O Rose, thou art sick!
(William Blake, "The Sick Rose". 1794.)
Zwischen Nacht und Bangen entwickeln sich ja oft die luzideren Momente im Leben.
So muß ich wohl neulich im Nachtbus, als ich in den barocken Versen von Martin Opitz las, einen wahrhaft prophetischen Moment erwischt haben, ohne daß ich es ahnte.
Heute morgen fragte ich mich beim Blick in den Spiegel, warum um alles in der Welt ich mir einen Tischtennisball in die Backentasche gestopft hatte. Call me Mumpsgesicht!, dachte ich, fand aber zugleich in dieser Elefantenmenschvisage den Beweis, daß die heftigen Zahnschmerzen, die mich die halbe Nacht wachgehalten hatten, keinem absinthgetränkten Delirium entstammten.
Kurz vor dem Wochenende habe ich solche Dinge ungerner im Haus als sonst schon und so fand ich mich kurz darauf nicht beim Zahnarzt meines Vertrauens, aber seiner Urlaubsvertretung wieder. Ich berichtete ihm vom Brodeln unter der Goldkrone auf 4-6, er wackelte pessimistisch mit dem Kopf und führte mich dann in sein kleines Fotostudio. Das schien mir so Küche, Lager und Röntgenraum in einem zu sein, er selbst ging auch nicht etwa hinter eine Schutztür, sondern trat nur drei Schritt zurück, um einen Schalter im Nachbarraum zu betätigen. Dann durfte ich ihm die Rolle Alufolie zurückgeben, mit der ich zuvor wesentlichere Teile meines Körpers bedeckt gehalten hatte.
Als das Röntgenbild fertig war, verstärkte sich sein pessimistisches Kopfwackeln, und er murmelte was "Wurzelspitzen", erweichten Knochen und "damit wären Sie nicht übers Wochenende gekommen". Das Wort "Abszeß" machte alsbald die Runde. So schlimm sei es aber noch nicht, vielmehr seien mein Zahn und ich Opfer einer "Infiltration".
So weit ist es also bereits wieder, dachte ich, während der Arzt nach einer Exzisionszange griff. Noch hegte er nämlich die Hoffnung, meine Goldkrone retten zu können, zwecks späterer Wiederverwendung. Er mühte sich dann auch eine Weile, flanschte, dengelte und bog in meinem Mund, bis er fluchte und schwitzte und schließlich den Löffel das Werkzeug hinwarf. So habe es keinen Zweck, grummelte er, während ich fasziniert, aber auch ein wenig ermattet in den Behandlungsstuhl sank. Dann enthüllte er mir seinen Plan B: Er werde, einem Kamin gleich, ein Loch von oben in den Zahn bohren, damit die Dinge in Fluß gerieten und die entzündeten Eiterherde mein Zahnfleisch nicht weiter ins Kugelige verformen können.
"Und da betäuben wir nicht"? fragte ich zaghaft, während er sich mit seinem Bohrgerät näherte. "Ach," antwortete er leutselig. "Lassen Sie es mich so ausdrücken: In der Pathologie betäubt man die Leichen auch nicht mehr, bevor man sie seziert." Da wo er bohre, er müsse es so sagen, sei alles tot.
"Schön," stöhnte ich. "In der Pathologie habe ich selbst zwei Jahre während des Studiums gearbeitet..." - "Dann kennen Sie das ja", unterband der Dentist meinen Anflug von Fachsimpelei. Das Bohren ging dann auch gleich in Gang, bis es plötzlich - und nun zurück zur Prophetie - gleich dem Zischen der Hydraulik in der Bustür tönte - und eine finstere Wolke putrider Gase meinem Mund entströmte. Die Assistentin zuckte unwillkürlich zurück, der Arzt dröhnte mit sichtlicher Freude: "Haben Sie das mitbekommen? Haha, ein schöner Eiterherd." Mir fielen die Verse Martin Opitz' ein:
Ein scheußlicher Gestanck
Wie sonst ein faules Aaß auch von sich pflegt zu geben
Roch aus dem Hals' herauß
Das war der Beweis. Der Kid ist böse durch und durch! Innerlich verrottet und stinkend wie eine lebende Leiche! Noch aber solle ich nicht alle Hoffnung fahren lassen, meinte der Dentist. "Wir wollen die Sache mal offen lassen, Sie nehmen Penicillin, und am Montag sehen wir weiter."
Mit zerstörter Krone und moralisch schwer angeschlagen wankte ich aus der Praxis. Auf dem Weg zur Apotheke, begegnete mir eine Frau mit Beinen bis zum Hals ungefähr drei Meter langen Beinen in Ringelstrümpfen. Das wäre normalerweise ein Ereignis gewesen, das mich über ein langes, einsames Wochenende getragen hätte. Aber heute verfluchte ich es als Hohn des Schicksals. Jeden Moment rechnete ich damit, daß ausgerechnet jetzt Liv Tyler oder Angelina Jolie ohnmächtig zu meinen Füßen zusammenbrechen und um Mund-zu-Mund-Beatmung röcheln würden. Einem achtzigjährigen Greis müßte ich den Vortritt lassen, nur weil mir der Rosenduft, der für gewöhnlich meinem Munde entströmt, abhanden gekommen ist. Vade retro! rufen die Weiber dieser Stadt, der Kidhaftige kommt! Vielleicht sollte ich mir einen Bocksfuß zulegen.
Was Ihren Zahn angeht: Mir ist so was auch nicht unbekannt, allerdings habe ich den Freitag zu kostbar empfunden, um zum Zahnarzt zu gehen, wie mein Wochenende war, müssen Sie nun wirklich nicht fragen. Wie das später ausgegangen ist, sage ich Ihnen an dieser Stelle nicht, irgendwann einmal, aber nicht jetzt, nicht heute.
Ich fände ja so eine spitze Mistgabel schöner als einen Bocksfuß.
Tatsächlich hatte ich so ein Wurzelspitzeninvasion auch mal. Wachte morgens mit derart geschwollener linker Gesichtshälfte auf, dass ich mich kaum aus dem Haus traute. Und weil die Chose auch gar nicht weh tat und ich keinen Plan hatte, was das sein kann, bin ich auch erst mal zur Allgemeinärztin getapert. Die schickte mich dann zum Kauleistenklempner - und da musste ich in der Folge dann noch ziemlich oft hin...
(Bei Äpfeln und Birnen nennt man das Phänomen des bräunlichen Inneren bei gleichzeitig attraktivem Äußeren übrigens "Lagerfäule". Das ist Ihnen aber vermutlich jetzt zu wenig metaphysisch.)
Ich wollte ja eigentlich nächste Woche zum Papst nach Köln, aber nun kommt alles ein wenig anders. Muß ich das mit ihm halt schriftlich ausmachen, die Spreepiratin kann mir bestimmt wieder die eMail-Adresse besorgen.
benediktxvi@vatican.va
Der Papst mag Sie aber bestimmt auch mit faulem Zahn und freut sich, wenn Sie trotzdem kommen.
Gute Besserung. Schauen Sie sich Ringelstrümpfe an und weniger Schwarz-Weißes. Farbe ist gut fürs Gemüt. :)
Ich hoffe, die Post bringt Ihnen das Trostpflaster zur rechten Zeit!
Zum Thema: Heute gab es Zahn-Akupunktur. Mit hübschen Nadeln verschiedener Dicke wurde wie beim Schornsteinfeger in den Wurzelkanälen herumgeprokelt - muß man nicht betäuben, fühlt man dann auch mehr. Zu den brandigen Gerüchen des eigenen Körpers mischt sich eine Wolke Natriumhyperchlorid - jetzt habe ich das Gefühl, ein halbes Schwimmbad oder Haushaltsreiniger inhaliert zu haben.
(Don't try this at home, kids!)
Nun gut, so genau wollten Sie das nicht wissen. Nächstes Thema: Vielen Dank! Das Trostpflaster lag heute in meinem Briefkasten. Sie sind sehr aufmerksam. Ich werde mir heute damit einen schönen Abend machen.
Zu den anderen kondolenzwürdigen Zuständen äußere ich mich ja oft nicht so gerne, da bewegt man sich doch oft sozusagen auf dünnem Eis und bricht schonmal ein, da wo es dem anderen gerade nicht wohltut; aber für Gelächter sorgen Sie da bei mir beileibe nicht. Andere mögen da weitaus gröber gestrickte Denkweisen haben.
Ja, machen Sie sich einen schönen Abend, sofern das damit geht.
Also, falls Sie dabei doch einmal etwas fühlen möchten, brauchen Sie nur versehentlich einmal Ihren Mund ein Stück zuzumachen, wenn der Zahnarzt zwischendurch für einen Moment aus dem Zimmer geht und Sie mit all den Nadeln im Mund eine Weile sitzen lässt. Unglaublich intensive Empfindungen hat man dann. Und den Mund ganz schnell wieder offen.
Der erste Zahnarzt war bestimmt Katholik.
@ Marie: Ach, wagen Sie ruhig. Weisen Sie mich notfalls zurecht. Zudem kennen Sie dieses vereiste Gewässer selbst wie Ihre Westentasche, da werden Sie schon die richtigen Worte finden.
@Herr Kid: nun gut, das eine oder andere Mal werde ich es dann wagen.
Hm, ich dachte seit den Hexen von Eastwick, daß Frauen durch so einen Bocksfuß ganz willig und schwach würden. Vielleicht sollte ich wirklich die Mistgabel als viriles Attribut probieren. Mittlerweile ist dem Zahn ganz wohl und mir dementsprechend auch. (Zum ersten Mal seit Tagen habe ich das Gefühl, da wurde jetzt wirklich dran gearbeitet - und nicht nur provisorisch. Gleich ein gutes Gefühl bekommen. Heute gleich shoppen gewesen im Rot-Kreuz-Laden in Wandsbek und Schnäppchen gemacht. Noch besseres Gefühl bekommen.)