Montag, 22. August 2011
Das Wochenende war mit weiterer Arbeit, die ja immer auf Arbeit folgt, gefüllt, lockte gleichzeitig aber mit schönem Wetter, so daß ich dieses Filmfest Filmfest sein ließ (ein dunkles Kino mit sensorischer Deprivation wäre die Alternative gewesen, "Perfect Sense" nämlich von David MacKenzie, der auch den großartigen "Young Adam" mit Ewan McGregor und Tilda Swindon gemacht hat.) Ich glaube, der Film ist ganz hervorragend, aber als jemand, der sein halbes Arbeitsleben in düsteren Kellerlabors verbringt, war mir einfach nach mehr Licht und Luft und Leichtigkeit Sonne. Also Karten adé, dafür lieber Schanzenfest, gemütliches Schlendern, Musik, Essen und Leute gucken.
In den Berichten der Großmedien schien in meinen Augen fast ein wenig Bedauern mitzuklingen, daß es sich bei dem (erwarteten?) "Krawall" (man beachte den Titel) "bloß" um eine eingeschlagene Schaufensterscheibe und ein leicht zu groß geratenes Feuer an der Roten Flora handelte. Dabei haben viele das Fest als betont friedlich und frei von aggressiven Stimmungen erlebt. Während vor Jahren unter dem CDU-Ahlhaus-Senat bereits tagsüber Polizeitruppen in martialischer Kampfmontur harmlose Familien und Flohmarktbesucher einschüchterten und latent aggressive Stimmung verbreiteten, hielten sich die Uniformierten diesmal sehr wohltuend und lobenswert im Hintergrund. Dieses Jahr also mehr Entspannung. Nicht einmal gekauft habe ich was, dafür bekam ich ein paar Bücher geschenkt, darunter Herbert Achternbuschs Hundstage, eine Erstausgabe von Roda Roda von 1927 und die Autobiografie von Isabella Rossellini. Was andere halt nicht haben wollen. Zu einem je nach Windrichtung und Lautstärke zusammengestellten Mix aus Vegan-Liberation-Punk, Aggro-Hardcore und Rave-Musik, der aus verschiedenen Richtungen herüberwehte, fast sorglos draußen gesessen, gegessen, vergessen (z.B. rechtzeitig eine Jacke überzuziehen), Gespräche geführt. Zugesehen, wie sich der Himmel über der Roten Flora langsam Telekomrosa färbt.
Was nicht mal Berlin hat, baute Hamburg über Nacht: eine Mauer aus Pappkartons warnte auf der Zufahrtstraße Auswärtige vor dem von der Polizei ausgerufenen "Gefahrengebiet". Doch während im Straßenverkehr der Hansestadt sonst jede Gelegenheit zum entnervten Gehupe genutzt wird, umfuhren die Autos das Hindernis friedlich und umstandslos, wie hier zu sehen ist. Diese Momente, wenn Stadt plötzlich möglich ist.
Mittwoch, 20. Juli 2011
Seit ich in die Glockengießerei versetzt wurde, geht es den ganzen Tag nur dong-dong-dong, da hilft auch die Ehrenbezeichnung nichts, daß ich eigentlich nur die Formen und Gußteile begutachten und testen und meine Meinung dazu äußern soll. Dong-dong-dong dröhnt es durch die verrußte, mit giftigen Dämpfen gefüllte Halle. Müde öffne ich Schublade um Schublade, schiebe meine rollende Werkstadt von Ecke zu Ecke, klopfe mit einem Kugelschreiber gegen kleine und große Formen, klöppel ein wenig an Glocken, ohne zu wissen, um welche Melodie es eigentlich geht.
Abends dann knieweiches Schlurfen zurück zu meiner Schlafstatt, man sollte etwas darüber schreiben, denke ich, finde aber nur einen kraftlosen Gedanken. Bitte, adoptiert mich, wimmere ich. Wir basteln Flugzeuge aus Papier, machen den Tag lang nur Liebe, malen uns Träume und wechseln kein einziges böses Wort.
Freitag, 1. Juli 2011
and in a moment I am gone.
(New Order, "World (Price Of Love)")
Wechselwetter, 16 Grad oder gefühlte 17. Wandernde Grauzone, die einzelne Stadtteile beschattet, mit Regen wäscht, dann bloßlegt, wie einen nackten Hintern in der Sonne. Sich zurechtnieseln, zu kragenklappenden Menschen stellen, die Stirn an eine Hauswand legen, bis uns irgendwann ein Autobus einsammelt. Erster Julitag, ein Sommer im Frühherbst, ich hole meine sorgsam vom letzten Jahr gehorteten Blätter aus dem Keller, verteile sie auf den Wegen, lege einige Kastanien dazu. Im Park lungern Menschen und testen verstohlen, ob ihr Atem kleine Wölkchen bildet.
Die Hausfrau unten an den Aschetonnen blinzelt müde in den Himmel und wertet das Wetter. Das wird nix, sind wir uns einig. Es war grau, es ist grau, es wird grausam bleiben.
Mittwoch, 29. Juni 2011
Gerade geht auch alles immer schneller. Es liegt so ein schnaufendes Stampfen in der Luft, als hinge man zwischen großen Zahnrädern an einer dampfbetriebenen Pleuelstange, so hilflos wie an einem Kleiderbügel, während man auf und ab und rundherumgeschleudert wird. Zisch! Pfff! Zisch! Pfff! - so geht das hier den ganzen Tag. Zisch! Pff! Zisch! Pfff! Herr Kid! bellt es durchs Telefon, Panik im Maschinenraum, während ich gerade hochgeschnellt werde und hilflos an der Decke zapple, die Ärmel hochgerutscht, die Hosenbeine hochgerutscht, die Sockenhalter entblößt, die mageren Arme, die nicht weit genug hinabreichen zum hitzestrahlenden Telefon. Bis ich wieder hinuntergestoßen werde, wie ein abgeschossener Nagel aus einer Druckluftpistole, auf dem schwer ächzenden Drehstuhl lande, der empört wie ein bockendes Wildpferd den Rücken krümmt, mich wieder hinaufwirft, wo die Maschine schon wieder an meine Gurgel faßt, schnaufend und mit ölverschmierten Zangen.
Dabei könnte ich längst schon aufsitzen, Auf Wiedersehen! sagen, freundlich in die Runde nicken, mich an den Strand setzen, auf einen Rettungsschirm warten, weil pünktlich zum Feierabend der große Regen kommt.
Sonntag, 26. Juni 2011
Jetzt, also im direkten Vergleich, kommt mir ein Gedanke, warum dieser Miniapfel, den ich billig auf dem Flohmarkt gekauft habe, nicht so leistungsfähig ist, wie das Original, von dem er - das muß man zugeben - täuschend echt abgekupfert wurde. Ich meine, da wäre doch jeder drauf reingefallen!
Zuerst dachte ich, er sei einfach nur kaputt. Jetzt aber habe ich Zweifel, ob es sich wirklich um eine lizensierte Fertigung, ein Sondermodell im Öko-Look oder schlicht um eine sehr, sehr dreiste Kopie handelt.
Dienstag, 21. Juni 2011
Mein Roman Mein Kännchen ist draußen, eine grotesk-anmutige Farce über das Leben eines alternden Erotomanen an der Südküste einer bekannten deutschen Großstadt, entstand in zahlreichen erinnerungsreifen lauen Abenden im mit allerlei Reizen gefüllten Vorsommer, der meinen alten Bekannten T. und mich oft genug in die Zeit nach Mitternacht warf. Man kennt das: Man redet, trinkt etwas, lungert herum wie zerknüllte Kippen in einer Jackentasche, redet wieder was und kommt den großen Geheimnissen des Lebens und dessen Gefühl auf die Spur.
Ich also, sage ich in dieser Zeit dem T., und versuche in Schönschrift ein paar Zeilen zu schreiben, wo eigentlich Seiten um Seiten um Seiten folgen sollten. "Astra ist auch ok", höre ich den T., der mir nicht ganz bei der Sache zu sein scheint. "Hören wir zu?" frage ich. "Natürlich," sagt er, "aber die nächste Runde geht auf dich."
"Guck mal die Ische", ruft er, setzt nach mit einem dreifachen "Wow! Wow! Wow!" Ich lausche angestrengt, denn gerade hatte ich noch einen Gedanken, der sich nun aber wie auf trippelnden Freiersfüßen an der Straßenecke davonmacht. Der T. winkt irgendwohin, ich mache etwas genervt so eine Art von Geräusch, er so: "Was denn?!" Ich fahre fort in meiner Rede an niemanden. "Man muß es mal so sehen", sage ich. "Da ist so ein Gefühl. Du weißt doch", wende ich mich direkt an den T., "was das ist, Gefühl." Klar, sagt der. Gefühl. Logo. Haben wir doch alle mal, sagt er und nimmt noch einen Schluck.
"Boah", höre ich ihn, wie von Ferne. Ob das noch ein Gürtel sei oder schon ein Rock, es sei ja noch nicht einmal Mai. Himmel, denke ich, jetzt geht man einmal aus. Vorstadt, ruft er vergnügt oder verächtlich, ich kann das nicht immer unterscheiden. Die kommt aus der Vorstadt. Ich sage, Hallo, also so ein streng-ermahnendes "Hallooo", sind wir heute wieder 16, was ist los, ich wollte doch was sagen.
"Klar", sagt der T. "Sag, Mann." Ich hebe also an und eine große Grube aus, stecke sozusagen den Claim ab, den umzugraben ich mir vorgenommen habe. Ein fetter Schlitten röhrt vorbei, eine Hand hängt daußen, die Finger zu Teufelshörnern geformt, der T. kichert, sagt: "'Tschuldigung, daß ich unterbreche, aber..." Ich denke, aber, aber, wasdennaber, ich habe ja noch gar nichts gesagt. "SPACELOOORD, MOTHERFUKKER!" brüllt der T. ganz laut, schwenkt sein Bier dem Wagen hinterher und bricht in Gelächter aus. "Geile Karre!" Ich mache ein Geräusch, vergnügt oder verächtlich, ich kann das nicht immer unterscheiden.
"Ok", sagt der T. "Du wolltest doch was sagen." Schon gut, sage ich mit einem Seufzer. "Laß uns mal weitergehen. Wird eh bald alles abgerissen."
Sonntag, 19. Juni 2011
Jetzt hätte ich beim Rausschauen aus dem Fenster fast eine Herbstattacke bekommen.
(die gute Nachricht: In sechs Wochen kommt schon wieder die neue Herbstmode.)
Montag, 6. Juni 2011
Vor der Sommerpause noch einmal Bewegungsprogramm. Musik zur Nacht, flirrende Lichter, Mädchen in engen Sixties-Kleidern, schwubbernder, krächzender Soul unten am Hafen und Wehmut im Herzen. Im Goldenen Salon läuft Beatprogramm, das Publikum ist sehr jung, die Ponys sehr gerade, die Kleider kürzer. Hier wird die Hoffnung herbeigetanzt: Bei "I Saw Her Standing There" von der Gruppe aus Liverpool ist die Tanzfläche schweißtreibend voll. Diese Jugend ist nicht verloren.
Nächster Tag dann schneller als die Sonne zum Frühstück nach Eimsbüttel, es ist bereits unangenehm heiß, als ich ankomme. Auf dem Flohmarkt (jetzt also: Eppendorf, man muß es leider so sagen) schleicht der Chefredakteur einer großen Hamburger Wochenzeitung in dicker Cordjacke durch die sengende Hitze. Kurz darauf sehe ich noch Deutschlands großen Kameramann mit schicker Sonnenbrille und verweile wenig später kurz vor dem Geburtshaus von Jan Delay, das eine illustre Geschichte aufweist und überhaupt sehr schön ist. Man sollte geführte Touren anbieten: Hamburg, wo man kennt. Auf den glühenden Tischen hingegen finde ich nichts, bemerkenswert viel Plunder hat den Weg aus den Kellern und Abseiten nach draußen in die Sonne gefunden. Es muß alles da liegen bleiben.
Sonntag, 5. Juni 2011
#1 Österreicher 1 - Marmeladinger 2, das soll wohl die Ordnung der Dinge darstellen. Die Tagesereignisse ziehen nach ihren ganz ähnlichen gerechtigkeitsfernen Gesetzen vorbei. Am Ende watet man wie ein Metzger im Blut, giert nach einer Fluppe und dem Heulen der Fabriksirene, geht hungrig hinunter zum metallenen Tor, wo mir Frauen Gurken schenken. Ich bin doch nicht Jeck, sage ich, da pfeife ich doch drauf. Der Tag indes liegt da wie heiße Rotze im Tee.
#2 Alles ein aufgewärmter Schlotz. Ich sage, ich esse nichts, ich trinke nichts, ich atme eine Erinnerung. Hinter den Kulissen malt eine unverfroren an der nächsten Fälschung, ich tippe ihr auf die Schulter und sage, das kenne ich nun schon, diese Geschichten, gleich klimpern Sie mit den Augen, lachen eine Spur zu laut, malen ein falsches Datum darunter oder erklären, da sei nix, ich würde mich täuschen, wo ich doch ganz genau sehe, wer hier der Täuscher ist.
#3 Alles bloß annagen. Die Momente festhalten. Manchmal, so erkläre ich später, sei es mir fast schon zu viel. Weil ich denke, die meinen das womöglich wirklich ernst, an den Stellen, wo sie mich aufziehen könnten oder einen Hintergedanken haben. Man muß auch das aushalten können. Man muß das auch aushalten können. Man muß da ganz tapfer sein.
Montag, 2. Mai 2011
Den Maibaum umtanzt, der heuer ausschaut wie eine vergessene Weihnachtsdekoration und etwas welk über der Reling hängt. Wellenglitzern in der Abendsonne (das kann nur Hamburg, Baby, sag ich so zu einer Unbekannten), scharf geschnittene Sixties-Anzüge und der dringende Wunsch, nach Jahren mal wieder eine Zigarette zu rauchen. Die trotzig ertragenen Widrigkeiten. Tanzen gehen.
Die alten Geschichten sind die alten Geschichten. Und immer noch eine wertvolle Lektion.
>>> Geräusch des Tages: Baby, It's You