Dienstag, 1. Juni 2004


Der Mensch in der Revolte

Spiegel: Der Existenzialismus war auch eine Revolte, eine Suche nach absoluter Freiheit. Ist er darin nicht gescheitert?

Gréco: Wir machen Rückschritte. Die Jugend von heute durchlebt eine eigenartige Desillusionierung. Sie schwankt zwischen kindlicher Romantik und unerbittlicher Härte hin und her. Ihre Freiheit ist in Wahrheit oft nur Permissivität, die wiederum der Gleichgültigkeit entspringt. Es ist keine existenzielle Freiheit.

(Juliette Gréco im Spiegel Interview, 2003/04. Quelle leider verbummelt.)


 


Dienstag, 25. Mai 2004


Borderline

Look what your love has done to me
Come on baby set me free
You just keep on pushing my love over the borderline
You cause me so much pain, I think I'm going insane
What does it take to make you see?
You just keep on pushing my love over the borderline
(Madonna, "Borderline")


Fast jeder weiß, daß oftmals die genauesten, treffendsten Beobachtungen und Lebensweisheiten nicht bei den tiefsinnigsten Geistern, sondern in den unscheinbaren und unprätentiösen Formen des Volkslieds, der Bauernregel, der Redewendung zu finden ist. Im Schlager erkennen wir die Welt, und sei es nur unsere eigene, kleine innere.

Die Transzendentalisten sagten, verschwende deine Zeit nicht mit Büchern, sei kein Bücherwurm, der an den Gedanken kaut, die andere vor ihm gedacht haben. "Books are for the scholars idle times". (Und diese Zeiten kommen auch.) Geh hinaus in die Natur, erkenne Gott dort, wo er sich offenbart, in der Natur nämlich, in den kleinen Dingen.

Als deutsche Übersetzung einiger der wichtigsten Essays von Ralph Waldo Emerson besitze ich seit einiger Zeit eine Ausgabe von, laut Widmung, ca. 1917.
Ein kleines Signet rät: "Arbeiten und nicht verzweifeln". Das gefällt. "Be of use", heißt es bei diesen sehr pragmatischen, sehr amerikanischen Philosophen. Immer weitermachen.

"Die Sonne segnet die Welt", heißt der Band [sic! Ha! Synchronizität!] und trägt das Motto: "Was wir lieben, haben wir. Aber durch Begehren rauben wir uns selbst der Liebe."

"I don't want to be your prisoner, so baby won't you set me free", heißt es in dem kleinen Schlager der amerikanischen Sängerin Madonna. Borderline.
Das Begehren bleibt. Und das raubt alles. Wie nutzlos.


 


Samstag, 22. Mai 2004


Far out is not far enough

Vorletzten Sommer kam Lindy, eine dreizehnjährige Freundin von uns, außer Atem zum Haus gelaufen: ein kleines Mädchen war am Ertrinken, draußen, vor dem großen Strand. Lindy wußte, daß wir schwimmen konnten, und außerdem war Yvonne einmal Rettungsschwimmerin gewesen. Also rannten wir hinunter: es war zu spät. Das Ufer war gedrängt voll von Zuschauern, die nonchalant darauf warteten, daß etwas "auftauchte". Im Wasser war ein Mann, der nach dem Körperchen suchte.
"Wer ist es?"
"Some kid."

(Tomi Ungerer. Heute hier, morgen fort. Zürich, 1983.)

Ex Libris | von kid37 um 01:22h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 8. Mai 2004


Der gefundene Satz, III

Heute mal als Wort zur Nacht. Morgen bitte nicht wecken.

"A man should always keep two things in mind:
one is that he is a fool; the other is that he is going to die."

(Gurdijew)


 


Freitag, 7. Mai 2004


Jede Liebe hinterläßt eine Narbe

"Aus den Tagen waren Wochen geworden, und ich begann einzusehen, daß ich abreisen müsse. Nicht, daß mich irgendeine Pflicht rief, aber Lolitas übergroße, gefährliche Liebe flößte mir Furcht ein. Als ich ihr diese Eröffnung machte, sah sie mich mit einem unbeschreiblichen Blick an und nickte stumm. Dann griff sie schnell nach meiner Hand und biß mit der ganzen Kraft ihres kleinen Mundes hinein. Diese Narben der Liebe haben selbst fünfundzwanzig Jahre nicht auszulöschen vermocht."

(Heinz von Lichberg (= Heinz von Eschwege). "Lolita". 1916.)

Ex Libris | von kid37 um 02:09h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 4. Mai 2004


Engel im Schnee

Aus der Reihe, "Zehn Situationen, in denen du merkst, daß deine Beziehung im Arsch am Ende ist":

"Es war richtig von ihm, sich rauszuhalten - sie ist ihre Mutter -, aber jetzt wünschte Brock, er hätte sie davon abgehalten. Er muß Tara nur selten anschreien, wenn sie zusammen sind; sie ist ein braves Kind. Annie sagt, er habe leicht reden, weil er nicht für sie verantwortlich sei, was bedeutet, daß er es nie sein wird, daß er irgendwann gehen muß."

(Stewart O'Nan. Engel im Schnee. 1994.)

Eine im Grunde banale Vorstadtgeschichte, die sich - zumindestens in ihrer deutschen Übersetzung (die an ein, zwei Stellen zudem schwer danebenliegt) - in merkwürdig sperrigen, nicht aber komplizierten, Satzgefügen entfaltet.
Zwei Paare (vielleicht drei, je nachdem wie man die Zählung ansetzt), Trennungen, Scheidungen, Affären, Liebhaber, Betrogene... ein totes Kind. Ein Mord.

Die Zutaten sind alle da, das Menü aber will nicht gelingen. Vielleicht, weil er es ja nicht gelernt hat. Der Mann ist Ingenieur. Dann muß er sich daraus nichts machen.
Als Debütroman nicht wirklich schlecht, keineswegs. Aber die Psychologie der Charaktere, ihre Motivation erscheint seltsam fragmentarisch; abgeschaut, aber nicht erlebt.

Der Hype um O'Nan ist mir nach seinem Debüt jedenfalls nicht erklärlich.


 


Samstag, 1. Mai 2004


Erster Mai

"Der zu erwartende Frieden und Wohlstand wurde von den Skribenten und Poeten des siegreichen Volkes so heiter und überschwenglich besungen, daß mehr und mehr wohlhabende Provinzler sich angesammelt hatten, um den Wein der Begeisterung zu trinken, und immer schneller setzten die Kaufleute ihre Schmucksachen und ihre Pantöffelchen um, bis sie schließlich laut nach mehr Schmucksachen und Pantöffelchen verlangten, um sie gegen beliebige andere Waren einzutauschen."

[...]

"Eine halbe Stunde später ging er hinaus und kaufte in einem Sportartikelgeschäft einen Revolver. Dann nahm er ein Taxi zur Siebenundzwanzigsten Straße Ost, wo er gewohnt hatte, und dort in dem Zimmer, über den Tisch mit seinen Zeichensachen gelehnt, schoß er sich eine Kugel in den Kopf, genau hinter der Schläfe."

(F. Scott Fitzgerald, Anfang und Ende von "Erster Mai". 1920.)

Ex Libris | von kid37 um 13:25h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 30. April 2004


La Gloïre

"Man gibt mir zu essen. Man gibt mir Gold. Viel Gold sogar. Ich habe jedoch nicht das Recht, es auszugeben. Niemand will mir etwas verkaufen. Ich habe ein Haus und einen Haufen Gold, und dafür muß ich die Schande des gesamten Dorfes verdauen. Sie bezahlen mich dafür, daß ich an ihrer Stelle eine schlechtes Gewissen habe. Für alles, was sie Böses oder Gottloses tun. Für all ihre Laster. Für all ihre Verbrechen. Ihren Alteleutemarkt. Die Tierquälerei. Die Lehrlinge. Und den ganzen Abfall."

(Boris Vian. Der Herzausreißer. 1953.)


 


Montag, 26. April 2004


Politikales Ko-Rektorat

Es brodert mal wieder beim Spiegel. Bekommen wir jetzt eine Bundesschrifttumskammer?

Nach den Herrenmenschen muss bald wohl das Gutmenschentum in Schranken verwiesen werden. Vielleicht könnte man ähnlich wie bei Zigaretten auch die schlimmen Bücher mit Aufklebern kenntlich machen. Weiß man wenigstens, was man kaufen soll.

Ex Libris | von kid37 um 19:26h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 16. April 2004


Kein blog-Virus

Denn mein nächstliegendes Buch hat auf Seite 23 keine 5 Sätze. Jedenfalls, wenn man das Semikolon nicht mit dem Satzende gleichsetzt.

Der halb-fünfte Satz aber lautet: "oder vielleicht schreibe ich, wie andere auch, aus Ehrgeiz, um mich darzustellen: scire tuum nihil est nisi te scire hoc sciat alter [Dein Wissen ist nichts, solang nicht ein anderer weiß, daß du weißt]."

(Robert Burton. Die Anatomie der Melancholie. Mainz: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, 1988. Original von 1651.)

(via alle möglichen blogs zur Zeit)

Ex Libris | von kid37 um 23:37h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link