Die Show geht immer weiter, Frau von K.

Die Schellen klimpern im Ringelreihn,
Der Mastbaum schwankt im Kreise.
Die Weiber schlagen Purzelbaum,
Das Schiff bewegt sich leise.

(Hugo Ball, "Narrenfest". ca. 1916.)

Der Kasper kommt im Hammer Park

Das Leben ist ein Varieté, heißt es, und wir nur die Artisten. Einmal traurig, einmal froh, mal bist du oben, mal am Boden - und dazwischen ratlos in der Zirkuskuppel. Damals, seit jenem schrecklichen Unfall - und ich schwöre, das war es! - an der Wurfscheibe, schleiche ich nur von ferne um das bunte Zelt. Natürlich juckt es mir manchmal in den Fingern. An schwüleren Tagen, wenn die Gedanken träge kriechen und ich im verschwitzten Hemde auf meiner Eisenpritsche liege. Einmal noch die Luft atmen, einmal das Geräusch der Manege - einmal noch ein Messerwerfer sein!

Auch übe ich heimlich, nicht fleißig, aber immerhin. Halte die Finger gelenkig, den eleganten Schwung aus dem Unterarm. Ich schaue dabei die alten Fotos an und stelle mir vor, wir beide, du und ich, zusammen in unserer besten Nummer: die Handschuhe, die Augenbinde, die sirrenden Messer. Der Kasper kommt im Zirkuszelt, heißt es. So frivol ist mir nicht zumute. Ich komme mit einem Koffer voller Erinnerungen: meine sehnsüchtigsten Träume, die finstersten Gedanken und zartesten Regungen - alle zur selben Zeit.

Ich bin dann wie Magneto der Gedankenleser, der nach uns im selben Programm auftrat. Der Welt tiefschauendster Telepath, ein Mann mit drittem Auge, dem Vergangenheit, Zukunft und die Nummern der Ausweispapiere gestochen scharf aus dem Nebel aller Erkenntnis sprang. Der kluge Hans, der zwei und zwei zusammenzählt. Nur zu genau will man nicht wissen. Irgendwann lernt man aufzutreten und den Vorhang hinter sich geschlossen halten.

Die alten Zeiten kehren nicht wieder. Heute weht der Wind durch die Zelte, heute liege ich auf meinem Eisenbett und blättere durch die vergilbten Programme, halte zerknitterte Kostüme in den Händen, atme den Duft von Kampfer, Sägespänen und einem leisen Hauch von deinem Parfüm. "It's not, it's not who you kill but it's who you left" singen die Blonde Redhead vom Grammophon. Ein letzter Rest von Wimperntusche. Wir waren wirklich sehr jung damals.

Homestory | 02:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
peddi - Mittwoch, 25. April 2007, 03:39
...wahr und gut und schön, ich trauer´ mit Ihnen

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seeblogger - Mittwoch, 25. April 2007, 04:54
Sie haben meine Illusion zerstört. Am linken Bein der Dame auf der Scheibe fehlt ein Stück.

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augen zu - Mittwoch, 25. April 2007, 10:42
*

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kid37 - Mittwoch, 25. April 2007, 23:22
...phiiiiieeee - schon sind die Fotos wech. Jetzt müssen wir alle die italienische Vogue kaufen, um Steven Meisels Zirkusfotos sehen zu können.

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diagonale - Mittwoch, 25. April 2007, 10:57
... und von Ferne klingen leise,disharmonische Töne, die der melancholische Wind auf den Flöten der alten Drehorgel pfeift.

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kid37 - Mittwoch, 25. April 2007, 23:29
He, Sie waren da.

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diagonale - Donnerstag, 26. April 2007, 11:39
Ich treibe mich mit Vorliebe in diesen Gefilden herum... wenn auch nur im Kopf.

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blue sky - Mittwoch, 25. April 2007, 11:37
Und ich dachte, ich sei gegen Zirkusgefühl immun.

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kid37 - Mittwoch, 25. April 2007, 23:30
Im Alter wird man ja offener. Ich erinnere mich auch mehr.

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frau klugscheisser - Mittwoch, 25. April 2007, 11:55
tu t'laisses aller

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500beine - Mittwoch, 25. April 2007, 12:10
guck gern elefantenvolleyball.

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kid37 - Mittwoch, 25. April 2007, 23:23
Frau Klugscheißer! Ich wußte nicht, daß die Geschichte damals jemals mitgefilmt hat. Genau so war es! Wahnsinn. Und ja, Wahnsinn eben.

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au lait - Mittwoch, 25. April 2007, 13:17
Ich mochte nie, wenn es nach Zebrahaufen roch, und wenn die Einstreu auf dem Feld unweit von unserem Zuhause liegen blieb, verrottete und Faulgasschwaden in Richtung unseres Gartens zogen. Doch ich mochte es, mit dem Kopf auf Gürtelhöhe der Erwachsenen, mit leuchtenden Augen unter das Zirkuszelt zu klettern und heimlich durch versteckte Ritzen zu spähen. Und wenn die Clowns sich mit Wasser bespritzt haben, habe ich mich auch jedes Mal beinahe nass gemacht. Heute scheint der Zirkus kaum mehr den alten Zauber versprühen zu können, wie ihn dieser unglaublich schöne Text zwischen den Zeilen noch einmal beschwört. Heutiger Zirkus scheint vielerorts Wii zu heißen, oder wie einer von Wiis Brüdern. Oder MTV. Aber vielleicht ist auch das zu kurz gedacht.

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kid37 - Mittwoch, 25. April 2007, 23:28
Oft war ich nicht im Zirkus, aber wenn, empfand ich die Stimmung dort als sehr bedrohlich und unheimlich. Man konnte nicht wissen, was unter den Sitzen lauerte (da war doch irgendwas Dunkles unter den Gerüsten), die kakophonischen Geräusche der Kapelle, das immer irgendwie zeitverzögerte Kreischen der Zuschauer... überhaupt: Lärm! Farben! und ja: Gestank Gerüche! Jahre später erst erfuhr ich, daß man das Ereignisintensität nennt. Wie mit so vielen Dingen, muß man es einfach selbst probiert haben. Diese WeeOui-Magie mache ich vielleicht auch mal. Anke Gröner behauptet, Golf spielen mache darauf Spaß.

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mark793 - Donnerstag, 26. April 2007, 01:58
Also entweder
war mir der Zirkus-Zauber zu arg, oder ich war immun dagegen. Das könnte ich aus heutiger Sicht nicht mehr mit letztgültiger Sicherheit sagen. Ich weiß nur eins noch sehr genau: dass ich Clown-Darbietungen schon immer ab so lut widerwärtig fand. Die ganze olfaktorische Mischung aus Raubtierpisse und Pferdeäpfeln vermengt mit Stroh, das war mir nicht halb so zuwider wie das blöde Getue von grell geschminkten Hanswursten mit zu großen Schuhen und zu kleinen Hüten. Dass die Mehrzahl der Menschen im weiten Rund der Manege sich angesichts dieser erbärmlichen Darbietungen vor Lachen auf die Schenkel klatschte, hat mich in einem Ausmaß verstört, dass ich die fesselnden Artistik-Nummern nie so richtig genießen konnte.

Vielleicht sehe ich es ja in einem milderen Licht, wenn das Treiben mein Töchterlein zum Strahlen bringt, an einem schönen Tag in nicht zu ferner Zukunft.

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c17h19no3 - Donnerstag, 26. April 2007, 02:22
ich musste zwei- oder dreimal gegen meinen willen in den zirkus. ich habe jedesmal die ganze show über geheult, weil ich clowns furchtbar traurig fand und irgendwie ahnte, dass die tiere nicht allzu viel spaß hatten.
die fotos erinnern mich an den film "girl on the bridge".

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kid37 - Donnerstag, 26. April 2007, 02:35
Aber ja, eine morbide Welt. Zirkus hat etwas Grobes, grell Überschminktes - und vielleicht mag ich das aus der Distanz des Alters mehr. Vielleicht kann ich das Bildhafte daran und das "Dahinter" besser sehen mittlerweile.

Frau Morphine, schauen Sie hier. Es dreht sich alles im Kreis, endlos und immer wieder. Bis ich fertig bin.

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c17h19no3 - Donnerstag, 26. April 2007, 12:44
dacht ich´s mir doch. ;)

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fishy_ - Donnerstag, 26. April 2007, 02:15
Ah, Carnivale...
Dann wäre diese Serie was für Sie! Leider gab's davon nur zwei Staffeln.

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kid37 - Donnerstag, 26. April 2007, 02:37
Wunderbar, vielen Dank! Ich habe die erste Folge letztes Jahr oder so gesehen - leider nur in einer extrem schlechten Vorabkopie mit falschem Ton und kaputten Bildformat. Da sollte das auf einem Wettbewerb laufen. Ist in Deutschland, glaube ich, nie gestartet oder? Die Webseite sieht toll aus, das muß ich mir nachher noch mal in Ruhe anschauen.

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the great gate - Donnerstag, 26. April 2007, 19:30
Könnte auch nur Böses über den Zirkus berichten. Meinen kleinen Bruder haben sie mal nach vorn in dei Manege gezogen, sozusagen als Held einer artistischen Affen-Nummer. Ein Schimpanse sollte zwischen zwei Podesten über ihn hinweg hin und herspringen. Das hat der Schimpanse auch ein paar mal gemacht, bis es zum zu blöd wirde. Er ist einfach zur Abwechslung auf dem Kopf von meinem kleinen Bruder gelandet und hat ihm sozusagen als Dank ein wenig auf die Schulter gepisst. Da war mein kleiner Bruder natürlich stinksauer auf den blöden Affen.
Jahre vorher, da war ich eta so alt wie mein kleiner Bruder, als er da zu dem Affen in die Manege gezogen wurde, hab ichg mal im Zirkus erlebt, wie ein Elefant während seiner Nummer sauer wurde und einfach aus seinem Ring ausbrach und anfing die Tribüne zu zerlegen. Das war auch nicht wirklich komisch, denn es war der Teil der Tribüne, in dem meine Tanrte und ich gesessen waren. Von der anderen Tribünenseite mag das schon lustig ausgesehen haben. Meine Tante und ich sind jedenfalls bloß noch gerannt, haben auch nicht viel von den lustigen Clowns gesehen, die den verrückt gwordenen Elefanten wieder zur Raison bringen wollten, sondern haben nur geschaut, dass der uns nicht erwischt, so durchgeknallt und sauer wie der plötzlich war.

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kid37 - Freitag, 27. April 2007, 14:52
Tumult! Ekstase! Dinge, die in keinem Programmheft stehen. Liest sich aber - und hier sei das Wort mal angebracht - toll.

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andreas luis - Donnerstag, 26. April 2007, 21:40
dachte, während ich las, ...
... an meine Versuche, mit tiefgefrorenen Bienen zu jonglieren.

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ruhepuls - Freitag, 27. April 2007, 14:32
Ich fühle mich erinnert an den Film 'Die Frau auf der Brücke', welcher hier vor langer Zeit ans Herz gelegt wurde und den ich daraufhin sofort bestellte. Ich wurde nicht enttäuscht und nun liegt er für besonders schöne melancholische Momente immer bereit.

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kid37 - Freitag, 27. April 2007, 14:50
Ganz toller Film, wir sprachen gerade davon. Den würde ich auch gerne noch einmal sehen, ich mag Daniel Auteuil.

Tiefgefrorene Bienen! Sehr schönes Bild. Ich lege an mit Richard Avedons Beekeeper.

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andreas luis - Freitag, 27. April 2007, 17:58
Beekeeper - präzise! ;-)
... aber duellieren werden wir uns nicht!

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