Sonntag, 6. September 2020


Mach mal Nacht

Eine Ahnung überkam ihn,
daß dieser Mann ein ähnliches Leiden litt wie er,
daß er an einer ungestillten Inbrunst krankte,
die sich aus einem engen und törichten Leben
in alte Bücher geflüchtet hatte.

(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis.)



Mit 17 oder so las ich das Buch das erste Mal. Es gab ein Exemplar in der Stadtbücherei. Mehr als der Titel hatte sich nicht so recht in Erinnerung gehalten, und der diffuse Befund, daß ich es ganz gut fand. Die Lücke in meiner eigenen Bibliothek habe ich nun endlich gefüllt, und Severins Gang in die Finsternis (1914) erweist sich als bestürzend spiegelnde Lektüre, wenn man, nicht mehr ganz 17, selbst bereits ein, zwei Mal durch Gänge gegangen ist. Der Titelheld, ein abgebrochener Student und Büroknecht, schleicht durch die alten Gassen Prags, steigt den Röcken hinterher und stürzt sich ins Unglück. Dabei trifft er auch den alten Antiquar Lazarus, von dem es heißt: "Er hatte schon bald ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken, aber trotzdem waren die Weiber noch immer seine liebste Passion." Alles kein Umgang für den jungen Mann und so nur die knappe Zusammenfassung.

"Seine exzentrischen Prosawerke erzielten häufig wegen ihrer freizügigen Behandlung erotischer Themen Skandalerfolge", heißt es bei Wikipedia über Leppin. Ich weiß nicht, ob sein Gedichtband Glocken, die im Dunkeln rufen in diese Richtung geht. Ich werde es herausfinden. Wenn ich mich recht erinnere, ist es mit Gespenstern bei Severin nicht weit her, bin aber erst bei der Hälfte. Der Ton ist melancholisch freilich, die lasziven Abenteuer, die er sucht, wärmen kurz, sind traumhaft flüchtig wie aus einem Roman von Huysmans entstiegen. Kurt Pinthus meinte, es sei ein Buch "das beunruhigt, das niederdrückt, das ein wirreres Grauen in uns weckt als unheimliche Geschichten und spukhafte Abenteuer" (aus dem Nachwort zitiert).

Es gibt eine neueres Ausgabe mit allen Illustrationen der Originalauflage. Meiner fehlen diese, dafür spendierte der Verlag einen fiesen Plastikschutzumschlag, der bei mir allerdings als allererstes einen Gang in die Finsternis antreten mußte.

(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis. Ravensburg: Peter Selinka, 1988.)


 


Mittwoch, 2. September 2020


Alles ist Dada!

Begleiten Sie mich auf meiner Reise zum Cabaret Voltaire.
Es war ein Weg, auf dem sich Himmel und Hölle oft vermischten.
Als ich wieder aus Flensburg floh, ging ich nach Bremen.
Ich wollte noch immer einfach nur eine Künstlerin sein.

(Fernando González Viñas, José Lázaro.
Alles ist Dada - Emmy Ball-Hennings.)



So. Nach meiner kleinen abirrenden SEO-Handwerksübung zurück zum Eigentlichen: der Kunst. Wie im seriösen Leben ist bekanntlich auch beim Tingeltangel alles Dada, und wenn eine das wußte, bin das nicht ich, sondern Emmy Hennings.

Die "Ball-Hennings", wie sie seit ihrer Heirat mit Hugo Ball auch geführt wird, wanderte als Schauspielerin, Salonsängerin und Chansoneuse von Flensburg aus über verschlungene geographische (Frankreich! Berlin! München!) und amouröse Stationen nach Zürich und gründete dort 1916 das revolutionäre Cabaret Voltaire, Keimzelle des Dada. Lange als "kleines Frauchen" hinter die berühmten Männer in ihrer Umgebung (Hardekopf, Becher, Mühsam, Heym, van Hoddis etc. etc.) sortiert, war sie nicht die Mutter der Kompanie, aber doch die, die letztlich den Laden zusammenhielt. Nun leistet eine wunderbare Graphic Biography von Fernando González Viñas und José Lázaro (El último yeyé) leicht zugängliche und hintergründige Aufklärungsarbeit.

Die Hennings kommt aus einfachen Verhältnissen, ist früh vom Theater begeistert und läßt mit 19 Kind, Kegel (Mann) und Heimat hinter sich, um mit einer Wandertruppe weiterzuziehen. Ein Hand-im-Mund-und-Hut-in-der-Hand-Job ohne Künstlersozialkasse, mit kargem Applaus und noch weniger Brot, dafür garniert mit Beschimpfungen und Drangsal aller Art. Süße Versprechen locken sie erst nach Bremen, später an ein kleines Theater in Münster, doch die Herren erwarten dafür Salon- und Boudoirarbeit und weitere Privatvorführungen. Die Biographie zeichnet in düsteren, schweren Strichen die oft demütigenden Stationen nach, versetzt mit Schnipsel und Zitaten aus Hennings biografischen Schriften. Ein lebendiges, teilweise auch wirklich ernüchterndes Zeitbild aus dem expressionistischen Literatenberlin der 10er Jahre, den Hungerjahren in der Schweiz, dem kurzlebigen Erfolg von "Dada" (und dem von Huelsenbeck und Co. geführten Streit um die Urheberrechte an diesem Kunstbegriff) und der späteren Hinwendung zum Katholizismus und Buddhismus und der Freundschaft mit Hermann Hesse. Es geht um sexuelle Ausbeutung und die "Lektionen in Anatomie", die das (weibliche) Künstlerleben begleiteten, die Großmannssucht der (männlichen) Stars der Szene und die Mühlen der Alltagsnot. Dem Berliner Avant Verlag ist zu danken, der "Emmy", der "Ball" und der "Hennings" und ihrer (auch den heutigen prekären Künstlerbetrieb spiegelnde) Stationenreise die längst überfällige Aufmerksamkeit verschafft zu haben. Bleibt zu hoffen, daß auch ihr Werk wieder stärker beachtet und zugänglich gemacht wird. I'm looking at you, deutsche Verlagsszene.

(Fernando González Viñas, José Lázaro. Alles ist Dada! - Emmy Ball-Hennings. Berlin, Avant Verlag, 2020.)


 


Montag, 3. August 2020


They were there to read all day



Hier kann man sich reinkukscheln. Das ist wie bei mir zu Hause: Da heißt es auch, daß diese Typen nicht nur komische Brillen trugen, sondern auch verärgert waren, wenn wirklich ein Kunde kam. Die waren selbst nur da, um zu lesen. Das verstehe ich gut. In meinen persönlichen, hermetischen New Yorker Buchladen lasse ich deshalb auch nur ungern jemanden herein, höchstens mal nachts, wenn ein Notfall vorliegt (drei Mal klingeln, besser vorher anrufen).

Die Doku habe ich selbst noch nicht sehen können, so viel sei eingeräumt. Aber das klingt natürlich ungeheuer charmant, diese New Yorker Literatiwelt, die Buchhandlungen und Antiquariate als Ruheoase für verschrobene Charaktere und Pyramidenkönigskammer für ungeheure Entdeckungen. Heute sagen einem junge Leute frech ins Gesicht, man könne sich ein elektronisches Lesegerät anschaffen, um all den "Kram" bei sich zu tragen. Die kennen das eben nicht, wenn man heimlich unterm Torbogen stand, um altes Papier zu schnüffeln und dann berauscht nach Hause wankte! Die haben alles flat und vorverdaut - Bücher, Filme und Musik.

Die Sammler sterben aus, heißt es. Buchhändler seien die ornamental hermits der Großstädte! Fatalgerede. Very irritating.

The Booksellers. Regie:D. W. Young. (USA, 2019)


 


Sonntag, 17. Mai 2020


Vom Blatt in die Hirne



Das Leben ist keine Loggia. Deshalb lungerten Literaten im letzten Jahrhundert in Cafés und spelunkigen Nachtschuppen rum, zwecks Weltdiskussion und trunkenen Untergangsshantys. Gedichte dann als Après-Pulverschnee: Hier ein Ach! und dort ein Oh! im zehrenden Ringen um A wie Anerkennung bis D wie demütigsten Dank Herr Doktor für die freundliche Überlassung von 100 Mark, die Sie garantiert zum nächsten 1. des nächsten Monats... Usw.

Walter Rheiner (1895-1925) hieß eigentlich Schnorrenberger, was vielleicht Programm war, sich aber nicht gut auf Buchumschlägen machte. Der Kölner trudelte gen Berlin und schrieb, nicht ganz unerfolgreich, Gedichte im hymnischen Exklamationsstil und veröffentlichte in den relevanten Magazinen der Zeit (u.a. Die Aktion, Der Sturm). Von Dresden aus betreute er auch selbst eine zeitlang die Zeitschrift Menschen und kumpelte ansonsten in der Szene: Rheiner, zeitlebens in finanziellen Nöten, war bekannt mit den Golls, Else Lasker-Schüler, Hasenclever und dem Maler Conrad Felixmüller, ergab sich sonst aber seiner Morphin- und Kokainsucht, tourte durch Heilanstalten, träumte vom Erfolg und erlag der Sucht (und Hoffnungslosigkeit) mit 30 Jahren.

Frau und Kind (ein zweites war in einem Berliner Kinderheim) harrten derweil bei der Mutter in Köln auf Fortschritte oder wenigstens Geld für Brot und Marmelade, während Rheiner den Hausstand versetzte und Bewerbungen schrieb, in denen er sich als "großer Dichter" pries. Überhaupt, neben der deprimierend vorausschauenden Novelle Kokain (1918) ist seine Korrespondenz voller faszinierender Einblicke. Stell dir vor, jammerte er nach Hause, da habe ihm ein Kollege Geld gepumpt, hinterrücks (!) aber bekundet, er, der große Dichter Rheiner, ob der sich nicht schäme, solle mal Verantwortung für Frau und Kinder übernehmen, quasi was arbeiten und nicht im Wirtshaus rumhängen. Eine Unverschämtheit! Rheiners Frau Friederike, genannt "Fo", schrieb allerdings statt Trost zu spenden kühl zurück, sie könne diese Anwürfe allerdings Wort für Wort unterschreiben, wie lange er denn noch auf den Durchbruch als großer deutscher Dichter warten wolle und ob es nicht an der Zeit sei, sich um die Familie zu kümmern. Da war der Rheiner ganz zerknirscht und gelobte Besserung, kam aber weder von der Nadel noch von der Selbstverblendung los. Den Rest erledigte das Großstadtgetriebe.

Hundert Jahre später diesem Ehekrach (Friederike ließ sich scheiden) beizuwohnen, ist ein wenig wie bestimmte Blogs lesen und sich - ganz unliterarisch - einen Reim zu machen. Eine fröstelige bis muntere Faszination. Seine Gedichte zeigen einen wohl oft von sich selbst überwältigten Autor, haben dabei aber häufig eine hübsche Schonungslosigkeit. Expressionistische und erstaunlich aktuell wirkende Stadtbeschreibungen sind darunter wie In Wandel-Halle eisig kalter Tage/Erschauern wir. Wir liegen in den Ecken/Uns überfährt (mit grobem Fluch) ein Wagen.

Der schönste künstlerische Nachruf stammt vom Freund Conrad Felixmüller, dessen Bild den Rheiner zeigt, wie er endlich in den Himmel steigt, die Spritze noch in der Hand.


 


Montag, 13. April 2020


Hefeland

"Was, wenn es jetzt für immer so bleiben wird?" fragte Eva, während sie sich kleine Krümel von Sauerteig von den Fingern puhlte. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster. In der Ferne bellte ein Hund.

So beginnt mein aufsehenerregender Debütroman Hefeland, der eine melancholische, aber schonungslose Studie über ein Land und seine Bewohner in Zeiten der Pandemie abliefert. Ich hoffe, daß mir die Kaltmamsell dieses Einkaufsfoto für das Cover zur Verfügung stellt. Der Rest geht dann fluffig wie von selbst auf: Bachmannlesung, Sondertisch, Dennis Scheck, Abverkäufe.



Bis dahin lebe ich maskiert und weitgehend distanziert (aber nicht arrogant) in meinem kleinen Leuchtturm am Rande der bewohnten Stadt, höre abwechselnd Karen Daltons schonungslose, aber melancholische Interpretation von Something On Your Mind und dem schonungslosen, teilweise wild enthemmten Konzert der Gänse unten auf dem Wasser. Die Natur holt sich derzeit eben alles zurück, da beißt die Maus keinen Faden ab oder der Fuchs ins Gänsebein. Nur immer mehr Sonntagsausflügler, die früher über Land gefahren sind, verirren sich jetzt hier ins Gewerbegebiet, wo ich meine zart verhüllten Radausflüge unternehme. Unangenehm.

Zur Ablenkung lese ich in einer munteren Sammlung von schundigen Polizeiberichten aus dem viktorianischen England. Da fallen von einem Supermond gelockte Somnambulisten von Dächern und gehen entzwei, rippern sich Bösewichte durch fahl beleuchtete Straßen, Geister irren umher und erschreckem unschuldige Leute. Verwirrte ältere Damen hamstern Katzen in ihrer Wohnung, kluge Hunde helfen Polizeimännern oder retten Kinder vor dem Ertrinken, in Schaubuden sind seltsame Menschen zu betrachten, der ein oder andere Artistentrick schlägt auf fatale Weise fehl. Eine nicht sonderlich gut erzählte, eher anekdotenhaft aneinandergereihte Sammlung aus dem Vermischten früherer Tage. Aber unterhaltsam, akkurat zusammengetragen (aus dem Revolverblatt Illustrated Police News) und mit einem Index versehen - etwas, das man aus deutschen Verlagen ja kaum noch kennt.

(Jan Bondeson. Strange Victoriana. Stroud, Gloucestershire: Amberley Publishing, 2016.)


 


Sonntag, 20. Oktober 2019


Monkey Business



Patti Smith und ich haben einiges gemeinsam, darunter das Problem, daß unsere Kameras nun "out of film" sind. Ich habe mir ja nie Gedanken darüber gemacht, denn schließlich gibt es das Impossible Project (heute: Polaroid Originals), das vor zehn Jahren Maschinen von Polaroid in den Niederlanden übernahm - und vor allem Fuji als Anbieter einer großartigen Schwarzweiß-Variante. Damit ist es aber für diesen Typ Kamera vorbei, und die letzten Chargen werden aus obskuren Quellen auf eBay zu Mondpreisen verhökert.

Eine Affenschande ist das, und so werde ich mich wohl mit Mrs. Smith auf (rein literarische) Wanderschaft durch Widrigkeiten und problematische Umstände begeben, was sicher gut zum Ausklang meines eigenen Jahres paßt. Es wäre aber auch eine Idee für eine eigene Wanderung mit dem Elektroscooter durch die "Mark Brandenburg", möglicherweise findet sich dort in einer in einer Scheunenecke abgestellten Kühltruhe noch eine große Charge Sofortbildfilm. Könnte doch sein - nur ein unbeirrbarer Glaube führt letztlich zum Erfolg.

Vor ein paar Jahren hat Patti Smith in Paris eine Ausstellung mit ihren Polaroids gemacht, begleitend gab es dazu einen exquisit aufgemachten Bildband, der so heißt wie die Kamera, nämlich Land 250, und nun ebenfalls zu Mondpreisen verhökert wird. (Wer den mal günstig sieht, sofort kaufen! Es gibt kein Bereuen.)

Jetzt in der Blüte meines Herbstes erfrischt es auch, wenn ein kühler Wind durch die goldbehangenen Bäume weht. Was jetzt nicht taugt, stirbt ab und kommt in die Scheune. Der Rest wird ordentlich durchgefegt. Nur wer jetzt keine Fledermaushöhle hat, der findet keine mehr. Ich hab' immerhin schon ein Kostüm.

(Patti Smith. Year of the Monkey. New York: Alfred A. Knopf, 2019.)


 


Donnerstag, 3. Oktober 2019


Sonnenenergie



Es wird kühl, vielleicht hat jemand die Sonne gegessen. Als aber vor Monaten bereits eine kleine Tageszeitung eine Rezension des neuen Buches der von mir ja streng sachlich geschätzten Floria Sigismondi (Redemption) veröffentlichte, war ich innerlich wie erhitzt. Da sonst nirgendwo etwas darüber zu finden war - weder auf den Kanälen der Fotografin und nicht einmal im Verlagsprogramm - hakte ich bei der kleinen Zeitung mal nach, denn es wäre nicht das erste Mal, irgendwo irgendwelche Phantomprojekte angekündigt zu sehen, aus denen nichts oder nur mit großer Verzögerung was wird. Die Antwort war von selten pampiger Natur (sie kämpfen dort um jeden Leser!), so daß ich zu dem Schluß kam, es wie ein Journalist Blogger besser einfach selbst zu recherchieren.

Und siehe da, dem freundichen Verlag sei dank, gab es rasch die Bestätigung (und dank freundlichem Buchversender auch ein existierendes Exemplar): Floria Sigismondis Eat the Sun. Die Fotografin und Regisseurin (ihre Fassung von Henry James' "The Turn of the Screw" erscheint 2020) hat nach den stilprägenden Bänden Redemption und Immune (beide ebenfalls Gestalten Verlag) ihre Porträtarbeiten der letzten Jahre zusammengefaßt. Exzentrische Bilder exzentrischer Künstler wie David Bowie und Tilda Swinton, dazu eine ganze Riege junger Schauspieler und Musiker (Sigismondi hat vor ein paar Jahren mit "MAMAROMA" auch ein eigenes Label gegründet) in bühnenhaften, symbolbeladenen Sets, dazu gibt es Stills aus der kleinen Reihe mit Kurz-Horrorfilmen, die Sigismondi für die New York Times gedreht hat.

Den Band kann sich jeder kaufen, der reinen Herzens und verständnisvollem Portemonnaies ist. Es ziert das Heim und macht bessere Menschen aus euch. Muß man nicht pampig werden.

(Floria Sigismondi. Eat the Sun. Berlin: Gestalten Verlag, 2019.)


 


Sonntag, 18. August 2019


Technik und Gerede



Derzeit packe ich kleine Ideen vorsichtig mit der Pinzette am winzigen Fellkragen und sortiere sie in die freien Mulden von alten Eierkartons. So kommt nichts weg und auch nichts dran. Vielleicht, so lautet eine davon, mache ich ein Magazin. Das wird heißen Technik und Gerede. Vielleicht auch Kultur, Technik & Gerede oder Kulturtechnik und Gerede ("Hiermit beantrage ich Titelschutz in allen Schreibweisen und Variationen"). Man soll da nicht gleich zu Anfang schon alles im Detail zerreden.

Darin geht es zunächst einmal um eine Art Archäologie - "of a past that never was". Vielleicht ein kleiner Essay über Knackser auf Schellackplatten. Oder über die Entfesselung einer statisch gebundenen Performanz von Musik durch den Durchbruch des Grammophons. So wie man heute kein Kino braucht, um einen Film auf dem Mobiltelefon zu sehen. "Spiritismus als vormodernes Speed-Dating" lautet mein erster Beitrag (mit Ektoplasma-Centerfold!). Von der Tonalität her alles - bei aller Schwere der Gedanken - im munteren Plauderton, das Magazin soll schließlich viele Cold-Brew-Coffeetable erreichen und von Menschen gelesen (und gekauft) werden, die sich auch sonst für Hifi-Klumpert und technisches Lebenstilgedöns interessieren. Sich aber auch fragen, was das alles bedeutet für ihr Leben und das der anderen. Im Entertainment-Teil werden nur Stummfilme vorgestellt und Lyrik des Expressionismus, aktuelle Trends in der Plattenkamerafotografie und Stars des Vaudeville.

Ich könnte mir aber auch vorstellen, ein Magazin zu machen, das hieße Affen & Elefanten. Vor ein paar Jahren sah ich auf einer Ausstellung ein brillantes Bild von Gabriel von Max, der vor hundert Jahren gutes Geld mit Gemälden heiliger Frauen, Märtyrerinnen und skeptischer Affen machte. Statt dieses Geld zu sparen, kaufte er, man muß sich die Gesichter vorstellen, obskures altes Zeugs, tote Tiere, Fossilien und Skelette und lebte voller Ekstase wie in einem Museum. Und anstatt mich als Erben einzusetzen, verfiel seine Villa am Starnberger See und soll abgerissen werden (dies ist vielleicht auch schon geschehen), die Sammlung blieb zum Glück erhalten. Von Max hätte ich jedenfalls gerne ein Titelbild für die erste Ausgabe.

Schön und detailreich ist auch der Elefant auf dem Cover (wunderbares Digipack zum Ausklappen, mit Fotos und Texten übrigens) des Albums "Kramuri" der Gebrüder Marx, die hier neulich so nett empfohlen wurden und - Zufall oder nicht - nur ein paar Buchstaben von Gabriel von Max verschoben sind. Die Lebensfreude in deren Texten ist angenehm reduziert ("Als ich das Licht der Welt erblickte/Verließen alle Engel Wien"), die Lieder beklagen den Verfall der Welt ("Mei Gschropp redt wie a Piefke/Und is in Wien geborn/Vü mehr kaunn gor net schiefgeh/I glaub i bin verlorn") und dissen wie in "Scheißnatur" die, äh, Natur ("Du bleda Paradeiser/Warum bist du nur rot?")

Es würde also mehr ein Naturmagazin über das Leben der Tiere und Gewächse, aber alles von unten betrachtet. Nächsten Monat dann Gründer-Gespräch, das muß man ja alles erstmal finanzieren. Mit ohne Geld.

>>> Geräusch des Tages: Gebrüder Marx, Scheissnatur


 


Donnerstag, 8. August 2019


Groszmannssucht in Arkadien



In meinem Erzählband Bei der letzten Zigarette begann es zu regnen habe ich eine handvoll Geschichten über melancholische Groszstadterinnerungen zusammengefaßt, junge Menschen, die nach vorne leben und alte, die das Leben dann von hinten erklären. So im Groszen und Ganzen.

Früher wurde ich von Malern ja so gemalt. Die abgerissenen Köpfe meiner Feinde in der Hand! Heute muß ich mich an Supermarktkassen wegschubsen lassen von jungem, groben Volk. Bald wird man mich auf eine Eisscholle setzen, damit ich ins arktische Meer treibe, denn die Gartenzwergfabrik wird entkernt, alle Menschen müssen raus.

Gut immerhin , daß ich keinen Hang zum Pathos habe, es wäre schlimm um uns alle bestellt. Vor ein paar Jahren hatte ich mal überlegt, nach Düsseldorf zu ziehen, auch eine interessante, mir teilweise merkwürdig sperrig daherkommende Stadt. Am Rhein. Aber dann war die Wetterlage dort leider nichts für mich, ich blieb also hier und dachte weiter grosz vor mich hin. Das Leben ist ja mal so, mal so. Ich sage nur: "First we take Manhattan, then we take Berlin."

Georg Grosz, der alte Groszmaler, hat das ähnlich gehandhabt, nur in umgekehrter Richtung. Das ist in sehr entzückenden, den Stil des Meisters hübsch nachempfundenen Bildern in dieser Comic-Biografie von Lars Fiske beschrieben. Fiske hat zuvor auch schon ein ähnliches Werk über Kurt Schwitters geschaffen (ebenfalls im groszartigen Avant-Verlag erschienen). Politisch scharf, ironisch in der Heldenbeschreibung und angemessen frivol, denn Grosz war da nicht scheu, und seine Modelle auch nicht. Und es waren ähnlich wild bewegte Zeiten.

Ich liege ein wenig in der Sommerhitze flach, fächel mir mit einem Monsterablatt Luft zu und und schüttel den Kopf über meinen Lebenslauf und die passenden Papiere dazu. Aber da gibt es nicht grosz was zu verstehen.

(Lars Fiske: Grosz. Berlin: Avant Verlag, 2019.)


 


Sonntag, 7. Juli 2019


Wilde Party

Queenie war blond, ohne Alter so eine:
Schmiß zweimal pro Tag beim Vaudeville die Beine.
Aschgrau die Augen,
Lippen feurige Brunst -
Ihr Gesicht kannte Höhen und Tiefen der Kunst.




Heute morgen, als ich engagiert (aber dummerweise ohne Schutzmaske) mit Wiener Kalk die Fliesenfugen im Bad schmirgelte, dachte ich über die wilden Feste, auf denen ich in letzter Zeit war, nach, pfoff einen beliebten Jazzschlager und sang zwischendrin mit affektiertem Akzent "Ist dir auch fad/schrubb einfach das Bad" usw. Festliche Einzelheiten liest man ja gerne in Ruhe nach, in einem Buch also, vor allem, wenn sie so eindrucksvoll bebildert sind wie in dieser Ausgabe mit den Illustrationen von Art Spiegelman.



Joseph Moncure March schrieb das wild gereimte Versepos 1928, eine poetisch-derbe Erzählung über ein paar angeschrabbte Leute aus der Bohème der großen Stadt, die sich in der billigen Bude der Tänzerin Queenie mit alten und neuen Liebhabern zu Trunk, Tanz und Fummelei treffen. Natürich gibt es auch Streit und Gelächter, Eifersucht und Schikane, dazwischen Unzitierbares und andere Glücksmomente. Die Rowohlt-Ausgabe von 1995 (gesetzt mit Quark Express, darauf wies man damals noch hin) ist mit der amüsanten editorischen Einleitung und den an Lynd Ward erinnernden Illustrationen ein echter Spaß - und antiquarisch gut erhältlich.

(Joseph Moncure March. Das wilde Fest. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995.)