Freitag, 13. April 2007


Tango Mortale

Y la lampara del cuarto
Tambien tu ausencia ha sentido
Porque su luz no ha querido
Mi noche triste alumbrar.

(Pascual Contursi, "Mi Noche Triste". 1917)

Als heute morgen vom Nachbarbalkon leise Tangoklänge herüberwehten, gleich wie der Duft einer recht kleinen Tasse löslichen Kaffees, erinnerte ich mich wieder an die Zeit, damals in Argentinien. Wir lebten, man muß besser sagen, hausten, in einer von Cucarachas bewohnten Bude mit undichtem Dach und wackliger Veranda mitten im schäbigsten Vorort von Buenos Aires. Dort am Río de la Plata war das Leben von ewiger Schwermut und noch schwererer Sehnsucht geprägt. Doch das Elend der kleinen Arbeiter, der überstark geschminkten Straßenhuren, der Trickdiebe und gescheiterten Existenzen, die es aus Europa kommend in unser Viertel angeschwemmt hatte, rührte uns nicht an.

© José Guadalupe Posada
© José Guadalupe Posada

Beim Muchacho!, was waren wir jung! Wir waren verliebt und liebten uns sehr, außer sonntags, da war Kirche. Die Wohnung war klein, der Flur schmal und eng - und eng tanzten wir zu den Klängen des rostigen Aufziehgrammophons, das ich in San Telmo auf dem Marque del Puces erstanden hatte im Tausch für die falschgoldene Uhr meines Großvaters. Fast so sehr wie einander liebten wir die Musik. Abends zogen wir durch die kleinen Pinten in den Barrios, ebenso schlecht beleuchtete wie übel beleumdete Kaschemmen, in denen Touristen ihr Geld und mehr noch ihre Unschuld verloren.

Während ich das Bandoneon spielte, das ich im Unterdeck des Bananenfrachters an den habgierigen Blicken und Fingern der schlechtbezahlten Maate und noch abgebrannteren Auswanderer vorbei über den Ozean geschmuggelt hatte, füllte deine dunkle, volle Stimme die Hinterzimmer der Vinjeras, der von gelben Lampions erhellten Bodegas und Grillstuben. Die Lieder, die wir spielten, handelten vom Tod, von der Liebe und dem Leben der einfachen Leute. War es mein Bandoneonspiel, war es dein Gesang, das die Zuhörer zu Tränen rührte? Vielleicht waren wir beide es, der Duft unserer Liebe, der wie der einer satten Blüte über unseren Köpfen und unseren Herzen schwebte, eine Wolke aus Glück.

Und wie aus Wolken brach auf einmal der Regen los. Es regnete und regnete. Es regnete wohl sieben Jahre lang und danach regnete es einfach weiter. Am Ende war die Feuchtigkeit in die Wände gekrochen, fand sich in den Möbeln, der Kleidung, den Notenblättern. Und irgendwann, nach endlosen Zeiten, so schien es, fand sie sich auch in unserer Liebe. Eine ungesunde, modrige Atmosphäre legte sich um uns, machte deine Stimme fahler und mein Finger klamm. Das Bandoneon setzte Schimmel an, ich traf die Tasten nicht. Die Gelenke schmerzten, und deine Augen suchten immer öfter das flinke Spiel von Marco, der Kunststücke konnte mit seinem Rasiermesser.

Ich sah es wohl, und ahnte viel, ehe ich es wirklich wußte. Es gärte in mir, wenn ich euch die Habanera tanzen sah, in den vielen Pausen, die ich wegen meiner schlimmen Finger immer öfter einlegen mußte. In den Bordellen von La Boca, in denen wir aufspielten, hatte es immer viel Getuschel gegeben. Aber am lautesten traf mich das Tuscheln und Wispern über uns. Über dich und Marco, um genau zu sein. Und genau schaute ich hin. Sah sein schwarzes Haar, das wie dickflüssiger Schiffsdiesel glänzte, sah das gefährliche und lockende Blitzen seines goldenen Schneidezahns und das gefährlichere und darum noch lockendere Blitzen seines Rasiermessers. Er schnitzte damit Figuren aus einer Papierserviette, schnell, elegant und scheinbar ohne viel Aufhebens. Silhouetten von Blumensträußen oder kleine tanzende Pudel, tief dekolletierte, üppige Tänzerinnen und Stadtansichten von Paris, Venedig und Hamburgo. Orte, die er nie gesehen hatte, aber umso blumiger beschreiben konnte. Unecht, wie die papierenen Orchideen, die er mit einer nichtigen Bewegung seines Rasiermessers schnitt und den entzückten Damen ins Haar steckte.

Oh, auch dir. Ich weiß es genau. Auch dir faßte er ins Haar, in den Pausen und unbeobachtet geglaubten Momenten. Immer dann, wenn ich meine klammen Finger an einem feurigen Getränk zu wärmen suchte. Immer dann, wenn du mit einem Teller durch die Reihen gingst, nein schwebtest, um die Almosen der Betrunkenen und der Liebespaare einzusammeln, die unsere Musik gehört hatten. In der vordersten Reihe saß immer Marco, und er ließ mit einem lachenden Blitzen seines goldenen Schneidezahns mit der einen Hand eine Münze auf den Teller fallen, mit einem weithin hörbaren Pling, das lauter war sogar als der Husten, der nach jahrelangem Regen sich bei mir eingestellt hatte, und mit der anderen, bislang verborgenen Hand zauberte er eine frischgeschnittene Orchidee hervor, feingliedriger als die vom oberen Amazonasbecken, dort, wo die bizarreren blühen, die üppigen, selten gesehenen, und steckte sie, immer noch mit diesem blitzendem, goldenen, dreisten Lächeln um den Mund mit einer raschen Bewegung vorne an dein Kleid.


© José Guadalupe Posada

Als die schreckliche Nachricht kam, die entsetzliche, ging ein Klagen und Schluchzen durch das Viertel, hinunter zum Hafen, durch die Tavernen und die rauchigen Salons der Hurenhäuser. Nach einer mondlosen Nacht fand man deinen grausam zugerichteten Körper in einer der vielen dunklen Gassen, einer Caminito im finsteren Teil der Boca. Von Marco keine Spur, nur Blut. Soviel Blut, das manche raunten, es müsse aus zwei Körpern geflossen sein, so sehr hatte es die Ritzen im Pflaster des engen Gässchens getränkt, war zwischen Müll und Unrat geflossen hinein in die gierigen Mäuler räudiger grauer Köter, die im Morgengrauen die Spülsäume der Stadt nach Eßbarem absuchten.

Die Suche nach Marco blieb erfolglos, er blieb wie vom Erdboden verschluckt, ich war nicht überrascht. Die Polizei überreichte mir dein rotes Kleid, zerfetzt und verkrustet von dunklem Blut, ich nahm es, stumm, legte es auf das Bett, unser Bett, und setzte mich auf den abgewetzten alten Schemel, der daneben stand. Die Tränen wollten nicht fließen. Dabei war ich ein Gefangener des schwarzen Schmerzes, ich hörte das Klagen in den Gassen, die Trauer um den Verlust der schönsten Sängerin der Stadt - und doch war mein Herz auf einmal klamm, wie von einem Regen, der seit Jahren in mir fiel. Meine Finger aber waren nach jenem Abend flink geworden. Ich spielte das Bandoneon, huschte über die Tasten, entlockte dem ächzenden Instrument herzzerreissende Töne, unzüchtiges Sehnen und wehmütiges Stöhnen, so daß das ganze Viertel innehielt, still lag und den neuen Liedern lauschte, die so voller Melancholie und Trauer waren. Ich aber wartete auf die Tränen, die nicht kamen, sah auf meine tanzenden Finger und immer wieder hinüber zur Kommode. Dort wo Marcos Messer lag.