Montag, 10. August 2009
Vor Jahren schon überwies mir meine fürsorgliche Frau Mutter im Vorgriff auf das nichtzuerwartende Erbe eine sogenannte Herdprämie, zweckgebunden zum Erwerb einer neuen Kochstelle gedacht. Jetzt endlich, Zins und Zinseszins deckten nun auch die Transportkosten, konnte ich Wunsch, Wollen und Angebot in Einklang bringen, und Samstagmorgen erschienen denn auch in aller Früh zwei wackere Jungs, die schnaufend und schwitzend den edelstählernen Kochfreund die sieben Etagen hoch in meinen Leuchtturm trugen. Dort hatte sich schon ein umlufterhitztes Temperatürchen aufgestaut, der Sommer kommt ja immer zur rechten Zeit und knallt mir hier aufs Dach.
Die Küche wird vom alten Herd entkernt, dahinterdarunter Schmandspuren einer über Jahre geführten nackten Küchenchefkarriere, gute Gelegenheit, hausmännisch aufgetunkten Fettlösezauber zu sprechen. Wenig zauberhaft gehen die Sägearbeiten weiter. 90 Grad sind 90 Grad, wir reden über Winkel, nicht über Temperaturen, die Herren würgen und ächzen, daß mir Angst und auch ein wenig bange wird, läuft, signalisiert man mir, ich habe die drei Sicherungen rausgedreht, die Kabel wechseln ihren Platz, hochspannend finde ich das, dann wird der Stählerne an seinen neuen Platz geschoben. Paßt, paßt nicht, paßt, paßt nicht, lauteres Ächzen, lauteres Stöhnen, kritischerer Blick. Inzwischen ist das Thermometer weiter nach oben gestiegen. "Ich würde mir ein Klimagerät kaufen", schlägt der eine vor. Ich suche nach der ästhetischen Linie, der Herd steht nicht so, wie ich es mir vorstelle. Die Schrauben werden noch mal rausgedreht, ein Ächzen, ein Kippeln, ein Wackeln. "Steht der etwa auf dem Kabel?" frage ich. Nöneineindaskannnichtsein, prüfend wird gekippt, entschlossen wird geschoben. Alles klar im Hinterdeck. Man drückt, man preßt, man schwitzt, die Jungs tun mir leid. So eine alte Küche wie meine, so teilt man mir selbstverzeihend mit, könne sich schon mal verziehen. Dann sei alles schief, erklären sie mildtätig, es sei mir nur nie aufgefallen. Unverstohlen schauen sie auf die Uhr, ich bin es müde, ein wenig enttäuscht. So hatte ich mir das neue Gewerk nicht vorgestellt. Ich gebe Trinkgeld, die Jungs haben mir Mühen abgenommen, vielleicht gebe ich zu viel, man tut nicht überrascht.
Kaum sind die tapferen Gesellen fort, geht für mich die Arbeit los. Ich stapfe in den Keller, die Stichsäge holen, prüfe meinen Akkuschrauber. Der nutzt mir nichts - die Jungs haben die Schrauben völlig ausgefranst, ich muß neue Schlitze schneiden, vorsichtig drehe ich die ausgelutschten Teile von Hand mit meinem Schraubendreher auf. Glück gehabt, sie lösen sich Drehung um Drehung, endlich habe ich den Herd frei, ziehe ihn heraus, drücke die Kochmulde heraus, bearbeite die Schnittkanten nach, 90 Grad sind wieder 90 Grad. Ich schiebe den Herd zurück, er kippelt, er wackelt, ich bleibe mißtrauisch. Ich schwitze nach oben und nach unten. Es ist noch heißer geworden, dabei ist der Backofen noch nicht einmal an. Ich drücke erneut die Kochmulde heraus, ziehe den Herd nach vorne - sieh an. Er steht natürlich auf dem Kabel, kein Wunder, daß es wackelt, kein Wunder, daß es kippt. Als alles berichtigt ist, schiebt er sich wie von selbst in die Öffnung, steht endlich so, wie er soll, wie ich es mir vorstellte. Ich suche zwei stabilere Schrauben aus meinem Werkzeugkasten, ziehe sie fest. Alles auf Linie, von wegen, Küche schief, was ihr meint, ist der Küchenchief. Ich bin durchgeweicht, mein Rücken wird sich am nächsten Tag melden, niemand gibt mir ein Trinkgeld, ich denke an den Spruch - willst du es richtig haben, mach es selbst - erschöpft, aber friedlich. Jetzt können wir Freunde werden.
Darauf erstmal ein Käsebrot.
Dienstag, 4. August 2009
Daß mich im Grunde keiner kennt, mag vielleicht auch daran liegen, daß ich mich zu selten richtig vorstelle. Natürlich trage ich auf privaten und beruflich veranlaßten Zusammenkünften meine diversen Ordenszeichen, gewonnenen Preise, Geburtsdatum und akademischen Titel gut sichtbar außen am Revers - aber schüchtern wie ich bin, verschmelze ich doch zu oft zu schnell mit meinem eigenen Schatten, werde eins mit der Wand, anstatt mir gleich ein paar Freunde fürs Leben zu adden, wie man es im Internet täte. Was mir fehlt, um die Worte kurz zu halten, ist eine vernünftige Visitenkarte, die Auskunft gibt, über Namen, Rang und soziales Begehr. In meinen Zeiten auf den glatteren Parketts habe ich ja immerhin eins gelernt: Willst du gelten, mach dich nicht selten - und behalte die wichtigen Leute immer schön im Radar, ehe du mit den Nullen statt den Einsen in einer unentrinnbaren Ecke stehst. Zeig, was du hast, heißt es, darf auch gerne etwas mehr sein, wer fragt denn später schon danach. Du kamst als Fremder, heißt es ebenso, und gingst als Freund wichtiger Kontakt - und - schwupps - geht als nächstes die Karriere ab wie die Rakete, mit der ich sonst nur zur Arbeit fahre.
Auf Retropolis Travel kann man sich Entwürfe aus einer Future yet to come anschauen und mit dem eigenen (!) Namen versehen (falsche Telefonnummer und sonstige persönliche Datenschwärzung nur in der Disco gegenüber flüchtigen Zufallsbekannten). Ich schwanke noch und sollte vielleicht besser die Variante mit dem Mad Scientist wählen. Ich muß aber sagen: Als Sky Captain hat man mehr Schlag bei den Frauen.
So. Muß jetzt los. Erwachsen werden.
Sonntag, 2. August 2009
Natürlich wird das öde, die Fotos unspektakulärer Landpartien durch eintönige Landschaften zu betrachten. Nicht einmal ein Picknickkorb schmuggelt sich ins Bild oder ein kleines Paddelboot. So aber sind die endlosen Sommer unserer Internetkindheit, jeder Tag von lichtdurchfluteter Wärme in die stillstehende Zeit der Gleichförmigkeit verklebt. Auf dem Flohmarkt Bücher gekauft, George Grosz liefert den aktuellen Kommentar zur Lage, wie Hartz-IV-Karikaturen kommen die Zwischenkriegsskizzen daher, die wie aufplatzenden Bankenchefs, die Arbeitgeberpräsidenten und Unternehmensverbandsvorsitzenden. Feist wie einst - nur die Huren sind heutzutage nicht mehr so drall, vermute ich. Zurück durch den Park, dann weiter Richtung Osten, Felder schauen und Pferde und die schmucken Bauernhäuser mit ihren Säuleneingängen, als wären sie Paläste.
Brombeeren hängen am Wegesrand, an der Justizvollzugsanstalt warnt ein Schild am Zaun, daß jegliche Kontaktaufnahme verboten sei. Aber niemand ist dort zu sehen. Diesseits des Zauns, auf dem asphaltierten Platz vor dem Tor üben ein paar Menschen, Achten auf ihren Rollerblades zu fahren. Der Gegenwind ist stärker als sonst, mehr aber ist nicht passiert.
Samstag, 1. August 2009
Ganz Norddeutschland ist derzeit überschwemmt mit krabbelnden Glücksbringern, überall tummeln sich die munteren roten Käfer. War natürlich klar, daß sich in meine Wohnung ausgerechnet eines der selteneren schwarzen Exemplare des Adalia bipunctata flüchten mußte. Warum nicht gleich ein paar Totengräber (Necrophorus vespillo)? Manche dieser Arten kommen auch recht schön in Rot und Schwarz daher. Der dunkle Geselle hockte ein wenig lustlos auf einem offenbar blattlausfreien Blatt auf meinem Fensterbrett und hat, ich war nur mal eben im Weinkeller, inzwischen das Weite gesucht.
So ein Samstag ist mittlerweile dicht gepackt, denn seit ich irgendwo draußen am Rande der Stadt in den feuchten Sumpf- und Marschgebieten arbeiten muß, schaffe ich unter der Woche kaum noch sogenannte "Erledigungen". Großeinkauf im Viktualienmarkt, die Suche nach augenschmerzfreien Haushaltsartikeln, Informationsbesuche in der Konsumwarenwelt und einer Buchhandlung, Flohmarkt und ein kauforientierter Bummel durchs Karoviertel - und dann soll man noch mit Freunden Frühstücken, seit ihr denn Jeck? Wer soll sich um meinen Marienkäfer kümmern? Kein Wunder, daß der entweicht, wenn ich nicht nach Hause kehre, die Taschen voll mit Leckereien, die ich Stück für Stück auspacke, während er mir erwartungsvoll um die Beine streicht. Ich glaube, die Miauen auch, bin mir aber gerade nicht so sicher - wie schnell ist so ein Tier verwechselt!
Während ich also emsig Punkte von meiner Das ist zu tun-Liste streiche und andere hinzufüge, denke ich daran, wie schade es ist, wenn das Glück durchs Fenster entfleucht. Man hofft, er findet irgendwo einen Lausebengel, bei dem es ihm besser gefällt.
Sonntag, 26. Juli 2009
in der Asche der Mühsal erstickt waren,
fingen wieder an zu brennen,
sie entzündeten sich an diesem Abendrot.
(Georg Heym, "Der fünfte Oktober". 1912.)
Nachdem mich der Kater grußlos verlassen hat (geh, wo du wohnst, dir wein' ich garantiert nicht hinterher!) , das Hörvermögen zum Glück aber zurückgekehrt ist, machte mir nur die Luftversorgung Sorge. Selbige mit dem Fahrtwind in die Lungen drücken, ist ja mein neuestes Hobby, regelmäßige Leser werden meine unaufdringlich subtilen Andeutungen in Sachen Fahrradfahren bemerkt haben. In einer Viertelstunde unten am Fluß zu sein, ist einfach immer wieder ein Glück, stelle ich fest. Im Buschwerk verborgen die Dächer der alten Pumpenhäusschen, vorbei an den Schafen, eine Gedenkminute für Herrn Sakana, zusehen, wie das Licht langsam schwindet, die milde Abendluft geniessen und sich daran erinnern, daß man streng genommen immer noch mitten in der Stadt ist. Zu Hause dann die simplen Dinge: das letzte tatsächlich kalte Bier aus dem Kühlschrank und ein paar Johannisbeeren, eine kurze Auszeit also, ehe morgen wieder das ästhetische Stadium einer Kierkegaard-Woche beginnt. Die ironische Distanz.
Freitag, 24. Juli 2009
Es wird bald Leserbriefe geben, wann denn hier mal wieder ordentlich gejammert würde, nicht auszuhalten sei es, soviel Sommer kann doch gar nicht sein, als daß nicht irgendwo ein metallblutender Rostfleck zu beklagen wäre. Gemach, denn erst möchte ich noch einen Verbreitungskanal für meine Begeisterung eröffnen, die sich kürzlich über den Erwerb einer Sache einstellte. Die Firma Brooks, zu der ich in keinem vertraglichen Verhältnis stehe, produziert nämlich in Merry Old England, gleich hinter einem grünen Hügel an der Bahnlinie auf dem Weg nach Hogwarts, wie jedermann weiß sehr schöne und überdies ungeheuer praktische und bequeme Fahrradsättel. Daß man sich so ein Lederteil für untendrunter kauft, mag also als das Selbstverständlichste der Welt gelten. Mich hat darüber hinaus aber das ganze Drumherum der Geschichte sehr entzückt, einer Story wie man in der professionellen Produktbeziehungsbranche sagt, und ich möchte dafür das altbackene Marketenderwort vom "Einkaufserlebnis" benutzen.
Es beginnt schon mit einem Pappkarton mit einer ganz entzückenden Haptik - und wer sich nur ein wenig mit Pappe und Papier beschäftigt hat, weiß, wie groß die Unterschiede sein können und wie sehr sie einem auf den Tag schlagen können. Und auf die Laune erst! "Ein Pappkarton, ja vielen Dank, Herr Kid, das ist ja mal ein Ding und große Sache sowieso", höre ich bereits erstes spöttisches Murmeln in den hinteren Reihen unseres beliebten Internetzes. Gemach, faßt lieber kurz mal (aber nicht mit Fettfingern!) über die hübsche Prägung und streicht über das feste Material. Ja, genau: Das ist Liebe. Kein billiger, kunststoffkaschierter Hochglanz, kein schreiendes, computergeneriertes Foto, bei dem einen ein Sattel aus einem Meer von Flammen und Blitzen wie mit nacktem Hintern ins Gesicht springt - sondern eine ruhige und beruhigende Aura der Angemessenheit. Die setzt sich auch im Innern fort: keine fiese Blisterpackung, keine vakuumverschweißte Plastikfolie giften einem entgegen. Eine schöne Frau sollte einem nicht in Polyester entgegentreten, heißt es im Sprichwort, das käufliche Objet du désir der Warenwelt sollte ebenfalls verlockend und mit Wert gekleidet sein. Man sieht vor dem inneren Auge, wie Pat oder Mike oder Steve mit ihren von der Lederarbeit zerstochenen Fingern den Sattel und den Spannschlüssel auf den Pappträger befestigen, man sieht wie Fiona oder Myrtle den Brief mit den Unterlagen mit einer kleinen Kordel festzurren - fleißig und unablässig, wobei sie ab und zu einen Blick auf die Heidelandschaft vor dem Fesnter werfen und zur Teezeit selbstgebackene Kekse herumreichen. Nachmittags schlendert Seamus aus dem Büro herbei, unter dem Arm einen Packen des neuesten Brooks Bugle, der kleinen Firmenzeitung, die (und daran könnten sich wirklich viele Unternehmen mal ein Beispiel nehmen) ein hübsch gestalteter und zugleich unaufdringlicher Produktkatalog ist. In jeden Karton fliegt wie von Zauberhand ein Exemplar hinein, und dann kommt der kleine Donnie, der immer einen lustigen Spruch parat hat, wenn er nicht frech den neuesten Schlager pfeift, dabei Myrtle keck zuzwinkert und die fertigen Pakete holt. Da geht mein Sattel auf die Reise - und ich stehe später entzückt vor meinem Kauf, denke Es gibt sie noch, die guten Dinge endlich fühlt man sich als Kunde nicht nur als Erwerber irgendeines für den schnellen Verbrauch gemachten Produkts, sondern einer dauerhaften Sache, eines wirklichen Dings, ach was: eines echten, handberührten Gegenstands.
Die Webseite der Firma ist noch nicht ganz fertig, aber im Kundenforum herrscht ein angenehmer Ton. Fragen und Kritik zur Preisgestaltung, Verarbeitung, die Produktion in China (nur die Sättel werden in England hergestellt) werden freundlich und reflektiert beantwortet: We accept all, but coarse language. Man hat das Gefühl, hier hört eine Firma tatsächlich zu und knallt weder ihr Produkt noch ihr Marktgeplauder lieblos auf die Theke.
Ja, ich weiß. Auch sie wollen nur an mein Portemonnaie. Aber anders als manche Mitmenschen geben sie einem ein gutes Gefühl dabei. Und letzten Endes geht es auch beim Kaufen um Emotion. Man will sich doch auch ein wenig in den frisch in den Haushalt aufgenommenen Gegenstand verlieben können, wenn vielleicht nicht gleich in jeden Küchenschwamm. Und wenn man überlegt, daß so ein Sattel nicht viel mehr kostet als ein bei Jung und Junggeblieben sehr beliebter, in Vietnam aus schlichtem Segeltuch und einer Gummisohle zusammengeklebter und dann zum Kult konvertierter Turnschuh... ach, daran denkt man besser nicht.
Mittwoch, 22. Juli 2009
Gestern im Zeitschriftenladen wieder Distinktionsgewinn verbuchen können, weil eine junge, ringelbestrumpfte Emo-Punkette begeistert auf das Magazin in meiner Hand starrte, das sie selbst zuvor nicht finden konnte. Aber bitte, gerne doch, da drüben der Stapel. Der kanadische Modedesigner Todd Lynn erzählt darin vom Styling für das umwerfende This Is Love-Video von Polly Jean Harvey. Wir müssen uns erinnern, denn die bekannte Videoabspielstation im Internet hält das Werk ohne lizenzrechtliche Sonderanweisung nicht mehr vorrätig. Der weiße, spack auf die Haut genähte Anzug. PJH, die immer wenn man sich gerade Sorgen machte (du darfst nicht vergessen/zu essen), mit verblüffenden Energieeruptionen alle und alles von der Bühne fegt, spielt den Reigen der Rock'n'Roll-Posen durch, ganz toll, man möchte sofort Liebesbriefe schreiben und sicherheitshalber doch hinter dem Kaminsims verborgen halten. This Is Love, ganz genau.
Die reine unzensierte Energie strömt im Leben leider nur selten, vielleicht zum Glück aber zugleich, es streifte leicht ja die Grenzen des Zumutbaren, erwartet man beispielsweise von einer U-Bahn-Fahrt doch Behaglichkeit im Gemeinklang mit dem Nebenmann und keine unverlangte Brachialverzückung. Polly Jean, wie manche sie vertraulich nennen, scheut ja nicht Auftritte wie diesen (und jeder kennt da noch verblüffendere), den messerschmalen Ritt auf einer Grenze, bei dem man immerfort denkt, gleich kippt es aber! Aber dann ist man doch nur wieder verzückt. Eine Kunst, und wir haben da noch gar nicht von Gender und romantischer Ironie und pop-kulturellen Referenzsystemen gesprochen. Sie macht es, so scheint es, nicht einfach, aber dann doch - während zu viel im Leben eben nur nach Sonderanweisung geschieht.
Die verzückte Kollegin, die am Wochende einen berühmten Schauspieler kennenlernen durfte, jedenfalls schwebt wie auf skandinavischen Schmetterlingsflügeln durch unsere kleine Fabrikationshalle, und selbst ich, der wandelnde Finger in schwärenden Wunden, verkniff mir eine Bemerkung über den erstaunlich schräggestellten Zahnstand des smarten Herrn - zumal ich da gerade reden müßte. Man sollte die schönen Momente genießen, denn später wird man dies die Vorkriegszeit nennen, nicht die Zeit, in der die Arbeit überhaupt nur noch nach Sonderanweisung zugeteilt wird. Geredet wird ja ohnehin meistens ohne weitere Weisung, das ist eher ein Reflex und im sozialvirtuellen Wirkungskreis oft sogar erwünscht. Man könnte also zusammenfassen: Die Schnute nicht verziehen, Zähne zeigen, Posen nicht über Gebühr ernst nehmen, viel Kunst machen und noch mehr Liebe, regelmäßig Essen nicht vergessen und für die schönen Momente nicht auf Sonderanweisung warten. This Is Love.
Montag, 20. Juli 2009
Zusammensitzen, Balkongrillen, Helden aus der Vergangenheit schälen. Kurzes Verschnaufen auf der Auswechselbank. Vor lauter Lücken den Wald nicht sehen. Dadaistische Sätze, so denke ich, sollte man einfach, drei, vier Schraubenwindungen weiterdrehen, dann ab an die Zeitung und warten, bis die Fruchblase einer neuen Bewegung platzt. Wir hören dazu besser The Faint, "Birth": Wet like a cherry/In the bloodbath of birth.
Am nächsten Tag dann feststellen, daß die Reparatur meines Schallplattenspielers ungeahnt vertrackt ist, das Wetter aber unvermutet reizvoll: Rausstrampeln also zur großen Runde, den stählernen Körper (vom Drahtesel) durch den Gegenwind schieben, Mobilisierungsemphase, ich brauche mehr Luft auf der Haut, kühlen Wind und das Wispern der singenden Drähte. Ich zähle die Kilometersteine, die Brücken am Fluß, dann die Kräne, die Schiffe und dann gar nichts mehr. Hinterm Musicalzelt proben Musiker, rostige Tore, verlorene Boote, nichts regt sich hinter der staubigen Imbißbude.
Am Ufer finde ich die abgestreifte Haut einer Schlange. Wandlungen. Sich neu machen, wachsen, einer bloß weiteren Wahrheit entgegen, eine andere Größe braucht andere Schuh'. Mit der frischen Haut in der Sonne bleiben, sich durchwärmen, geschützt bleiben. Durchatmen.
In der Süddeutschen lese ich die Traueranzeige (es nicht so, als würde ich immerzu die Traueranzeigen lesen), später die Nachrufe. Die radikalen Positionen, alles für die Kunst, zugespitzt, sich selbst entgrenzend, verschwendend, vielleicht einmal zu häufig auf die nächste Häutung gehofft. Auf dem Mond kann man vielleicht laufen, aber was wird mit dem Atmen sein.
>>> Nachrufe auf Dash Snow:
Art-Magazin
Die Zeit
Spiegel Online
Contemporary Fine Arts
Montag, 13. Juli 2009
My garments all were dank;
Sure I had drunken in my dreams,
And still my body drank.
(Samuel Taylor Coleridge,
"The Rime of the Ancient Mariner". 1798.)
Einen wilden Mann kann man nicht halten, sang schon Bernadette La Hengst, und so schwang ich mich trotz schwarzer Wolken am Himmel aufs Rad, die Ballade vom Ancient Mariner auf den Lippen wie Salzgeschmack, ewig muß ich wandern, ein verbissen Getriebener, wenn auch nur mit Nabenschaltung.
Immer weiter nach Süden, über die kleinen Brücken, über die große Brücke, hinein in die halbstillen Gewerbegebiete links und rechts des Freihafens, dort wo sich Recyclingbetriebe und Baustoffhandlungen aufgestellt haben. An den Rändern der sonntagsberuhigten Piste stehen polnische Trucks aufgereiht, die Fahrer, Stanislaw und Pawel, so weisen sie die Beschriftungen ihrer Fahrerkabinen aus, haben sich mit Klappstühlen und einem Grill um einen Laster versammelt, spielen Karten, trinken ihr Bier und sehen das Wetter nicht, das mir folgt wie ein Schatten.
Irgendwann, irgendwo - meine veraltete Straßenkarte zeigt Wege, die es längst nicht mehr gibt - bricht der Regen los, steigert sich vom angenehmen Tropfen in einen unermüdlich unerbittlichen Wasserfall, die schwarze Wolke über mir grinst, ich rufe: "Selber!" und stelle den Kragen meiner Jacke hoch, die längst schon naß und dunkel ist. Zurück sind's Kilometer, nach vorne auch, also weiter, immer weiter, es muß ja immer weitergehen. Was würde Rüdiger Nehberg tun? denke ich, während über mir ein sehr großer Vogel kreist, ein Albatros vielleicht, der Racheengel seines vor Jahrhunderten aus Übermut getöteten Gefährten.
I looked to heaven, and tried to pray;
But or ever a prayer had gusht,
A wicked whisper came, and made
My heart as dry as dust.
Irgendwann lande ich in einem Wendehammer, ein einzelner Wassertropfen bahnt sich seinen Weg meinen Rücken hinunter, während ich die sich langsam auflösende Karte studiere. Von wegen Soundso-Twiete, die rechtsrum auf die Parallelstraße führt. Das war vielleicht mal, damals, als fleißige Skriptoren in irgendeinem Mittelalterkloster diesen Stadtplan zeichneten. Nun starren mit rostigen Eisenketten versperrte Tore mir abweisender entgegen als eine verärgerte Zufallsbekanntschaft. Irgendwo bölkt höhnisch ein Albatros - oder was immer auch Albatrosse machen, wenn sie höhnisch sein wollen. "Man will nicht in den Wald hineinradeln und dort eine Lücke haben!" rufe ich, weil ich diesen Satz neulich irgendwo aufgeschnappt und als sehr modern empfunden hatte. Ich wende das bockige Rad, water, water everywhere, aber kein Wind in den Segeln, und lege den neuen Kurs fest.
Gleich hinter den Elbbrücken klart der Himmel wieder auf, das Werk war getan, meine Äquatortaufe absolviert. Meine Haare sind naß, meine Klamotten sind naß, in meinem Mundwinkel klebt ein kleiner Fisch. Die Laune jedoch bleibt unverklärt. Der Herbst ist da, Freunde. Jetzt kommt die schöne Zeit.
Sonntag, 12. Juli 2009
Wie ich gestern feststellen mußte, bin ich nicht Deutschlands bekanntester Blogger, diese Stelle ist nun offiziell vergeben, aber dafür, so dachte ich im Stillen, bekanntlich Deutschlands ausgelassenster. Heute nämlich fühlte ich mich irgendwann wie Carter the unstoppable Se Fun-Machine, als meinen Weg Menschen mit roten Irokesen, blauen Bobs und pinken Planet-Claire-Frisuren säumten; ach, so schien mir erst, da war wohl gestern etwas im Absinth. Von vorbeifahrenden Trucks herab schallte es "Anton! Anton!" und irgendwas mit Tirol. Die sind ja bekanntlich lustig - und auch froh - und so wollte ich, dem bekannten Ausruf einer noch bekannteren Bloggerin folgend schon "Hossa!" rufen, hielt mich aber im letzten Moment zurück. Nachher wird man erkannt, dann heißt es wieder in Blogs, da stand auch so ein Man in Black mit seiner kleinen Kamera und verzog keine Miene - bis er plötzlich Hossa! rief, und wie albern ist der das denn? So albern wie man kann, schätze ich. Hamburger, dachte ich, des Denkens noch nicht müde, da hätte ich aber auch im Rheinland bleiben können, wenn ihr hier so was macht. Immer wieder erstaunlich, diese Norddeutschen. Tun so als hätten sie ihren unbefangenen Humor auf irgendeiner von der Welt abgeschnittenen Hallig zurückgelassen, aber kaum gibt man ihnen schlechte Musik, schlechte Getränke und eine schlechtsitzende Perücke, wird gebützt und gruppengekuschelt, gegröhlt und auf Tischen getanzt, daß man sich im Kalender verirrt glaubt. "Norddeutsch tun, aber La-Paloma-pfeifen, wa!" rief ich empört, aber inhaltlich völlig unsinnig, da war wohl was im Absinth, aber egal, es geht ja heutzutage nicht darum, eine sinnvolle Meinung zu haben, sondern überhaupt eine und diese auch noch lautstark zu verkünden.
So war ich auch gleich gut Freund mit ein paar Aloha-Blumenketten-behangenen Deerns, die mich zum Schunkeln aufforderten. Die waren - wir sprechen von nachmittags um fünf - schon so promillebeschleunigt, daß man ihnen locker ein paar Mobilfunkverträge hätte andrehen können. Aber wer locker verkaufen will, muß selber erstmal locker werden und nicht so verbissen sein, also sagte ich, nennt mich den Tiger interessierte ich mich für das perückenbunte Getränk in ihrer Mitnehmflasche (Frauen und ihre mitgeführten Getränkeflaschen, ein weites Feld). Was soll ich sagen? Bald spürte ich den Don Pascal in mir, das alte Drängen. Mensch, dachte ich, schon etwas heiter im Gemüt, ich kann es doch noch, da geht doch noch was, ich hab's doch noch drauf, die alten Zeiten sind doch lange nicht passé! Yeah! gröhlten die Görls, Aloha! fraternisierte ich, das ist doch Rhythmus, wo man mitmuß, dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf die Perücke usw. ff. Meine Fresse.
Die U-Bahn später sah aus wie die Auswechselbank nach der zweiten Verlängerung im Pokalfinale. Ausgepumpte, weggetretene Gestalten, Flaschen rollten klong, klong, klong in den Kurven hin und her - und ich fürchte, das geht noch so die ganze Nacht.