß ich meine Luftpumpe vergessen hatte. Helfen konnte er nicht, denn er fuhr ein schickes neues Rennrad mit Blitzventilen*. Seine Pumpe paßte nicht an die schäbigen altmodischen Dinger meines noch viel schäbigeren Rades.

Erst Jahre später, nennt mich ruhig naiv, die Freundschaft war längst erloschen, begriff ich in einer sentimentalen Stunde, als ich alte Erinnerungsfetzen in meinem Kopf sortierte, wer wirklich, großes Drama, die Luft aus meinen Reifen gelassen hatte. Rückblickend fand ich, er hätte mir auch anders mitteilen können, wie blöd er mich fand. Nun gut, er trägt heute Schnäuzer und arbeitet bei der Sparkasse; es sortiert sich im Leben eben alles zurecht.

Jedenfalls, dachte ich, vielleicht sollte ich jetzt die fehlende Coolness von damals nachholen und mir eine Lichtorgel ersteigern. Dann könnte ich die Fenster verdunkeln und in meiner Wohnung für mich ein wenig tanzen, ganz so, als sei alles unbeschwert. Zuerst vielleicht Monster Magnet, "Monolithic", danach dann aber gleich Moloko Familiar Feeling.


 


Samstag, 1. Dezember 2007


Der Grill und die Ameise

Heute habe ich das letzte Grillgut entsorgt. Ich glaube, das wird dieses Jahr nichts mehr. Das halbe Dutzend Gammelwürstchen balgte sich in meinem kleinen ***-Fach nur noch mit dem eingefrorenen Filmmaterial um den Platz und wie so oft im Leben hieß es, einer muß nun gehen. In diesem Fall waren es die armen Würstchen.

Seltsam und ungewöhnlich (Herr Kid, Sie sind so ungewöhnlich!) genug für mich, solche Dinge überhaupt zu besitzen, fand ich. Letztes Jahr war ich allerdings während der Fußball-WM irgendwo zum Spiel-schauen-und-Grillen eingeladen ("Kommste einfach nach der Arbeit vorbei"), stellte aber, sozial unbeholfen wie ich bin, erst vor Ort fest, daß für mich gar keine Wurst vorgesehen war. Das Bier mußte man sich eh im Büdchen nebenan holen, das war ok, aber zu Essen gab es nichts. Die Einladende bot mir an, kurz mal bei ihr (also bei ihrem Würstchen) abzubeißen, bzw. ihren Brötchenrest zu essen, was zwar lecker, aber auch irgendwie demütigend war und zudem den Hunger nicht stillte. Normalerweise wäre dies ein Zeitpunkt gewesen, mit überraschtem Blick aufs nackte Handgelenk zu starren und zu rufen "Oh, so spät haben wir schon! Na, da muß ich aber!", um sich dann, ohne einen allzugroßen sozialen Scherbenhaufen zu hinterlassen, heimlich zum nächsten Dönergeschäft zu begeben.

Aber nun wollte ich ja das Spiel sehen, das die deutsche Märchenmannschaft, wenn wundert das jetzt noch, als einziges verlor. Immerhin waren die anderen satt, und ich schwor, das alte Pfadfinderwort "Be prepared!" nicht noch einmal zu mißachten. Seitdem trage ich immer ein Würstchen in der Tasche mit mir herum, man weiß ja nie.

Es kam aber nie dazu, es auch irgendwo auf ein gut vorgeglühtes, zu allem bereites, hitziges Rost zu werfen, weshalb ich dann dieses Jahr (wir schreiten in der Erzählung voran) beschloß, Achtung, selbst einen Grill anzuschaffen. Denn ich dachte, das klingt doch lustig, da kann man in den Park gehen wie so viele und vielleicht kommt ja jemand mit, wenn Zeit ist oder so, dann muß ich das nicht alleine tun. Das war eine super Idee, denn kaum hatte ich Gerät und Holzkohle (Buche, extra) eingelagert, war es vorbei mit dem Sommer, also Ende Mai oder so. Falls sich jemand gefragt hat, ja, ich war's. Ich habe ihn auf dem Gewissen, den Sommer dieses Jahr.

Man soll eben bei seinen Leisten bleiben und nicht im vorgerückten Alter plötzlich wunderlich werden und Dinge tun, die man nicht beherrscht. Wieviele ältere Herrschaften brechen sich die Knochen, weil sie unbedingt noch Motorrad fahren oder einen Hengst reiten oder im Gebirge herumkraxeln wollen, während sie ihr Leben zuvor auf dem Bürostuhl verbracht haben. Wer weiß, welch häßlicher Grillunfall mir erspart blieb. Und den Würstchen erst.


 


Mittwoch, 28. November 2007


Glück zu Stroh spinnen

Derzeit geht es mir wie der rothaarigen Tochter von Klaus Dunst. Während ich hin- und hergeschleudert werde, derweil mir ein dicker Kerl Sand ins Getriebe streuen will und böse Spinnen ihre intriganten klebrigen Netze um mich stricken, hagelt es zu allem Überfluß schlechte Kritiken. Heute morgen erst mal den Chef rundgemacht, der eine Gußform, an der ich gestern abend noch lange rumgeschmirgelt habe, einfach in den Mülleimer geworfen hat. Nachher brauchte man sie natürlich doch noch, aber ich bin dafür nicht in die Tonne gekrochen. Ich nicht. Ich bin etwas laut geworden, denn in Zeiten wie diesen muß man gleich Grenzen setzen. Jetzt sitzt er hinter geschlossenen Türen. In seinem Büro. Vielleicht stellt er gerade meine Entlassungspapiere zusammen.

Aber sollte mir solches Glück zufallen, möchte ich es lieber heute an der Lotteriebude gezogen haben. In der dichtgedrängten Menschentraube, die sich rund um den kleinen Tisch mit den Scheinen gebildet hatte, riefen sich einige Tippwillige die Zahlen nur so zu. "Dreizehn", rief eine. "Nimm die Dreizehn! Und 27!" So laut, daß ich mich kaum auf meine ausgetüftelten eigenen Zahlen konzentrieren konnte. 37 - 37 - 37 - 37 - 37 - 37, hier kann ich sie ja verraten. Solltet ihr nichts mehr von mir hören, fragt in der Karibik nach. Deckname: "Mary Jane".


 


Montag, 5. November 2007


Erst eins, dann zwei, dann drei... dann vierundzwanzig

Warte, warte, nur ein Weilchen...
(Gassenlied)

Draußen vom Herbstlaub komm' ich her, ich muß euch sagen: Ich habe bereits alle Weihnachtsgeschenke zusammen.

(Stille wie ein Donnerhall.) Nur ein Scherz! Aber langsam heißt es, Fahrt aufnehmen auf dem Weg in die rotbemützten Besinnlichkeitswochen. Der Anfang ist gemacht: Ein lieber Kollege brachte mir aus dem mittelfernen Hannover diesen wunderbaren Adventskalender mit. Und wenn schon, höre ich manche rufen. Doch gemach. Denn auf dem Kalender ist nicht nur das Frl. Anna Blume abgebildet. Hinter einem Baum grad mal leicht getarnt, lauert auch ein Hannoveraner Unruhestifter, über den wir mehr wissen als über jedes seiner Opfer: Fritz Haarmann.

Zur Weihnachtszeit, wenn nur Kinderaugen heller blitzen als schneebedeckte Tannenzweige, darf neben Dada auch das Grauen nicht fehlen, dachte sich wohl der im Auftrag des Tourismusbüros Hannover tätige Zeichner und malte den als Vampir von Hannover landesweit bekannten Serienmörder samt Hackebeil ins Bild. Zu fürchten ist da nichts, denn ein jeder weiß, daß Knecht Ruprecht zur Bestrafung seiner Gespielen Opfer nur zur Rute greift. Bald fand die Stadt Hannover aber, nun völlig von der Leine, die Darstellung ihres berühmten Sohnes wenig christlich und stoppte den Verkauf.


Bibelleser jedoch werden dabei mit Recht einwenden, daß dies doch bloß eine säkularisierte Version der Herodes-Geschichte sei, der genau wie Haarmann auch nur Jungs tötete: "Da [...] ward [Herodes] sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knäblein zu Bethlehem töten [...]" Matth. 2.16. Dieser Zusammenhang muß jedem gleich ins Auge fallen! Roland Barthes jedenfalls hätte bei der ikonographischen Exegese seine Freude gehabt und geschlossen, daß selbstverständlich auch der Adventskalender, wie eine geschriebene Überlieferung, der Film oder eine Fotografie, Träger eines Mythos sein kann.

Auch der Serienmörder an sich, da machen wir uns mal nichts vor, ist seit dem Erscheinen eines gewissen Hannibal Lecter am popkulturellen Horizont salonfähig geworden. Seither gilt der ritualisierte Mord nicht mehr nur ausschließlich als von niederen Instinkten bedingt, sondern fallweise auch als verfeinerte Ausdrucksform eines höheren Ziels, die sich ebenso kunstvoll wie ein klassisches Werk der Hochultur orchestrieren läßt. Haarmann, ein schlimmer Bettnässer¹ obendrein, entwickelte nun allerdings weniger einen Sinn für deliziöse Lebergerichte, sondern, so jedenfalls das hartnäckige Gerücht, ein eher bodenständiges Interesse für grobere Fleischwaren. Nicht so schön.

Während der fiktive Hannibal Lecter eine berühmte Gestalt des modernen Lagerfeuererzählens geworden ist, den nur die wenigsten kultiviert denkenden Menschen von der Türschwelle weisen würden, ist der echte Haarmann - völlig zurecht natürlich - ein Ausgestoßener geblieben. Immerhin: Seine Geschichte inspirierte Bänkelsang und Abzählreime und floß ebenso wie der Fall Peter Kürten², der "Vampir von Düsseldorf", in das Drehbuch von Fritz Langs berühmten Thriller M - Eine Stadt sucht einen Mörder ein. Und beschert (!) nun einem naiv-fröhlich gezeichneten Adventskalender einen grimmen Unterton, ein Memento mori, das an die oftmals prekäre Situation jungen Lebens erinnert - in einer Zeit, in der man die Weihnachtsbotschaft ungerührt vom Kommerz schlachten läßt. Für diesen geschliffen scharfen Hinweis, denn die Wahrheit tut oft weh, gebührt dem Zeichner nichts anderes als Dank und Lob.

24 Morde hatte Haarmann auf dem Gewissen. Jetzt bin ich nur gespannt, was sich hinter den 24 geheimnisvollen Türchen verbirgt. Warte, warte, nur ein Weilchen...


>>> Trailer zu M - Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang (1931)
Fritz Haarmann bei Serienkiller.de
¹ P. und J. Murakami. Lexikon der Serienmörder. München, 2000. s.v. "Haarmann".
² Peter Kürten in der Wikipedia


 


Donnerstag, 1. November 2007


Die Flut kommt, ist aber letztlich auch nur Wasser

Starkstromelektrische Bloßgelegtheit. Denk, was du willst, aber never ever put it in an email, heißt die angloamerikanische Sozialparkettregel. Als eitler Faun übergebe ich natürlich das S7ensiegelbuch der Verbaläußerungsgalanterie als allererstes dem großmäuligem Feuer. Heute morgen fiel mir kurz ein, wie es war, als wir uns alle nicht kannten. Als man sich nur Worte telegraphierte, ahnungs- und oft rücksichtslos und ohne weitere Gewinnerzielungsabsicht.

Auch ein Geschenk, ein schönes. Das Bild jetzt, nicht die beschriebene Tatsache.Während der Rest der Republik auf der faulen Haut sich räkelte, mußte heute in Hamburg aber gearbeitet werden. Ein zähes Vergnügen, zumal wenn man weiß, daß einem am Ende doch wieder alles weggenommen wird.

Fremdevaluierung. Liv Ullmann, in Tokio geboren, so las ich heute, hielt sich für einen "uneitlen Menschen", bis Lars von Trier vor ihr die Preise in Cannes abräumte. Ich dusche jetzt morgens immer kalt, der Demut wegen und weil ich Angst verspüre. Das Zupfen und Zerren, das Wollen und Haben, auch das Anteilnehmen. Die Menschen, das hat Liv Ullmann jetzt nicht gesagt, nennen immer das falsche kokett. "Witzig", sagen sie und schauen sich interessiert bei mir um. "Auf der Ausstiegsluke steht Ausstiegsluke und auf der Schrotflinte Schrotflinte." Ich bin wohl eher kein Diplomat.

Da ist ein Licht, das niemals ausgeht. Merkwürdig, wie mir gerade dieses Lied nun schon zum zweiten Mal zugespielt wird. Ich sollte mehr auf Zwischentöne achten. Nächstes Mal gehe ich besser doch zum Punkkaraoke. Ich will eine Axt, das Eis zu brechen, sagt David Bowie. Ich aber sage: Jedermann sein eigener Leuchtturm.


 


Mittwoch, 31. Oktober 2007


Día de los Muertos

In knöcherner Stille glänzt
das Herz des Einsamen

(Georg Trakl, "Am Abend")


















Ein silberner Trost, ein fermentiertes Getränk und zwei oder drei trübe Lichter eines ranzigen Cafés: Kaum habe ich mich fröhlich auf einem Tisch gewälzt, legt sich tags darauf bereits die Schwermut wie ein nasser Lappen ins Genick. Morbide Schöne winken ach so angekränkelt mit ihren Strumpfbändern, derweil es mir noch nicht einmal gelingt, den eigenen Namen in eine Bierlache zu schreiben. Die vom Grünspan überzogene Überwachungskamera indes hält unverschleiert drauf, hochaufgelöst bis zum letzten Schweißtropfen.

Während wir Ende Oktober den Weltspartag begehen, metallgefüllte Schweine zur Monetenschlachtbank führen und aus Angst vor dem dreckigen Alter ein Rentenpaket erwerben, brechen anderenorts die Gräber auf, um mit zuckrigen Grüßen die alten Knochen tanzen zu lassen. Der Tag der Toten, mit Ringelblumen und Schokolade begrüßt, ist jedoch ein freudiges Fest.

Auf kühlen Steinen sitzen wir jetzt, unsere Finger gleiten vorsichtig über die Gravierungen, finden die Jahreszahl. Wer nämlich lange genug auf verwitterte Grabsteine schaut, meint schließlich, den eigenen Namen zu erkennen. Wem es glückt, sogar auf dem lustigen Friedhof.

Es stimmt, ich hätte dich gerne geküßt, doch du sahst weit in die Ferne. Nach den dunklen Vögeln.


>>> Wikipedia: Tag der Toten
Celebrate the Dead - Celebrate Life - Webseite (Fotos, Infos, Blog)
La Catrina - Diego Rivera
José Guadalupe Posada (Wikipedia)


 


Montag, 22. Oktober 2007


Eisige Erinnerung, aber lieblicher Wein

Mutter" rufe ich, "was ist das für ein Wein?" Stirnrunzelnd betrachte ich das Etikett. Die Mutter hat sich vergriffen, einen Merlot gekauft, den Aufdruck "lieblich" vielleicht aber auf sich bezogen oder einfach auch nur übersehen. Doch erinnern wir uns daran, was in unserer Familie immer galt: einfach immer weiter machen. Und frei nach Nestroy ("Einen Jux will er sich machen") beschließen wir tapfer: Dieser Wein wird getrunken.

Zwei Gläser später sind wir bereits leicht beschwipst und schauen gemeinsam mit einem unterschiedlichen Grad an Begeisterung "Astro-TV". Ich parodiere die hellsichtigen Gestalten, die für gute Provision arglosen Menschen Glückskekssprüche verkaufen. Auch meine Mutter findet bald Gefallen an dem TV-Trash. Als eine Frau anruft, um zu erfahren, ob's noch was wird, mit der Liebe und ob das Schicksal doch noch mal gnädig sein wird, rufen wir fast aus einem Mund: "Vergiß es!" Offenbar lebt der Sender auch vom voyeuristischen Katastrophentourismus.

Am nächsten Tag berichte ich der Mutter, daß nun viele Menschen über Dinge wie "Apfelkuchen" und "Mutterkreuz"* diskutieren, aber entweder das eine oder das andere gar nicht kennen. Meine Mutter, alles andere als eine gute Apfelkuchenbäckerin, kramt in der Schachtel mit den drei Familienandenken und präsentiert achtlos das silberne Symbol des Anstoßes. Verliehen an meine Großmutter sel., die sechs Kinder geboren hatte.

Angeblich, so lese ich, hatte man mit dem Ding einen Anspruch auf einen Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln, doch ich bezweifle, ob meine Großmutter damals im tiefen Ostpreußen wirklich etwas davon hatte, blieb sie doch die meisten Tage daheim, um die Kinder zu versorgen und statt Apfelkuchen zu backen, lieber ein paar Hühner zu schlachten.

1945 blieben die Hühner und der schmale Kartoffelacker zurück, als "der Russe" kam. Der Großvater war schon längst "gefallen", irgendwo im Osten, so wie mein anderer Großvater auch, wie überhaupt die meisten Männer dieser Familie, bis auf einen später angeheirateten Onkel, der im Westen stationiert war und die lieblichen französischen Weinkeller bewachte, wie er später gern erzählte. Meine Großmutter aber packte wie eine Maria F. der Unterschicht Kind, Sack, Kegel und Mutterkreuz und flüchtete zur Küste, damals im Winter 1945.

In Gotenhafen versuchte die klamme Bagage über die Ostsee zu kommen, auf einem der großen und kleinen Schiffe, die von dort die schwierige Passage durch Eis, Minen und sowjetische U-Bootsperren wagten. Zu Tausenden hockte man dort, wartend und hoffend, Sand in einem Getriebe, das nun völlig aus den Fugen geraten war. Die Großmutter und die sechs Kinder schliefen in einem ehemaligen Kino, dessen Sitze verfeuert worden waren. Jeden Morgen packte man die Leichen auf Leiterwagen und füllte die freiwerdenden Plätze mit weiteren Flüchtlingen. Ein anderer Onkel, der bei der Marine war, besorgte über einen wendungsreichen Dienstweg Papiere, eines dieser trickreichen Manöver, deren Irrwitz 60 Jahre später auch keiner mehr versteht. Nachbarn, die es selbst nicht anders gehalten hätten, empörten sich, aber meine Großmutter, die resolute, packte ihre sechs Kinder und die paar Koffer, die sie noch hatten, denn auf der Fahrt mit der Eisenbahn, in - welch' böse Ironie - Güterwaggons, die man mit Stroh ausgelegt hatte, war eine Türe aufgesprungen, Koffer und Kinder oder Koffer oder Kinder fielen hinaus, die Großmutter hinterher, rennen, retten, flüchten, in den blauen Augen meiner damals fünfjährigen Mutter ein großes Abenteuer, von dem nichts blieb, außer dem halbnackten Leben, Papieren, Fotos und dem Mutterkreuz, packte also die Habseligkeiten zusammen und zwängte die Familie auf eines dieser umgebauten Minensuchboote. Die zwei älteren Brüder, die - sich einen Jux machen wollend - die Abfahrt verpassten, ruderten mit einem Boot dem auslaufenden Schiff hinterher, wurden aufgefischt und - ein weiteres Abenteuer - für eine deftige Standpauke vor den Kapitän zitiert.

Aber in diesen Tagen überlebte nicht unbedingt der, der erster war. In der schmalen Fahrrinne, die durchs Eis gebrochen war, tauchten, meine Mutter schwört es Stein und Bein, bald Holz- und Trümmerteile auf. Zwei Tage zuvor war hier die Wilhelm Gustloff auf dem Weg nach Kiel einem sowjetischen U-Boot ins Fadenkreuz gelaufen. Zehntausend Menschen waren wohl an Bord, in diesem Januar 1945, und nachdem der KdF-Kreuzer versunken war, wurden 1252 aus der eisigen See geborgen. "Das war es" sollen die Worte des Kapitäns gewesen sein, als erst der eine, dann der zweite und schließlich der dritte der vier abgefeuerten Torpedos unter der Wasserlinie einschlug. Es gab kein Weitermachen.
Das Minensuchboot mit meiner Mutter an Bord hingegen kam zwei Tage später durch, ohne Zwischenfall, mitsamt der Großmutter und dem Mutterkreuz. Für den sowjetischen U-Boot-Kommandanten Marinesko gab es nichts, nur die Erinnerung vielleicht an sein Fadenkreuz. Erst 1990 verlieh ihm Mütterchen Rußland postum einen Orden.

Am Ende trafen sie sich doch wieder, in ihrer Biografie jedenfalls, denn 1963 wurde ihr Schicksalsjahr. Meine ostpreußische Großmutter, die sechs Kinder geboren hatte, aber ihm entwischte, starb im Frühjahr jenes Jahres an Krebs. Marinesko, der elftausend auf den Grund der Ostsee geschickt hatte, folgte ihr ein halbes Jahr später.

Das Kreuz, sinnlos wie der Orden an Marinesko, ist nun in meinem Besitz. Eine Tante hatte sich unlängst beschwert, wie irgendeine Schwiegertochter aus der weitläufigen Familie, kaum, daß deren Mutter tot war, "alles weggeworfen hätte". Meine Mutter hingegen blieb stoisch. "So ist das halt." Vielleicht fielen ihr die Trümmer der Gustloff ein. Ich pflichtete ihr bei und bekräftigte, nach einem kurzen Blick auf ihr im Memphis-Stil gemustertes Geschirr, es nicht anders halten zu wollen, jedenfalls soweit ich ohne Astrologen-TV in die Zukunft blicken könne. "Ich würde mir auch nur ein paar Andenken raussuchen."

"Und", meinte sie. "Willst du sie jetzt schon haben?" Und wir lachten beide und nahmen einen letztes Glas von diesem widerlich lieblichen Merlot. Ich nahm dann das Mutterkreuz und ein paar andere Dinge. Muß ja immer weitergehen.

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* In der Wikipedia und einigen anderen Quellen wird behauptet, das Kreuz hätte die Aufschrift "Das Kind adelt die Mutter" getragen. Diese Inschrift habe ich nicht gefunden. Auch die Fotos in der Wikipedia selbst liefern dafür keinen Beweis. Vielleicht fand sich ein solcher Aufdruck auf der separaten Verleihungsurkunde - oder aber es hat hier eine Quelle von der anderen abgeschrieben. Die Seite des Deutschen Historischen Museums erwähnt diese Inschrift nicht.


 


Freitag, 19. Oktober 2007


Sich selbst an den Haaren...



Die Herbstsonne, das ist bekannt, kriecht am schönsten in den Wäldern des Bergischen Landes durchs fehlfarbige Laub. Zeit also, die Streikpause der BundesBahn zu nutzen und kurz einmal eine Luft zu schnuppern, für die es keine maritime Notausrüstung braucht. Sie wird erfüllt sein vom Fangesang des Regionalligaführers, dem psychedelischen Wispern der Wupperfabelwesen, vielleicht aber auch vom Heulen der zerzausten Klageweiber. Aber in den Baumlöchern der Gegend ist sicher noch Platz für ausgehauchte Geheimnisse. Schwere Erde, karges Essen und eisige Gemütlichkeit bei geöffneter Balkontüre erwarten den Wandersmann. Eine Reise ohne Rettungsring. In den Labyrinthen des Bergischen vertraut man schließlich besser nur sich selbst.

In der Zwischenzeit erfreuen sich alle herzensguten Menschen an den bezaubernd animierten Expeditionen des Jasper Morello (IMDb). Trailer

Wie heißt es: Jede Reise führt zu sich selbst zurück.
Außerdem brauche ich neue Schuhe.


 


Montag, 8. Oktober 2007


Neigungsgruppe Kalk & Weiß

Ich freue mich immer auf den Samstag. An diesem Tag nämlich ist in der hermetischen Anstalt Handtuchwechsel. Da kann ich mittags morgens nach der Dusche meinen bleichen Körper mit einem frischen, brettharten Frottiertuch abreiben.

Meine Hinz&Kunzt kaufte ich bei einem Mann, der aussah wie ich in zwanzig Jahren. Er trug sogar die gleiche Brille, nur daß seine am Rand mit Leukoplast geklebt war.



In der Fabrik beginnt langsam das Vorweihnachtsgeschäft. Feiertage müssen rausgearbeitet, Gartenzwerge mit Nikolausmützen versehen, Stiefel und Ruten gefaltet werden. Die Motivbanderole dieses Jahr heißt "Sonderschichten". Ich bin kaum zu bremsen, finde aber keine adäquaten Worte.

Meinem zweiten Roman Traumaland gleich bleiben alle Menschen stumm. Ich hingegen könnte eine Weile aus meinen geheimen A-Blog-Tagebüchern zitieren, in denen ich alles im Präsens schreibe. Und klein natürlich.

~ zufällig ferngesehen. eine seltsam verschobene szene: wie der mann von ganz links nach ganz rechts im bild geht. bis er sich selbst aufzulösen scheint am schwarzen rand der mattscheibe.

dabei an hegel gedacht.
~

Aber nun ist heute der wichtigste Tag für mich. Der erste nämlich vom Rest meines Lebens. (Erweiterte Sinnsprüche und Aphorismen, demnächst in Buchform. Gleich in zwanzig Sprachen übersetzt, 15 Millionen Auflage. Verkauft. Dann Tantiemen vom Verlag plus Scheck der VG Wort = finanziell sorgenfreie Zukunft.)

Als das Denken noch geholfen hat, wäre mir vielleicht ein Ausweg eingefallen. Nun hilft nur noch Notverriegelung. Nennen wir es einfach kreative Pause.

Bald ist wieder Samstag.


 


Mittwoch, 3. Oktober 2007


Eins und uneins

Herrliches Wetter am Nationalfeiertag also 17. Juni äh 14. Juli na, jetzt aber, Tag der Deutschen Einheit. Endlich wieder Kaiserwetter, Sonne satt für die Ausgehuniform, dazu ein leichter Wind, der die Fahnen spreizt, statt sie erektionsschlaff am Mast hängen zu lassen.



Auch auf dem Flohmarkt schwarzrotblonde Pracht. Mehr noch aber locken die Restbestände einer alten Zahnarztpraxis. Wieviel Geld man sparen könnte! Wieviel Nerven auch, drängte es nicht immer Menschen mit Kinderkarren und Fahrrädern durch dichtgedrängte Reihen. Was geht mit güldenen Oktoberwäldern und satten Flußlandschaften, möchte man rufen, Schuhe und Empfindliches in Sicherheit bewegend. Aber heute sind wir alle eins. Verbissene Mütter, die wie Großraumpflüge durch Herbstlaub mit Puki und Teutonia in bockige Grüppchenbildner preschen, schottergraue Heftchensammler, mit dem novemberfeuchten Geruch, der ihren Kleidern entsteigt, die Ein-Euro-Feilscher und angedellte-Ecken-Monierer, die Begeisterten und Zufriedenen, die Adressen-Austauscher und prospektiven Keller-Besichtiger. Kommt näher zu mir, ihr Beladenen, rufe ich, in einer seltenen Anwandlung von Leutseligkeit quer über den Platz zu den Kofferträgern, den Kindergeschminkten, den Kaffeetischsitzern. Laßt Schachern, laßt Feilschen! Doch schnell, schnell wie kleine flinke Mäuschen verstecken sie ihre Schätze tiefer in den Jackentaschen, äugen mißtrauisch und schräg, manch einer legt sogar die Stirn in Falten. Eine alte Dame umklammert ihren Gehstock, bis die Knöchel weiß werden.

Wir wollen doch eins sein, nur heute einmal. Gemeinsam singen, tanzen uns frei fühlen und kollektiv ausziehen vielleicht... Die letzten Worte entschlüpfen mir bereits tonloser, fast lautlos. Die ältere Dame ist empört, beginnt mit ihrem Krückstock quer über meinen Rücken zu schlagen. "Flegel", kreischt sie, während ich mich ducke, die Arme hochnehme, meinen frisch verheilten Kopf zu schützen.

Ach, denke ich traurig, stelle mich abseits und greife zur Stärkung zu einer Banane. Bald heißt es wieder, jeder Mann seine eigene Lichterkette. Wir sind wohl noch lange nicht eins.