Dienstag, 13. April 2004


Ästhetik im Alltag

Soviel Zeit muß sein:

"Haben Sie die Nabelschnüre abgetrennt?" erkundigte sich Jacquemort noch. "Binden Sie sie schön knapp ab."
"Ich habe Schleifchen gemacht", sagte das Kindermädchen, "das hält genauso gut und sieht besser aus."

(Boris Vian. Der Herzausreißer, 1953.)


 



Pulp fiction

Warum meine Nächte so aufregend sind?
Nun, abends lese ich das ganz harte Zeug.

Ich besitze selbst so ein paar dieser Schätze. "Summer in Sodom", etwa
("A daring novel of two handsome young men and their strange passion for each other!") oder "Blonde Dynamite" ("An intimate view of what some co-eds must go through to get educated").


Ganz große Literatur natürlich und faktisch allesamt auf authentisch wahren Tatsachenbegebenheiten beruhend. I Married a Dead Man ist so ein lebensnaher Fall, nach allem was man so hört. Ich denke, Jet Set Stud könnte hingegen mein Leben umschreiben. Aber Achtung: Wer Narco Nympho sagt, ist wahrscheinlich bald ein Doomed Sinner und endet im House of Perversion.


 


Donnerstag, 8. April 2004


Gab weder Regeln, Hoffnung, Gnade...




















Eines des schönsten Kinderbücher für Erwachsene der letzten Jahre ist sicher Wenn Gwendolin nachts schlafen ging aus dem sowieso ganz großartigen Antje-Kunstmann-Verlag. Susanne Straßer und Helmut Krausser beschreiben eine Serie grotesker Todesfälle im Spielzeugzimmer. Ein klassischer Topos also, geschildert in schrägen Reimen und allerliebsten Collagen. Ehemals teuer, nun in der Verramsche und allen groß- und kleingebliebenen Ungeistern schwerstens ans Herz gelegt.

Mit Helmut Krausser konnte ich ja nie viel anfangen. Seine Sprache blieb mir irgendwie zu sperrig, seine Themen zu "aus der Luft gepflückt", um nicht zu sagen... um nicht zu sagen anbiedernd und effektheischerisch. Das klingt nach einem Verriss, soll es aber gar nicht sein. Der Helmut und ich, wir haben einfach keinen Draht zu einander. Schmerznovelle hin oder her. Das macht uns beiden aber nichts. Der Helmut verkauft weiter viele Bücher, und mir geht es auch gut.

(Susanne Straßer/Helmut Krausser. Wenn Gwendolin nachts schlafen ging. München: Antje Kunstmann Verlag, 2002.)

Ex Libris | von kid37 um 23:36h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 31. März 2004


Der Boulevard bebt

"Alle sogenannten sittlichen Bande waren aufgelöst. Eine Welle des Lasters, der Pornographie und Prostitution lief durch das ganze Land. "Je m'en fous", sagte ein jeder, "ick will mir endlich mal wieder amüsieren". Der Shimmy war die große Mode. [...]
Die Stadt war dunkel, kalt und voller Gerüchte. Ihre Straßen wurden wilde Schluchten voll Totschlag und Kokainhandeln, ihre neuen Wahrzeichen die Stahlrute und das blutige, abgebrochene Stuhlbein."

(George Grosz über die Zeit der Weimarer Republik. Aus: Ein kleines Ja und ein großes Nein, 1974.)

Ex Libris | von kid37 um 14:24h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 26. März 2004


Burn, Baby, burn!

And if I could BE who you wanted
If I could BE who you wanted,
All the time, all the time...
(Radiohead, "Fake Plastic Trees")


Everyone's Burning

Hieße der Held nicht ausgerechnet so wie er heißt, ich hätte das Buch natürlich längst. So aber bleibt Ian Spiegelmans Everyone's Burning erst einmal auf der Begehrliste.

"X explores a world that is a slave to its own secrets, where freedom exists only in a 911 call from the brink of self-annihilation."

Dabei kann ich eines mit Sicherheit sagen, vor allem in diesem Zusammenhang. Ein Notruf, sei es 911 oder 110, ist nicht so leicht abgesetzt, wie es scheint. Nicht einmal, wenn draußen eine entfesselte Macht versucht, die Türe einzutreten, hinter die man sich verschanzt hat.
Nicht einmal, wenn man weiß, daß die Wände nur aus Rigips bestehen.


Die verbotene Zone.

Ganz unten in ihrer Büchse hatte Pandora noch die Hoffnung.
Ihr habt das falsch verstanden. Das aber war die größte und schrecklichste Plage.


 


Samstag, 20. März 2004


13

Ich neige ja zum oberflächlichen Schwadronieren. Nachschub für allerlei Nachtbetrachtungen liefert mir dabei die bunte Welt der Magazine. Ein gutes Magazin ist ein Fenster zur Welt und erspart so manche Reise. Oder weckt das Fernweh.

Seit Jugendjahren betrachte ich die gutsortierte Bahnhofsbuchhandlung als eine Art extendiertes Wohnzimmer. Am Wochenende blätter ich mich gerne quer durch die Welt. Und es gibt immer was zu entdecken. Neulich war es das "Cheerleader"-Special-Interest-Magazin. Gefüllt mit Hinweisen auf Wettbewerbe und den neuesten Choreographien aus Übersee. Heute fand ich ein ganz großes Magazin, in dem japanische Mädchen in den Kostümen ihrer Lieblingsmangas durchfotografiert waren. Kommt auf die Begehrliste, der Preis ist allerdings exorbitant für 48 oder so Seiten.

Das neue "Quest" hingegen wartet mit einer angenehm düsteren Ausgabe auf. Die Nr. 13 macht sich sozusagen selbst zum numerologischen Thema. Gewohnt schöne Fotostrecken, Gothic-Culture, ein Interview mit Gottfried Helnwein ("Kunst ist für mich eine Waffe, mit der ich zurückschlagen kann."), Arnold Schönberg (12Töner! 13! Got it?), ein alter Vergnügungspark in der Ex-DDR. Daniel Josefsohn, in den 90ern der Shooting-Star in der deutschen Fotoszene und mit seiner MTV-Strecke berühmt geworden, darf auch wieder mal... und dazu das übliche Gutschi, Putschi und Mutschi. Ein paar Texte nerven. Nullsätze wie "In Deutschland flüchten immer mehr Menschen in paranormale Glaubenswelten, um der kalten Realität zu entkommen", darf man höchstens in blogs schreiben. Aussagen wie "Der Glaube an die real existierende Allmacht des Teufels und die Macht des Bösen fand im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung ihr jähes Ende. Die dadurch entstandene Leere wurde von der damaligen Kunstwelt (Hieronymus Bosch u.v.a.) mit Genuss gefüllt", ist schon aus mehreren Gründen falsch. Bosch lebte von ca. 1450 - 1516 und hat weder was mit der Aufklärung noch mit dem 18. Jahrhundert zu tun.

Das Teil ist aber trotzdem ein Vergnügen auf dem coffee table. Zum Cappuccino.


 



Nox

Es ist die Nacht des 9. November 1989. Das Fernsehen der DDR überträgt eine Pressekonferenz. Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, verliest stockend eine Mitteilung des DDR-Ministerrates. Es herrscht Verblüffung, dann Tumult. "Wann?" fragt ein Journalist.
"Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich."

Eine junge Frau tötet einen Mann. Sucht die Ader in seinem Hals und schneidet ihm mit einem Messer die Kehle durch.
Den sterbenden Mann läßt sie zurück in ihrer Wohnung zurück und stürzt hinaus in das Dunkel einer Stadt, die am Morgen eine ganz andere sein wird.

Zwei Ereignisse, seltsam unverbunden zunächst, bedingen einander, werden eins. In der Nacht, als die Mauer fällt, streift die junge Mörderin durch Berlin. Verfolgt von einem ostdeutschen Schäferhund. Einem der berüchtigten, scharfgemachten Tiere, die den Todesstreifen bewachen.

Thomas Hettche ist einer der wenigen westdeutschen Autoren, die sich literarisch mit dem Fall der Mauer und dem Thema "1989" auseinandergesetzt haben. Sein Roman Nox (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995) nähert sich in einer merkwürdig kalten, dokumentarischen Sprache einem hochemotionalen Thema. Seine Figuren jagt er durch eine in mehrerer Hinsicht historischen deutschen Nacht, in der die Zeit aber stillzustehen scheint.

Das Personal ist bizarr. Ein Geräuschemacher, ein Pathologe, die Mörderin, eine pseudohedonistische Gruppe, die sich die Zeit mit Kokain, anonymen Sex und sadomasochistischen Ritualen vertreibt. Die Orte "erlesen": Die berühmte medizinhistorische Sammlung Virchow mit ihren "Monstren", ein Schiff, das auf dem Landwehrkanal Richtung Mauer fährt, Parties, Hinterzimmer von Kneipen, sterile Wohnungen.

Ähnlich gequält aber wirkt auf Dauer die betont sachliche Sprache, die konstruierten Bilder. Da ist viel von Schnitten die Rede. Die Mauer als Schnitt, die Öffnung als solcher. Ein zerschnittenes Land teilt sich die sprachlichen Bilder mit dem Messer, das die Kehle durchtrennt, mit den Sektionssälen der Charité, mit einem Mann, dessen Haut durch S/M-Praktiken zerschnitten und mit Zeichen übersäht ist.

Die symbolischen Handlungen folgen teilweise so platt aufeinander, daß der literarische Taschenspielertrick nicht mehr zu übersehen ist. Einmal folgt auf die Beschreibung einer schmerzhaften Penetration ("Die kühle Betäubung des Pulvers nahm den Schmerz nicht, als er in sie eindrang, sondern verstärkte ihn noch...") nur wenige Seiten später schon die symbolische Paralelle. Die Grenze öffnet sich, die DDR-Bürger strömen in die Stadt, "drängen" in den Westen: "Der Schmerz brannte im Körper der Stadt, und ihre Augen zuckten hinter den geschlossenen Lidern im Schlaf, während das Schiff langsam immer weiter in sie hineinglitt."

Derlei Konstrukt aus dem Writer's Workshop zerstört leider immer wieder den Eindruck, man hätte es hier mit tiefschürfender, ernsthafter Literatur zu tun. Angereichert mit ach-so-gewagten Sexpraktiken und den ebenso bemüht wirkenden Schauerbeschreibungen aus Virchows Pathologischer Präparatesammlung, heischt der Roman mit Oberflächenreizen um Aufmerksamkeit. Und gleichzeitig ist er geradezu krampfhaft bemüht, mit seiner gewählt schmucklosen Sprache den Eindruck eines feingewobenen Kunstwerks zu suggerieren.

Das Schauersujet als Kaltnadelradierung. Aber Hettche ist nicht Goya. Er bleibt artifiziell, kunstgewerblich. Merkwürdig, erst gegen Ende des Romans lebt der Autor auf. Dann nämlich, als er vom Leiden der Wachhunde am Grenzstreifen berichtet. Dann, als er vom poetischen Träumen, der Sehnsucht dieser gequälten Tiere schreibt. Der Autor liebt die Menschen nicht. Der Autor ist ein Tierfreund.

Dennoch, das Buch ist lesenswert. Zumal man im Grunde immer noch nicht begriffen hat, was 1989 eigentlich passiert ist. Weil man manchmal noch stockt, wie weiland Schabowski. Vielleicht ist es auch bezeichnend, daß ein westdeutscher Autor einen solch düsteren Ton anschlägt, während Thomas Brussig, Reinhard Ulbrich und Co. das Thema so humorvoll angehen.
Ach, und Suhrkamp: Man schreibt nicht "Pobaken".

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Montag, 15. März 2004


Ausgerechnet!

Ella hat es aufgebracht, zuerst gesehen habe ich es im Terminal Pub, der heute reichlich derangiert aussah. Alle haben sie tolle Garcia Marquez Bücher. Und ich alter Irland-Degoutierer? Natürlich. war ja klar.



You're Ulysses!
by James Joyce
Most people are convinced that you don't make any sense, but compared
to what else you could say, what you're saying now makes tons of sense. What people do
understand about you is your vulgarity, which has convinced people that you are at once
brilliant and repugnant. Meanwhile you are content to wander around aimlessly, taking in
the sights and sounds of the city. What you see is vast, almost limitless, and brings you
additional fame. When no one is looking, you dream of being a Greek folk hero.


Take the Book Quiz
at the Blue Pyramid.


Und dann könnte die Beschreibung auch noch stimmen!
Bettzeit.


 


Sonntag, 14. März 2004


Aus gegebenem Anlass

Man muß sich so sehr hüten, daß man nicht
Ohn jeden Anlaß aufbrüllt wie ein Tier.
Daß man der ganzen Kellnerschaft Gesicht
Nicht kurz und klein haut, übergießt mit Bier.

Daß man sich nicht die ekle Zeit verkürzt,
Indem man sich in einen Rinnstein legt.
Daß man sich nicht von einer Brücke stürzt.
Daß man dem Freund nicht in die Fresse schlägt.

Daß man nicht plötzlich unter Hundswauwau
Die Kleider sich vom feisten Leibe reißt.
Daß man nicht irgendeiner lieben Frau
Den finstern Schädel in die Schenkel schmeißt.

(Alfred Lichtenstein, "Der Angetrunkene". 1919.)

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Dienstag, 2. März 2004


Vive le bouquiniste!

Ach, sparen wollt' ich! Zeit hab' ich eh nicht! Wer wird das beim nächsten Umzug tragen, sprich?
Perdu, alles hinweg weht der Wind. Die guten Vorsätze zuerst. Bald ist die Vorratstasche gefüllt mit neuen Büchern (so als hätte ich nicht gerade erst am Wochenende auf dem Flohmarkt... aber da waren es ja nur Reiseführer!). Man kann die Schätze ja nicht einfach so sich selbst überlassen... wenn sie nur einen Euro kosten.

Bücher sind im übrigen nicht pfändbar, sofern es sich nicht um echte bibliophile Kostbarkeiten handelt. Ein Grund mehr also, die knappen Taler lieber in Literatur und Kunst anzulegen. Wer weiß. Wenn meine Ämtersache nicht mal bald entschieden wird, gehen hier eh schnell die Lichter aus.
Meine Sachbearbeiterin ist aber sehr nett. Nur eben auch sehr genau. Aber wenn sie alles geprüft hat und noch einmal geprüft hat, wird sie zu dem Schluß kommen, den ich selbst ihr schon nahe gelegt habe.

Und meinem Antrag stattgeben.

Bis dahin heißt es, immer weiterarbeiten. Und Geduld haben. Und dazwischen ein wenig lesen. William Carlos Williams zum Beispiel.