Im Mai berichtete ich von Joan Sfars Comic-Erzählung Der Mexikaner mit den zwei Köpfen. Eine phantastische Gruselmär, denkt man, über einen manisch-besessenen Mexikaner, der von einem im Kopf eingewachsenen zwergenhaften zweiten Kopf mittels finsterer Tricks manipuliert wird. Ein Foetus-in-Foetus, ein medizinisches Phänomen, das wohl öfter vorkommt als man gemeinhin denken mag. Zumeist verwächst aber der tote Zwilling unbemerkt irgendwo im Körper und ist - je nach embryonalem Entwicklungszustand - kaum nachweisbar. Selten finden sich voller entwickelte Teile des Zwillings außen am Körper des Überlebenden, denn meist, so die mir bekannte Theorie, findet die Verschmelzung viel früher in der Gebärmutter statt.
Sfars Figur des Mexikaners mit den zwei Köpfen jedenfalls basiert auf einem realen Vorbild, wie ich nun hier entdeckte. Pasqual Pinon, so der Name des Mexiakners, tourte ab 1917 mit dem Sells-Floto-Zirkus und sorgte für beachtliches Aufsehen.
Leider aber ist die Geschichte nicht ganz wahr (hört, hört!). Pasqual Pinon war ein Arbeiter bei der mexikanischen Eisenbahn und litt unter einem riesigen Tumor auf seinem Kopf. Bei einer Operation wurde ihm eine Platte aus Silber, die zu einem menschlichen Gesicht geformt war, unter die Haut des Tumors geschoben - wodurch sich ein echt wirkender zweiter Kopf ausbildete. Eine frühe Form der Body-Modification anders als zu rituellen Zwecken also. Eine Show.
Wer weiterlesen und entdecken möchte, empfehle ich
Sideshow World und eben
Phreeque.
Ich lernte vor 14 Tagen eine 25jährige Frau kennen, der im letzten Jahr ihr Zwilling aus dem Bauchraum entfernt wurde. 23 Jahre hatte sich dieser nicht bemerkbar gemacht. Vor zwei Jahren dann Übelkeit, Schwäche, Verhärtung des Abdomen. Trotz mehrmaligen Ultraschalls und vielem Röntgen schrieb man ihre Beschwerden zunächst einer hormonellen Störung und schließlich einer Anomalie am Ligamentum ovarii proprium zu. Ein Dorfarzt (sic) stellte dann die einzig angemessene Diagnose, nachdem die Apparatemedizin versagt hatte, und überwies die junge Frau in die Chirurgie. Die Operation "gebar" ihn dann … den Zwilling (mittlerweile kindskopfgroß) - ein abgekapseltes Geflecht aus Haaren, Zähnen, verstümmelten Fingern, Knochen, Zehen- & Fußnägeln.
Fatal - nicht fötal!: Als Folge der unbearbeiteten, psychischen Torsionen während des Krankheitsverlaufs & der "veterinärmedizinisch" unsensiblen Information über den Sachverhalt leidet die junge Frau nun unter einem dramatischen Konversionssymptom und dem Selbstvorwurf, auf "Kosten" ihres Geschwisters zu leben.
Auf Kosten des toten Zwillings leben. Bestürzender Darwinismus und ein schrecklicher Gedanke.
Dass das mit den toten Zwilling indes gar nicht so selten vorkommen soll, höre ich aber des öfteren. Und zwar von Leuten, die sich mit Familienaufstellung, Aurasehen und ähnlichem befassen. Ob man das als valide Quelle akzeptieren kann oder nicht, liegt wohl im Ermessen des Einzelnen.
Die biblische Geschichte von Jakob und Esau legt jedenfalls den Schluss nahe, dass es im Mutterleib und auf dem Weg nach draußen keineswegs friedlich zugehen muss unter Zwillingsgeschwistern.
Aber - (nein eigentlich nicht "aber") Sie haben - auch in meinen Augen - die dahinter wirkende Problematik (den, wenn man so wollen darf, latenten Text) exakt umrissen & getroffen. Ich hab's nicht ausführen wollen, um nicht gemaßregelt zu werden.
Die von Ihnen zitierte Platonische Idee wird ja gemeinhin mit der Trennung der Geschlechter in Verbindung gebracht, die dann wieder zueinander streben. (In Liebe vereint! Der ursprünglich Eros, die platonische Liebe ..etc.)
Nun sind wir ja gerade auf dem Hintergrund der Fließschen Erkenntnisse, die Freud dann übernommen hat, von der physischen Anlage her bisexuell. Wir haben also gleichursprünglich immer schon den Anderen 'in uns' - einmal abgesehen von der postnatalen, psychosexuellen Entwicklung -, den wir darum beständig ex- & wieder inkorporieren müssen (Melanie Klein).
In diesem Zusammenhang würde mich - eingedenk Ihrer umfassenden Belesenheit - sehr Ihre Einschätzung der mit diesen Fällen vielleicht verbundenen Doppelgängerproblematik im Sinne der homomorphen Identifikation interessieren. "Elixiere des Teufels" … aber auch so abwegige Darstellungen wie die Spiegelszene aus einem Marx-Brother Film, dessen Titel ich gerade nicht parat habe … oder dem von Ihnen zitierten Mexikaner.
Also: Wie gehen wir mit unserem je a/Anderen um?? Literarisch, filmisch, politisch & ökonomisch?!
Ich wollte den KommentarStatus nicht wieder überstrapazieren - darum ist der Gedankengang sehr instringent & eher rhapsodisch unbeholfen geraten.
Seltsam wenn die Kommentare länger werden als der Beitrag des Hausherrn. Da wird selbst eine Piratin schüchtern und verkneift sich ihre Gedanken.
Ich versuche mich wirklich kurz zu fassen, aber bei manchen Themen, die Her Kid anschneidet, fällt mir das sehr schwer. Es ist alles so wahnsinnig interessant.
Ich halt nun die Klappe!! Bin genau so gefrustet wie Sie, britbee, nur aus einem anderen Grunde eben - aber wie lässt sich das lösen??? Ich fürchte schon jetzt den Verweis des Herrn Kid & möchte darum auf der Stelle erblinden!!
Wissen ist auch nicht Bildung. Querbezüge, das sind meine Baustelle. Verbindungen und Fäden ziehen, Tunnel graben zwischen den einzelnen Bohrlöchern und tiefen Stollen des (meist) nutzlosen Wissens.
Das zweite Ich.
Jemand, der einen völlig versteht, jemand, der ein vitales Interesse an der vollständigen Symbiose, nach Verzehrung und Inkorporation besitzt, für das sexuelle/erotische Akte nur Substitutionen und Annäherungen sind. Viele Körperfetische zielen doch genau in diese Richtung (wie z.B. der soeben von SpOn "entdeckte", lange bekannte japanische "Spucke-Fetisch"). Jemanden "zum Fressen gern" haben. Solche Dinge. Maximale Nähe eben.
Das kann sich auf getrennte Geschlechter beziehen, so wie in der Fabel. Vielleicht liegt der aber eben ein relativ "simpler", reichlich mechanischer Vorgang des Verdrängens, Tötens und Inkorporierens im Mutterleib zugrunde. Immerhin ein faszinierender Gedanke. Ein wenig unheimlich, natürlich.
Ich kann es nicht argumentativ und assoziativ begründen, ich glaube aber weiterhin, dass der Kugelmensch uund was daran so alles hängt nicht die gleiche Baustelle ist wie das Zwillingsthema. Da gibt es Schnittmengen, aber eben doch nicht die völlige Kongruenz.
Zumal das Kugelmenschenthema ja nicht nur eine strark sexuelle Komponente hat - sondern auch mit der Fortpflanzung zu tun hat, Und zwar wie folgt: Die Theosophen und andere mystische Schulen lehren ja von fünf Wurzelrassen, deren vierte wir sind. Wie auch immer man dazu stehen mag, jedenfalls glauben diese Leute, dass der Mensch inklusive der drei Vorstufen so alt ist wie die Dinos - und die erste und zweite Wurzelrasse habe ich nicht durch geschlechtliche Fortpflanzung vermehrt, sondern per Parthogenese. Die Trennung in zwei Geschlechter sei erst danach erfolgt. Und die Geschichte von Plato sei eine verkürzte Parabel auf einen Teil dieser umfassenderen Geschichte. In der Geheimlehre von Frau Blavatsky finden Sie da mehr drüber...
Nachtrag: Ich sollte hinzufügen, dass ich die Lehren von den fünf Wurzelrassen, der Parthogenese und den versunkenen Kontinenten Lemurien und Atlantis nicht für gottgegebene Wahrheiten halte. Sondern eher für mythische Umschreibungen von Wahrheiten, von denen wir nur einen kleinen indirekten Abglanz an der Wand von Platos Höhle ahnen können...
(Jetzt aber erstmal ab ins Bett, ich deliriere schon wieder.)
Sie haben natürlich recht. Ich füge kühn zwei Gedankengebäude zusammen. Ich meine ja nur, wenn so viele Leute suchen und suchen und ihre Kugelhälfte nicht finden, vielleicht suchen sie falsch und sollten lieber ein CT machen?!?
Aber hier geht's mir nun so, dass ich mich argumentativ & thematisch in den Beiträgen zum "crypto-heteropagus" & den inhärenten kulturgeschichtlichen & psychosexuellen Implikationen auf anheimelnde & wunderbare Weise wieder finde. Doch nicht nur in diesen Beiträgen!! Fast macht's mir Angst!!-?!
Ich teile die Auffassung von arboretum - ohne Vergessen leidet der Spaß (am (Geistes)-Leben). Sofern Spaß leiden kann? - Ich leide immer ... & zu gern. Spaßvogel.
"Es" lässt sich aufschieben, lustvoll, anal - aber nur, um es lust-voller auslassen (ausgelassen?) zu können. Lethe?
Ja, ein Kreuz. Herr Bartleby, ich danke Ihnen, daß Sie mich an meinen Kulturauftrag erinnern. In letzter Zeit wurde zuviel geplaudert. Ich wurde in anderen Blogs schon ermahnt. Zurecht. Immer zurecht.
viel häufiger sind dermoide (dermoid-zysten) oder teratome ... aber die kommen aus einem selbst ... zellen von früher, als noch aus allen zellen fast alles werden konnte ... übrig gebliebenen zellen von der ganz frühen menschwerdung
weil solche zellgebilde oft haare, zähne, knochen(teile) usw. enthalten, glaubte man FRÜHER, es seien abgestorbene zwillinge ...
mir sind in den jahren schon drei entfernt worden ... demnach wäre ich der überlebende teil von ehemals vierlingen ... naja.
diese hartnäckigen geschichten scheinen mir eher ein bedürfnis zu sein nach dem anderen ich ... dem *verlorenen* teil ... was weiß ich.
ein psychologisches problem eben.
und wenn jemand sein leben nun damit verschwenden will, sich vorwürfe zu machen, er oder sie lebte auf kosten von anderen / eines anderen ... des zwillings eben ... dann geht mir gegen ende das verständnis aus.
Aber Teratome mit Zähnen? Nicht wirklich oder? Das mag ich nicht so recht glauben. Der Link ganz oben definiert ja das Foetus-inFoetus-Phänomen in erweiterten Grenzen:
"A fetus-in-fetu is an encapsulated, pedunculated vertebrate tumor. The minimal criteria generally required include the presence of an axial skeleton or a fetus with metameric organization, skin coverage, encapsulation and a two vessel cord."
Und nennt dann neben dem "parasitären Zwilling" ausdrücklich die von Ihnen erwähnten "germ cells from the host that evolve on their own".
Ich weiß, daß Sie in der Hinsicht den besseren Abschluß als ich besitzen, möchte aber dennoch widersprechen. Ich denke nicht, daß es sich ausschließlich um eine Sage handelt.
Es wird ausdrücklich auf den differentialdiagnostischen Unterschied zum Teratom hingewiesen:
"The presence of a rudimentary spinal architecture is used to differentiate a fetus-in-fetu from a teratoma, since teratomas are not supposed to develop through the primitive streak stage (12-15 days). This last criterion has been considered too stringent by many authors who regard a rudimentary body architecture (metameric segmentation, craniocaudal and lateral differentiation, body coelom, “gestational sac”), or the presence of an associated fetus-in-fetu as equivalent criteria. Although teratomas can achieve striking degrees of differentiation by the inductive effect of adjacent tissues on one another, they do not present the criteria mentioned above."
Psycho-philosophisch ist das Phänomen so oder so interessant.
Frau Kopfherz neigt ja zum Jonglieren mit dem ABC. Da wundert einen das Vorhandensein von drei anderen Knilchen in ihrem Inneren eigentlich nicht.
Jetzt mal philosophisch betrachtet. Nicht medizinisch. ;-)