Während frühere Generationen Schwierigkeiten hatten,
über Sexualität zu sprechen, hat man heute ähnliche Probleme mit der Moral.
Die Art und Weise, in der man heute etwas über sexuelle Moral erfährt,
ähnelt in mancher Beziehung der, wie man früher etwas über Sex erfuhr.
(Ruth Westheimer/ Louis Liebermann. Sex und Moral. Basel, 1990.)
Die "Spaßgesellschaft", so Regina Ammicht-Quinn*, habe sich heute "den Leitspruch der Filterzigarettenindustrie zu Eigen gemacht: Genuß ohne Reue." Sexualität ist Tausch- und Nutzobjekt. "Repressive Kontrolle" sei zwar zurückgewichen, habe sich aber verlagert - auf den Körper. "Nicht mehr der bürgerliche Akt der Heirat, sondern vielmehr ein bestimmtes Verhältnis und ein bestimmter Zustand des Körpers wird zur Voraussetzung 'richtiger' Sexualität."
Houellebecq hat ja aus dem Topos "Warencharakter der Sexualität" eine ganze literarische Karriere geschmiedet. Letzten Endes greift er aber nur genau diesen Aspekt auf: die Übertragung des Foucault'schen Begriffs vom Repressions-Faschismus auf den Körper-Faschismus der Vitalisten. Schöner, härter, stärker, fester, runder, größer. Niemand kann heute mit dem Pokal einer "Miss Besenreiser 2005" einen Blumentopf auf dem Sexualmarkt gewinnen.
An jedem Kneipenstammtisch ist es zudem leichter, sich über exotische Sexualpraktiken zu ergehen, als über Fragen der Moral. Es mit Gemüse zu treiben, bringt einen nicht in Verruf, wohingegen jeder Gelächter erntet, der das Wort "Moral" nur in den Mund nimmt. Sexualität macht uns keine Angst, brennmichbeißmichpeitschmichfickmich, aber der komplexe Begriff "Moral" (was immer das dann ist) provoziert und belustigt wie sonst nur der zweite große Tabubegriff - "Glaube".
Der Film Dreizehn (USA 2003) zeigt das am Beispiel der Mechanismen einer Teenagerclique. Was früher die rigide Moral einer Kirche, eines Staates war, ist heute häufig durch den "Freundeskreis" ersetzt. Die Frage, welche Jeans man trägt, welche Musik man hört und welchen Film man gut findet, ist lange keine individuelle Entscheidung, sondern ein Ergebnis der Geschmackspolizei des Gruppenzwangs. Selbst die Lebensgefährten unterliegen in solchen proto-faschistoiden Vereinigungen einer strengen Selektion: "Also, wenn der kommt, kommen wir nicht" , heißt dann die Form des Erpressens und Zurechtformens. Nicht jeder hat da Rückgrat genug, dem zu widersprechen.
Wer aber solche Freunde hat, braucht wahrlich keine Kirche. Die gewonnene "Freiheit" ist dann nur ein anderes Wort für den Zwang "mithalten" zu müssen.
(* Regina Ammicht-Quinn. "können, sollen, wollen, dürfen, müssen".
In: Sex: Vom Wissen und Wünschen. München, 2002.)
Wenn wir uns indes fragen, wie es kommt, dass der Kurswert des Begriffs "Moral" so tief im Keller steckt (während der "Sex"-Index nach wie vor overperformt), dann erinnern wir uns, wer uns schon alles mit moralischen Argumentationsketten in irgendeine weltanschauliche Ecke, Religionsgemeinschaft oder sonstige Konformitätsstruktur hineinlabern wollte. Demnach wäre es jetzt, wenn ich Sie richtig verstehe, an der Zeit zu erkennen, dass uns diese Konformitätsfalle mittlerweile auch am anderen Ende des Spektrums im Griff hat.
OK, auch in diesem Punkt bin ich noch bei Ihnen. Was aber schlagen Sie vor - wie sollen wir den Moralbegriff für uns neu definieren und mit Leben füllen ohne in die ältere Konformitätsfalle zu tappen?
Nachtrag: Müssen wir also nicht die Umwertung aller Werte erneut in Angriff nehmen, sokratische Fragen stellen, was ist moralisch, was ist unmoralisch, nur um dann festzustellen, dass wir eigentlich gar nichts wissen, sondern dazu verdammt sind, alles von Grund auf permanent neu zu erarbeiten und immer die entsprechenden Schlaglöcher der Geistes- und Sozialgeschichte im Blick zu behalten auf dass wir nicht nochmal reinknallen?
Anyway, rechnen Sie nicht mit allzuviel lautstarkem Widerspruch gegen Ihre Diagnose. Denn Ihre Prämisse, Moral sei der neue Tabubegriff, steht nach meinem Dafürhalten auf sehr wackligen Beinen. Es gibt durchaus ein grundlegendes Bedürfnis nach moralischen Maßstäben. Nur sind die des alten Äons nicht mehr tragfähig und bindekräftig, und die des neuen Äons haben sich noch nicht konstituiert aus dem derzeit vorherrschenden Chaos. Aber das wird schon werden, in ein paar Jährchen werden wir sehr viel klarer sehen, was das next big thing ist, moralmäßig...
Ich frage mich selbst. Ich denke, es gibt auch nur Fragen. Wer Antworten hat, lügt. Es ist ja ungeheuer schwierig und komplex.
Moraldebatten enden doch meist so: Der ertappte Verkehrssünder sagt, ach, war gar nicht so schnell. Oder: Machen hier doch alle so. Das ist ja ein altes psychologisches Prinzip, wenn man es unangenehm findet, sich ertappt fühlt, zu unsouverän sit, die Schuld einzugestehen. Im zweiten Schritt heißt es gern: Was wollen sie denn? Sie gehen doch selbst bei Rot über die Straße!
Wenn das dann nicht hilft, kommen endlich die Bibelzitate (Balken im Auge, ersten Stein werfen, blabla). Das ist natürlich nur bequem und kein Konzept. Menschlich eben. Machen wir wahrscheinlich alle ab und an.
"Füllen" kann man es wohl nur selbst. Ich bin kein Philosoph, ich versuche es eher mit Philip Marlowe. Alles beginnt beim "Know thyself", also diesem transzendentalistischen Prinzip. Aber das wäre schon wieder eine Antwort. Die kann für andere ganz anders aussehen.
ja! sprechen wir über religion, rückverbindung. was ist das für sie? ein hochspannendes thema. für mich allemal.
Genau das gilt es auszuhalten, wenn man der Konformitätsfalle entgehen will. Als kleinsten gemeinsamen Nenner in Sachen universaler Moralerwägungen kann man ja immer noch die sogenannte goldene Regel hernehmen ("Was Du nicht willst, das man Dir tu..."). Wenn das beherzigt wird, ist schon viel gewonnen...
Und dass selbst diejenigen, die meinen, solche "Einschränkungen der eigenen Freiheit" seien überholt, sich dafür in den allermeisten Fällen mit dem Glück rechtfertigen, was für alle Beteiligten dafür rausspringe ("seit ich fremd gehe, ist der Druck weg, und davon profitiert ja auch meine Frau" - alles schon gehört), zeigt für mich, wie unwohl auch ihnen letztlich dabei ist. Ich bin davon überzeugt, dass letzten Endes jeder spürt, wo er ein Schwein ist und welche Verhaltensweisen ihm selbst und andern gut tun. Und alle Versuche, sich seine Welt dennoch schönzureden, kosten reichlich Kraft. Die wirklich pathologischen Fälle ausgenommen - aber die dürften wohl zu jeder Zeit gleich häufig gewesen sein.
Was in meinen Augen den Blick auf solche "Werte" eher versperrt und die Diskussion vergällt, war immer schon die einseitige Blickrichtung - nicht zuletzt auch in der guten alten katholischen Erziehung. "Du sollst nicht... weil du dem anderen wehtust". Natürlich ist das ein gültiges Argument. Aber noch viel eindringlicher könnte die Einsicht werden, dass ich mir selbst schade, wenn ich anderen schade. Dass ich z. B. mich selbst in zwei Teile schneide, wenn ich fremd gehe. Dass ich mir die Freiheit nehme, zu jeder Zeit ich selbst sein zu können und mich nicht verstellen zu müssen. Dass ich Bestätigung und ein Gefühl meines eigenen Wertes daraus ziehen kann, wenn andere mir vertrauen können. Ich finde einen Altruisten, der seinen eigenen Wert nicht kennt, genauso unerträglich wie einen Egoisten.
[Wo ich Ihnen uneingeschränkt zustimme, Hr. Kid, ist in punkto der faschistoiden Körper- und Gesundheitskultur - Sexualität eingeschlossen. Allein die Menge an E-Mails pro Tag, die sich um mein Sexualorgan und die Quantität dazugehörender Körperflüssigkeit sorgen, spricht Bände für die Komplexe, mit denen wohl viele auf diesen Leistungsdruck reagieren. Über Schlankheitswahn und Körperformung-by-Skalpell mag ich erst gar nichts mehr sagen.]
"I contain a multitude", sagt Walt Whitman. Jetzt einzelne Begriffe festzunageln und die eine Richtung gegen die andere ins Feld zu führen, ginge an der ursprünglichen Beobachtung vorbei. Ich finde diesen, ich sage mal, Paradigmenwechsel interessant (also das, was Ruth Westheimer bemerkte).
Vor hundert Jahren waren moralische Richtlinien klipp und klar definiert - und Sexualität im öffentlichen Diskurs diffamiert: Hände über die Decke, sonst Rückenmark weg, Frauen an den Herd, Augen zu, an England denken usw.
Wer heute wissen will, was Fisten oder Bukkake ist, kann sich innerhalb von zwei Minuten umfassender informieren (?) und erfährt womöglich mehr als ihm lieb ist. Bei Fragen der "Moral" (ja genau, was immer das auch sei) wird man nur im Nebel stochern. Dies aber sei unser Mysterium.
(Übrigens nehme ich privat das Wort Moral so gut wie nie in den Mund. Das wird mir nur immer unterstellt, weil ich so salbungsvoll rede und gleichzeitig eine Hand unter dem Tisch halte. ;-))
Offenbar ist es aber wirklich ein spannendes Thema.
"Die Jugend" ist Marken-fetischistisch, "Die Sexualität" wird zu leicht genommen, "Die Moral" verkommt, "Die Kichentage" platzen vor jugendlichen Besuchern... ups?!
Lasst die Vielfalt leben, Freunde. Wenn es überhaupt eine Errungenschaft der "Neuzeit" (?) gibt, dann diese. Und ich kenne viele Menschen, die - wenn selbstbewusst genug - sich ihre Moralität selbst basteln und dabei glücklich sind. Glücklich, weil sie nicht mehr den (überkommenen) Vorstellungen der Eltern, Grosseltern, Lehrer, Kirchen punktgenau folgen wollen... und es auch nicht müssen. Gott sei Dank:)
Und auch dieses: Nur vor dem Hintergrund, dass viele Menschen schon heute in der Lage sind, sich ihr eigenes "Glück zu schmieden", wird mir die absehbare Alterung der Gesellschaft halbwegs erträglich...
Allgemeinverbindlich ist (zum Glück) nichts mehr. Es ist, wie Sie sagen: Jeder bastelt sich seinen eigenen Wertekanon.
Auf die moralische Instanz würde ich mich schon allein aus historischen Gründen nie verlassen (Caligula, ick hör dir trapsen). Die Sexualität mag heute ihrer vermeintlicher Hemlichkeit beraubt sein, aber für eine
Das erste Mal ist immer geheimnisvoll, logo. Aber schicken wir diese junge Person mal ins Internet oder zu McD: Sie wird schneller eine endgültige Antwort erhalten, worauf sie beim *** (insert any deviant sexual activity) achten muß als auf die Frage, ob sie mit dem Freund ihrer Schwester poppen darf oder nicht. Möglicherweise würde das selbst ein protestantischer Pastor den Kopf neigen und vom "einersetis - andererseits" reden. Bei den Katholiken bin ich mir gerade nicht sicher, ich frage vielleicht in der Mittagspause mal nach.
Und sicher sind die gerade deswegen auch bei vielen Jugendlichen sehr beliebt: Endlich mal klare Aussagen (egal wie kritisierbar die sind)!
Nicht immer dieses (falschverstandene) "Tu was du willst!".
Ansonsten gilt ja ökomenisch immer noch das elfte Gebot.
Die Erklärungsnöte, die Herr Kid bei den Evangelischen diagnostiziert, sind wahrscheinlich weniger allgemein-theologisch-exegetischer Natur, sondern eher an bestimmten Themen und einzelnen Vertretern festzumachen.
Also was ich von protestantischen Pastorinnen und Pastoren schon für synkretistische Glaubensmischungen präsentiert bekommen habe, das spottet jeder Beschreibung. Da kann von außen schon mal der Eindruck aufkommen, da könne jeder in den theologischen Baumarkt gehen und sich seine eigene Lehre zusammenschrauben wie sie grade in den jeweiligen Kirchhof passt. Aber natürlich kann man das nicht so verallgemeinern. Es gibt diese Tendenzen auch auf katholischer Seite, nur läuft das halt mehr unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle ab.
Und Leute wollen unterhalten werden, lachen können.
Und wer will heutzutage schon uncool oder humorlos sein.
Ich frage mich, inwieweit diese Sexualisierung der Gesellschaft ein alters- und schichtspezifisches Phänomen ist - und wieviel davon überhaupt nur auf medial erzeugter Projektion beruht. Sprich: Die Medien machen dieses Fass dauernd auf, weil es die Auflage und die Einschaltquote bringt, und entsprechend findet sich dann auch Publikum, das die medial vorgegebenen Rollenbilder so auslebt in der Hoffnung, cool, angesagt, hip und sonstwas zu sein. Und dieser Wirkungszusammenhang ist natürlich selbsterhaltend und - verstärkend.
Aaaaber: Das ist nicht repräsentativ für die ganze Gesellschaft, sondern nur für einen bestimmten Ausschnitt. Und auf die Gefahr hin, als uncool, verklemmt oder sonstwas zu gelten, sage ich es hier ganz offen: Es sind nicht gerade die hellsten und brilliantesten Köpfe der Gesellschaft, die sich permanent und lautstark mit ihren Unterleibern befassen.
Jenseits der religiösen Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben mag dann die Vielfalt überfordern, zumal keine der Antworten auf die Frage "Was ist gut" unbedingt zwingender erscheint als die anderen. Neben der Frage nach den Kriterien dessen, was man "gut" nennen darf, tritt dann auch noch die leidige Frage des cui bono, und der überforderte Konsument schleicht sich endgültig in die unkomplizierten Gefilde der Beliebigkeit, legt sich da aufs Sofa und wird ein Gelegenheitsmoralist, der für jede Lebenslage mehr oder weniger eloquent die passende Rechtfertigung aus der Hosentasche ziehen kann.
Was bleibt, sind die Sinne: Die Frage nach dem richtigen Leben mag ebenso schwierig erscheinen wie die nach Sinnhaftigkeit, Woher und Wohin. Die Sinne indes haben ihre eigene Realität, und die Manie, mit der Sexualität zelebriert wird, lässt manchmal spüren, das hier eine letzte Sicherheit in den durcheinenden Boden der Realität gepflanzt werden soll: Die Wahrhaftigkeit der Sinne, die auch dann bestünde, wenn dies alles nicht mehr sein sollte als Illusion, Projektion einer Idee: Seifenblasen in einem Garten, der sich unserer Erkenntnisfähigkeit entzieht.
Aber nun genug geschwafelt. Löschen Sie das, wenn es Ihnen genau so wirr erscheint wie mir.
Der bin ich auch deshalb, weil mir ja ebenfalls Gewißheiten und Antworten fehlen (Und ich zucke unwillkürlich vor denen zurück, die sich im Besitz solcher Schätze wähnen. Cui bono, ganz genau. Diese mißtrauische Frage stelle ich mir da auch immer wieder.)
Noch ein Indiz: Die Reaktion, auch hier in den Kommentaren abzulesen, lautet reflexartig: "Definieren Sie mir mal Moral" oder "Definieren Sie mir mal Glauben". Nie sagt einer: "Definieren Sie mir mal Sexualität".
Keine Ahnung, was es bedeutet, bemerkenswert ist es allemal.
Zu fragen wäre nämlich unter anderem, ob wir das ganze öffentliche Gequatsche über Sexualität als Teil der Sexualität betrachten wollen oder als übergeordnete Meta- oder Nebenschublade.
Mehr Definitionen und Klassifikationen und weniger Abstraktionen!
Ach ja: Und nieder mit dem QuartSEXtakkord!
Kann man eigentlich über das eine ohne das andere reden? Ich meine, ist schon Sexualität, was sich nach den Gesetzen der Physik und Biomechanik vorstellen läßt? Haben Blumen und Bienen eine Moral? (Da Pflanzen ja auch sprechen und Schmerz empfinden können, schließe ich das nicht aus. Immerhin gibt es ja auch ein transzendentales Bewußtsein. Meiner Meinung nach.)
Fisten und ficken und Bäumchenwechseldich-Spiele gab es schon vor hundert Jahren und nur weil ständig und überall darüber gesprochen wird, sind sie weder anstössiger noch aufregender geworden. Dass man an jeder Ecke damit konfrontiert wird, macht es auch nicht interessanter oder verruchter und wer da mit wem und auf welche Art, das ist deren Sache und wenn es Spass macht, tja, bitte schön, wegen mir. Sex wird ständig überbewertet (ja, das aus meinem Munde, hört, hört), entweder wird man davon erschlagen oder man macht sich Gedanken darüber, warum alle so viel Spass haben, während man selber nur heftig masturbierend zuschaut. Mit Moral hat das nix zu tun, es sind die Sehnsüchte und die Hormone, die angesprochen werden - und in der heutigen Zeit auch der Geldbeutel, denn Sex sells und mit Sex lässt sich Geld verdienen.
Moral ist für mich anderes Wort für Gewissen und Menschlichkeit. Ich habe mit der Kirche nicht viel am Hut, dieses ganze Blabla entlockt mir meistens nur ein mildes Grinsen, dennoch bin ich gerne Christ, denn als Christ zu leben bedeutet mir, den Blödmann, über den ich mich ärgere, nicht zu erschiessen, sondern aus dem Wege zu gehen. Oder der alten Dame die Handtasche nachzutragen anstatt sie auszuplündern. Oder in einen stillen Waldweg zu fahren, anstatt mitten in der Stadt Autosex zu haben. Oder der Freundin nicht den Partner auszuspannen, obwohl der mir schöne Augen macht. Und so weiter und so weiter und so weiter.
Die Moral nur in Richtung Sexualtität zu drängen, macht sie zu einer bemitleidenswerten Farce.
Bin ich vom Thema abgekommen? Ach, egal, ich habe heute Blubbertag.
... ist vielleicht eher Teil des Problems als der Lösung. Die Haltung, alles sei erlaubt, solange alle ihren Spaß dran haben, verkennt, dass Vergnügen nicht zwangsläufig das Maß aller Dinge ist. Welchem Maßstab menschliches Handeln unterworfen ist, muss man vieleicht diskutieren. Oder erkennen. Oder einfach nur glauben. - Ihre Definition des Christseins allerdings hat mit Glauben offenbar wenig zu tun. Jede mir bekannte Morallehre würde nichts anderes postulieren, und eine Religion, die anordnen würde, alte Damen auf dem Fußgängerstreifen zu überfahren, ist mir auch nicht bekannt. Mag sein, dass gerade die Trennung der von der Vernunft annehmbaren Teile einer Religion von ihrem irrationalen Kern die Orientierungs- und Glaubenslosigkeit ausgelöst hat und fördert. - Man kann jeden Körper in seine festen und weichen Bestandteile trennen, keine Frage. Aber das Skelett eines Pferdes kann man nicht reiten.
reissen wir doch die scheuklappen mal weg: es gab (zugegeben, vor langer zeit) gesellschaften, die weitaus unverkrampfter mit der sexualität umgegangen sind. doch dann kamen die kirche und die romantische liebe... zumindest auf letztere möchte auch ich nicht verzichten.
im gegensatz zu ihnen muss ich mich aber nicht als christ fühlen, um meinen mitmenschen keine dinge anzutun, die auch mir nicht angetan werden sollen.
im übrigen empfinde ich, das die moral heutzutage flächendeckend und weltweit zu wünschen übrig lässt. aber das ist ein weiteres thema...
wo also, so frage ich, bleibt die entwicklung des menschen? gibt es eine...?
Ich widerspreche an dieser Stelle, ich bin Taufpatin einer sehr entzückenden jungen Dame und habe an dem Vorgespräch zur Taufe teilgenommen. Das, was sie unter Moral einordnen, wurde von dem Pastor als "Christsein" gewertet. Die Eltern des Kindes haben mit der Kirche als Einrichtung auch nicht viel am Hut, das Taufgespräch war ein grandioser Wortabschlag und am Ende wurden wir armen Sünder alle als Christen in die Kirche eingeladen um an der Taufe teilzunehmen.
Mag sein, dass ich orientierungs- und glaubenslos bin, ich widerspreche an dieser Stelle nicht, und ja, ich halte in der Sexualität für erlaubt, was Spass macht - ich betone SPASS, weitab von Kommerz. Trotz meiner Sittenlosigkeit und meiner allgemeinen Verderbtheit halte ich mich nicht für einen schlechten Menschen, nein, ganz und gar nicht. Auch ich überlege, was geht und was nicht geht und mache Abstriche in meiner persönlichen Freiheit, z. B. würde ich nie in einer Kirche in lautes Gelächter ausbrechen, über die doch mitunter recht seltsam anmutenden Aussagen und Textinhalte. Der Glaube an sich ist keine schlechte Sache, aber wie und woran jeder einzelne glaubt, gehört dann doch zur persönlichen Freiheit. Und auch wenn man die Wäsche per Hand im Fluss gewaschen hat, ist man heute zur Waschmaschine übergegangen - für die Kirche würde ich mir eine ähnliche "Verbesserung" wünschen. Aber genug davon, wenn man mag, kann man alles sezieren und auftrennen und untersuchen und in Frage stellen.
Die Entwicklung des Menschen geht auf jeden Fall schleppender voran als die Entwicklung der zur Verfügung stehenden Technik. Was am Menschen wäre denn entwicklungsbedürftig?
Dass die Frage des Glaubens der persönlichen Freiheit unterfallen, ist sicherlich zutreffend. Dies bedeutet aber nicht, dass jeder Glaube gleichviel Wahrheitsgehalt besäße - entweder ist Jesus Gottes Sohn, oder er ist es nicht. Und entweder gebietet ein höchstes Wesen, seinen Namen nicht zu nennen, oder es gibt kein solches Wesen, oder kein solches Gebot. Der Bereich der Glaubenswahrheiten unterfällt damit eben nicht der Beliebigkeit, sondern der Erkenntnis. Ist die Erkenntnis nicht möglich, dann bewegen wir uns im Bereich des Glaubens, der mit der Frage, ob Sie oder ich ein schlechter Mensch sind, wiederum nur in der Ableitung zusammenhängt.
(Deswegen ist es auch Blödsinn, wenn junge Rockbands beispielsweise immer mit Sex schocken und provozieren wollen. Der moderne Dada-Uber-Realist schockt mit Moral! )
aber wir sollten hier keine glaubensdiskussion führen, denke ich. das wäre ein anderes thema für diesen schönen blog...
blue sky fragt nach der "entwicklung" des menschen. hmmm... mir würde es schon genügen, wenn die gesellschaften (also die menschen in den selbigen) ein geschichtsbewusstsein entwickelten. oder hat sich ausser mir niemand über die world-war-II-aufbereitung in diesem land gewundert?? in epischer breite wurde der krieg analysiert, diskutiert und ausgebreitet. sicher ist das sinnvoll. aber ich habe nicht ein einziges mal die frage gehört, warum dieses deutschland zu den grössten waffenherstellern und -exporteuren der welt gehört... ist das moralisch?
und afrika und irak und afghanische drogen und kindermörder an schulen und der ganze schrott aus hollywood und und und...
da halte ich´s mit woody allen: "Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Welt hart und gnadenlos ist. Und ich habe nur die schlechteste, übelste, grimmigste Vorstellung von ihr. Der große Trick besteht darin, sich einigermaßen unversehrt durch diesen Albtraum zu mogeln. Und sich dabei ein bisschen Spaß und Würde zu bewahren." ... das und mehr von dem mann könnt ihr hier lesen: http://www.zeit.de/2005/26/Interviw-Allen?page=1
enjoy..:)
wenn die angesprochenen themen moralvorstellungen und religion demnächst über den christlichen tellerrand hinaus betrachtet werden, komme ich gerne wieder. die wege, die zu religiösen empfindungen führen, sind eine hochspannende angelegenheit. aber gut möglich, dass man das nur spannend empfindet, wenn man fündig geworden ist.
Sie sind da schon ein, zwei Schritte weiter. Aber es ging eben nicht um eine Moraldiskussion, sondern nur um oben erwähnten Umstand. Sonst sind wir bald bei dem Thema, welche Moral nun die richtige sei.
wer definiert nun den (allgemein gefühlten) verhaltenskodex namens "moral"? doch wohl unser tägliches umfeld und das lebenslang gelernte, eingeimpfte, aufgestülpte "empfinden", nein? wie wir alle wissen, fällt es schwer genug, diese gelernten annahmen zu erkennen und zu hinterfragen. alles nichts neues, das...
ist denn also der austausch, die reflexion über moral schwieriger als die über sexualität? wir sind uns doch inzwischen einig, dass die ausführungen der autorin des ausgangsartikels nicht zu teilen sind, oder? ... das wäre doch ein ein anfang.
in diesem sinne lese ich den ausgangsbeitrag des stranges. nicht, dass mich das ganze grelle geschwafel unter der gürtellinie begeistern würde. ich anerkenne die tatsache, dass kommunikation über angelegenheiten des geschlechtslebens eine (zumindest in unserer zeitrechnung) nie gehabte gesellschaftsfähigkeit erreicht hat, darin aber eine wechselwirkung zu der vermeintlichen tabuisierung von gesprächen über verhaltenskodex sehen zu wollen, teile ich nicht. eine polarität gibt es bestenfalls zwischen konkreter christlicher moralvorstellung und offensiver sexualität. in diesem kontext stimmt die beobachtung dann möglicherweise.
Werden denn inhaltliche Polaritäten gebildet? Ich betrachte das so: Sexualität und Fragen der Regeln/Grenzen/Gesetze (Moral) sind beides Bedürfnisse. Vor hundert Jahren war es nur schwer möglich, sich über Fragen der Sexualität zu informieren/auszutauschen. (Während man heute, das ist jetzt meine Perspektive, man schon fast zwanghaft an solchen Diskursen teilhaben muß.) Umgekehrt sind Fragen der Moral heute vielleicht nicht unbedingt "tabu", aber doch quasi negativ sanktioniert (im öffentlichen Diskurs).
Allein die Tatsache, daß Rot-Grün eine Ethik-Kommission einrichteten, zeigt doch, wie groß der Bedarf und wie groß die Unsicherheit bei solchen Themen ist.
Alles andere, also auch, was größtenteil hier heute ausgetauscht wurde, ist doch bereits Interpretation dieses Zustands.
(Bedenken Sie bitte immer, ich bin ein Langsam-Denker und mental herausgefordert, mit Not-Abitur usw. Und dazu ein Mann.)
sagen wir mal so: wenn im hermetischen café moralgebloggt wird, müsste nach der obigen these:
"moralisches = gleich unerwünscht" (= schwierig = gleich langweilig = klick ich mal wieder weg) ein einbruch in den zugriffszahlen, der zugriffsdauer oder wenigstens in der häufigkeit der kommentare zu verzeichnen sein. ist das so? oder sind wir so ein exklusiv exotisch-interessiertes publikum?
Aber die Gleichung "moralisches = gleich unerwünscht" stimmt ja so auch nicht. Ich denke, Moraldiskussionen provozieren, werden lächerlich gemacht - eben weil da solche Verunsicherungen und mehr Fragen als Antworten herrschen. Das Bedürfnis aber ist riesengroß, es ist nur uncool (s. Mequito), das zuzugeben.
Dann lieber über Schamlippenvergrößerungen reden oder den Geschmack von Körperflüssigkeiten. (Jeweils verbunden mit ordentlich Höhöhö - denn auch bei diesen Themen herrscht oft eine große Unsicherheit, nach wie vor.)
Und noch eine Alltagsbeobachtung: Ich kenne viele Sexblogs. Aber kennen Sie ein (genuines) Moralblog?
das vielbeschriebene ist möglicherweise deshalb das ach so bemerkenswerte, da nicht selbstverständlich? ("endlich mal wieder gefickt, gleich ins blog schreiben, rot im kalender anstreichen").
Houllebecqs mehr literarisch interessanten (nicht unbedingt schön!) als philosopisch originären Ansatz las ich aber so, dass gerade die quasikapitalistische Betrachtung der Sexualität die Welt der Menschen in wenige Gewinner und viele Verlierer unterteilt.
Wenn die Attraktivität (ich meine damit jetzt alles, was einen Menschen für seinen potentiellen Partner begehrenswert macht) die geltende Währung ist, so verfügt in einer Industriegesellschaft (ja, ja, das ist jetzt ungeschickt, einen historisch und ökonomisch wichtigen Begriff einzubringen, wo man doch einen anderen Aspekt des Lebens mit dem Geschehen der Wirtschaft vergleichen möchte) eine Minderheit über den Hauptteil Ressourcen...
Naja, ich habe die Stringenz -wow!- meiner Gedanken nicht überprüft, doch gilt all das, worüber wir reden für den mittleren Stand.
Für die Kaste, zu der ich auch gehöre, weil ich ihr entstamme, gilt:
"Dumm fickt gut!"
Das Proletariat hat seit eh und je jenseits jeglicher sexueller Restriktion gelebt. Vor zwanzig Jahren, ich war gerade sechzehn und in der Hauptschule, da war die Sexualität keine große Sache. Ich fickte mit meiner Freundin in ihrem Zimmer, das zu einer Wohnung gehörte, deren Duschen im Keller sich befanden und für die Elektrizität man Münzen einwerfen musste, danach gingen wir raus und tranken mit ihren Eltern Bier.
Ein paar Jahre später, auf dem Gymnasium, musste ich merken, dass dort hauptsächlich verklemmte Menschen (und Mädchen) lebten.
Heute haben sich diese Menschen einfach der Basislinie angenähert - mehr ist es nicht
(OK, die Erfahrungen, die man an der Uni sammelt unterschlage ich einfach, weil sie meine Argumentation unterhöhlen würden..:).
Vielleicht habe ich mich mit meinem hingerotzten Nebensatz zu M.H. zu unscharf ausgedrückt. Ich sehe den "Warencharakter" des Körpers (als Zahlungsmittel für Sex/Zuneigung) als repressiven Zwang, dieses Zahlungsmittel zu hegen, pflegen, zinssteigernd in Form zu bringen, um eben auf dem Markt mithalten zu können. Das macht ebenso unfrei wie der (scheinbare) Zwang, diese oder jene devianten Sexualpraktiken ausüben zu müssen, um in der In-Crowd zu bleiben.
Und wenn mir 19jährige gewichtig erklären, daß sie SM-mäßig "alles im Griff" hätten, was will ich als doppelt so alter Mensch da großartig sagen? Mit 20 war ich auch Gott und hatte alles geschnallt. Zum Glück gibt sich das bei den meisten Menschen wieder. Ich sehe dann, daß es sexuelle Tabus kaum noch gibt. Zum Glück oder auch nicht, da habe ich kein Urteil. Wenn ich aber erlebe, daß sich Menschen über Begriffe wie "Loyalität" amüsieren, weiß ich, daß etwas schief läuft. (Und nochmal: Ich bin nicht besser. Ich suche nur.)
"Das Proletariat hat seit eh und je jenseits jeglicher sexueller Restriktion gelebt." ...??? wie witzig und kaum wahr. das proletariat, oder besser: der durchschnittsmensch/mann, zieht mit seinen kumpels durch die bordelle und erzählt zu hause, er war kegeln oder im büro während seine frau die kinder versorgt hat... wo ist da die moral? die prostitution (ohne, dass ich sie hier verdammen will) ist ein riesiger wirtschaftszweig. schon vergessen?
mr. kid: vielleicht sollten sie einen moral-blog aufmachen? wie wär´s?? wenn das einzige, was frau gaga dazu einfällt, die bibelblogs sind... höchste zeit...:)
ich finde es gut, wenn der staat das thema ethik besetzt. die meinungshoheit der kirchen im moralbereich sollte abgelöst werden. nicht, dass diese nur falsches verbreiten - im gegenteil. aber meinungs-vielfalt tut not, nein?
noch ein splitter kommt mir in den kopf: vielleicht scheint es nur so "schwer" über moral zu reden, weil es einfach keine wahrheit gibt. (was ist schon wahrheit?)... in den grundlegenden punkten sind sich die menschen unseres kulturkreises doch einig: gewalt, betrug, etc pp werden überwiegend abgelehnt. doch kommt man an unterschiedliche auffassungen, werden diese schnell zur glaubensfrage...
"ich glaube, ich könnte keine freie beziehung leben. ich glaube, ich verletze meine frau, wenn ich mit einer anderen ins bett gehe"... das entwickelt sich ähnlich mühsam (sollte ich "zwecklos" schreiben?) wie eine diskussion mit einem gläubigen menschen. in der regel ohne ergebnis....
was bleibt, ist der versuch. und der kann kräftig lohnend sein...
Wenn jedes Tabu irgendwann mal gebrochen werden muss, wo sind dann die Grenzen?
Zwanghaft unmoralisch sein?
Die einzige Gefahr ist natürlich, dass man das Jetzt zu sehr auf seine Extrema reduziert.
Ein Beispiel:
Mit elf oder zwölf kam ich nach Deutschland. Im ersten Sommer war es ein Schlaraffenland für mich. Ich war fasziniert von all den nackten Frauen(obwohl ich zuvor in Istanbul zur Schule ging und dort die Menschen für ein orientalisches Land relativ freizügig bekleidet waren). Ich empfand Deutschland als Paradies.
Seitdem sage ich mir jeden Sommer: Mann, Mann, Mann, die Frauen sind dieses Jahr besonders großzügig.
Doch, wenn ich alles mir dann ehrlich durch den Kopf gehen lasse, da denke ich, dass Astrid, die siebzehnjährige Nachbarin meines ersten Deutschlandjahres, die großzügigste (update: großzügig im Sinne von freizügig angezogen, natürlich) von allen war....
Hach: von wegen Moralbloggen - Moralkommentieren!
eine effiziente art, sich als komplettes arschloch zu outen, ist loyalität zu belächeln. so jemand ist wahlweise sehr sehr dumm, bewusstlos oder gefühlskalt. frigide wäre auch ein hübsches wort dafür.
Insofern weiß ich nicht, ob ich es bedauerlich finden soll, daß "80 Prozent auch der Jugendlichen im stillen Kämmerlein die Moral bevorzugen". Die Frage ist vielleicht welche Art der Moral. Gerade Jugendliche sind bekanntlich eher rigide, starr und konservativ in ihren Werten - auch wenn das Bild, was man von Jugend hat, etwas anderes suggeriert. Meist gibt sich das ja mit etwa 25, wenn Lebenserfahrung und Reife gnädigere Urteile zulassen.
Das Problem scheint mir eher, daß unsere Gesellschaft moralisch niemals so frei und vielfältig in ihrem Katalog an Werten und Normen war, wie heute. Ob ich es linksrum oder rechtsrum, zu Viert oder doch lieber alleine treibe, interessiert doch (zumindestens in Großstädten) niemanden. Es gibt keine Herrschaftsmoral mehr, keine Kirche oder Hegemonialmacht, die eine feste moralische Linie vorgibt. (An deren Stelle ist meiner Meinung nach eher die Peer group, Clique, Freundeskreis getreten.) Moral ist ja gestaltungsoffen, weshalb dieser haut gout des angeblich "Spießigen" ja völliger Blödsinn ist.
Je nachdem, in welcher Szene oder Schicht man sich bewegt, trifft man auf unterschiedliche moralische Systeme. Der eine betrügt das Finanzamt, aber nicht seine Frau, beim nächsten ist es umgekehrt und beide finden es in Ordnung so. Für die Jugend ist ja nur schade, daß die nichts mehr haben, wogegen sie sich auflehnen können. So wie in den 10er/20er oder 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals lohnte es sich ja noch, bürgerliche, verklemmte Moralvorstellungen anzugreifen. Aber heute? Wo schon der Pöbel Handschellen am Bett hat?
Ich bleibe dabei, daß Ruth Westheimer insofern recht hat, daß es heute ungeheuer schwierig ist, sich über Moral zu informieren, klare Antworten zu bekommen. Die Politik schiebt ihre Verantwortung ja auch auf "Ethik-Kommissionen" ab, weil sich keiner eine Antwort zutraut.
Heute morgen lief im Radio ein hochinteressantes Feature über einen Fall von Inzest in Ostdeutschland. Ein Pärchen hatte sich verliebt und erst später erfahren, daß sie eigentlich Bruder und Schwester sind. Mittlerweile haben sie drei oder vier Kinder zusammen, es gibt ein Riesengeschrei, den Vater hat ein voreiliger Richter für ein Jahr ins Gefängnis geschickt - ganz tragische Geschichte. Der Inzest-Paragraf ist unter Juristen hochumstritten, u.a. weil er kaum noch Sinn macht. Der Leiter eines medizinischen Forschungsinstuts wies darauf hin, daß im schlechtesten Fall ein Risiko von 30 Prozent bestünde, daß es zu "Behinderungen" kommen könnte. Dies würde aber bereits eine Wertung mit einschließen, was denn überhaupt ein "normaler" Mensch sei. (Und man verbietet ja auch nicht Behinderten, ein Kind zu bekommen). Die Argumente für ein Verbot von Inzest brächten einen schnell in die Nähe von Eugenik-Diskussionen sowohl der sozialistischen als auch der NS-Medizin. Aus rein humanmedizinischer Sicht zur Erhaltung von "Volksgesundheit" (sprich: eines intakten Genpools) mache der Inzestparagraf keinen Sinn.
Genau hier wird es doch spannend: Aus welchem Diskurs, unter welcher Leitlinie heraus werden solche Fragen moralisch (neu) bewertet? Manche werden sich noch an einen Kanzler erinnern, der großspurig die "geistig-moralische" Wende ausgerufen und seine Partei in einem Schmiergeld- und Spendenskandal zurückgelassen hat. Benedikt spricht nicht ökomenisch, ich selbst bin glücklicherweise moralisch und sittlich völlig verdorben. Ja, bleibt denn nur noch Bob Geldof übrig? Horror!
Von daher behelfe ich mir weiterhin mit dem Grundsatz: Moralisch ist, wonach man sich gut fühlt... ;-)
In moralischen Fragen geht es nicht (mehr) um Sexualpraktiken, nicht um Abwägung von Frau und Finanzamt und nur teilweise darum, was man persönlich in Ordnung findet. Es ist nicht moralisch minderwertig, seine Sekretärin flachzulegen, solange man ihre Abhängigkeit nicht ausnutzt oder die Ehefrau damit betrügt. Unmoralisch ist gegenüber der Frau und dem Finanzamt also der Betrug, nicht die noch so abartige Handlung. Und es entscheidet nicht das persönliche Empfinden allein. Auch die Bewertung der Frau und des Finanzamtes sind wichtig. Das weiß zwar jeder, muß aber trotzdem wiederholt werden.
Die gar traurige Geschichte aus Ostdeutschland ist moralisch auch leicht zu bewerten. Wer unwissentlich seine Schwester schwängert, hat sicherlich nicht unmoralisch gehandelt. Trotzdem ist ein Gesetz gebrochen, das von den meisten Menschen für sinnvoll gehalten wird. Ein solches Gesetz vorsätzlich zu übertreten, ist kein Kavaliersdelikt, sondern kriminell und damit unmoralisch. Und inhaltlich halte ich nicht nur das Verbot des Kindesmißbrauchs, sondern auch das der Geschwisterliebe unter hoher Strafandrohung für die einfachste Möglichkeit zu verhindern, daß man sich aus Bequemlichkeit in der eigenen Familie bedient.
Nein, ist sie eben nicht, das ist ja der Witz. Es gibt keinen objektiven Grund für einen solchen Paragrafen. Der sittliche Hintergrund geht u. a. auf sozialistische und NS-Propaganda zurück ("Volksgesundheit"), aber medizinisch oder juristisch spricht nichts dafür: Es ist ja auch nicht so, daß es "dann jeder tun" würde, wäre Inzest erlaubt. Das sind Fälle im Promillebereich. (Sie dürfen das jetzt nicht mit Fällen von Mißbrauch verwechseln, in denen Minderjährige/Abhängige ausgenutzt werden. Dagegen gibt es zurecht Strafrechtsparagrafen.)
Das hat auch nichts mit "Bequemlichkeit" zu tun. Wie oben schon geagt: medizinisch spricht kaum etwas gegen Inzest, eben weil diese Fälle so selten sind und man dann auch Behinderten verbieten müßte, Kinder zu bekommen. Es besteht, ganz simpel gesagt, kein Bedarf nach so einem Paragrafen in unserer Gesellschaft.
Nur weil aber etwas im Gesetz steht, juristisch also "falsch" ist, ist es noch lange nicht "unmoralisch". Sonst wäre z.B. der Homosexuellenparagraf nie gefallen. Das Gesetz muß der gesellschaftlichen Moral folgen, nicht umgekehrt.
(Was den Fall aus Ostdeutschland betrifft, wurde hier offenbar mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Dem (mittellosen) Vater wurde z.B. kein Pflichtverteidiger gestellt, der Richter gab (allerdings nicht vor dem Mikrofon) angeblich zu, einen "schnellen Prozeß" gewünscht zu haben, etc. Unter anderen Umständen wäre das gar nicht zur Verurteilung gekommen. Unmoralisch ist - nachdem, was ich zu dem Fall an juristischen und medizinischen Kommentaren gehört habe - eher das Urteil, nicht das Vorkommnis.)
Den anderen Unterschied erwähnen Sie selbst. Ging es laut Spiegel bei der Homosexualität damals schon um einen von 25, so ist es bei der Geschwisterliebe einer von 1000. Dabei schreibe ich bewußt "Liebe", denn auf jeden solchen herzzerreißenden Fall kommen sicherlich zehn kriminelle. Und da ist meine Ethik utilitaristisch: Eine Quote von eins zu zehn ist gut. Trotzdem kann ich ihnen gerne zustimmen, daß im zitierten ostdeutschen Falle das Urteil gewiß zu hart ist. Das aber ist eine andere Sache.
Der Vergleich mit Behinderten ist gerade in Deutschland schwer möglich. Der Unterschied zum Inzest besteht aber eindeutig darin, daß die Mehrheit der Menschen der Meinung ist, das Leid ihrer leichtfertig gezeugten Nachkommen unter die christliche Freiheit des einzelnen stellen zu müssen. Beim Inzest gibt es dieses Leid der Nachkommen sicherlich nicht, wenn man es nicht wie die Adeligen über Jahrhunderte treibt. Doch sind die Freuden auch nicht so groß und zahlreich, daß die Gesellschaft gut beraten wäre, die Inzestschranke leichtfertig zu öffnen.
Reine "Volksbelustigung" waren 175 und 218 sicher nicht. Allein das Potential einer möglichen Erpressung und den Folgen eines Outings durch einen Prozess greifen ja im Prinzip heute noch, vor allem in kleineren Gemeinden. Wäre der CSD nicht nur Li-La-Laune-Veranstaltung, wäre dies vielleicht noch bewußter. Der ehemalige Kuppelei-Paragraf (wann wurde der gestrichen? In den 70ern?) besaß eine ähnliche Macht - ganz unabhängig davon, ob der auch zur Anwendung kam.
Moral als "Normenkatalog" sollte sicherlich merhheitsfähig sein - aber nicht alles, was nicht Diskurs ist, muß deshalb gleich unmoralisch sein. Da könnte man gleich einige sexuelle Praktiken nennen, die wahrscheinlich nicht mehrheitsfähig, dennoch aber nicht strafbar sind. Moral sollte meiner Meinung nach auch keine Frage von Demoskopie sein (obwohl: das monatliche "Moralbarometer" im ZDF wäre natürlich was) - wenn dann Minderheiten auf der Strecke bleiben.
Ich mache mir aber Sorgen, wenn man Pläne hört, am Ethikunterricht zu sparen - oder aber, wenn einzelne Richter einen Paragrafen ausdrücklich am oberen Strafmaß zur Anwendung bringen, um - Zitat - "eine Problembeendung" herbeizuführen. Nach Aussage dieses NDR-Features hat der Richter angeblich erst nach dem Prozeß die juristische Diskussion und Kommentare studiert. Es gibt Juristen, die diesen Paragrafen für völlig obsolet halten - unter anderem auch, weil es quasi nie vorkommt. (Weniger als Ihr "einer von 1000". Das Argument, "na dann machen es ja alle" gilt in diesem Fall wohl kaum. Man kann da nicht vom "Öffnen einer Schranke" reden.) Von daher denke ich, wie sich Einzelne da arrangieren, auch und vor allem unter der Bettdecke, geht mich nichts an, solange sie dabei niemandem schaden.
Aber das Grundproblem bleibt, wenngleich rhetorisch: Wo und bei wem will man sich in solchen Fällen über "richtig" oder "falsch" informieren, sollte es zu Zweifeln kommen? Bei "Domian"? Beim Pfarrer? Beim Rechtsanwalt meines Vertrauens? Beim TED?
Ich habe den Eindruck, vieles atomisiert sich in Zirkeln, Szenen, Cliquen - mit einem jeweils eigenen Wertekatalog - und dann prallen die einen Sektierer auf die anderen.
termintreue wäre auch ein schönes thema.
auch ein schönes thema: pflichtgefühl! verantwortungsbewusstsein!
Ich würde die Absenz des Herrn Kid am heutigen Abend in einem milderen Licht sehen. Immerhin hat er die Moraldebatte in diesem Thread auch ganz unbürokratisch außerhalb der Kernarbeitszeiten weitergeführt. Für mich ist er damit einstweilen entschuldigt dafür, dass er heute kein neues moralinsaures Fass aufgemacht hat hier im Café...
nichtsdestotrotz: verballhornen sie mir hier nicht allzu leichtfertig pflicht-gefühl zu pflicht-erfüllung. welten!
auch hier müssen wir eines ums andere mal ein hohles gefäß mit werten füllen. ich meine: allemal inspiration und gedankenanstoß genug für die kommende woche.
geruhsame nacht!
Ohne die Fortführung der Diskussion hätte ich mir an dieser Stelle eine immer wieder anklingende Frage für später aufgehoben: Muß die Rechtslage dem moralischen Wandel zügig nachlaufen oder gar die Grenze zwischen Moral und Unmoral genau abbilden? Nein! Die Grenze zwischen Moral und Unmoral ist unscharf und in ständiger Bewegung, Gesetze dagegen sollen eine einfache und klare Grenze von längerfristigem Bestand ziehen. Ich halte es nicht für gut, die Gesetzesschranke so sehr zu liberalisieren, daß alles irgendwie moralisch gerechtfertigte Handeln auch rechtmäßig ist. Früher wäre das eher gegangen als in der heutigen Zeit, in der immer mehr Menschen meinen, daß alles erlaubt sei, was vom einem Gesetz nicht verboten wird. Ich hielte es auch umgekehrt für ungerecht, Gesetze so sehr zu verschärfen, daß nur noch moralisches Handeln gesetzeskonform sein kann.
So wie die Moral die Gesetze langfristig verändert, so beeinflussen letztere auch die Moral, weil Gesetzestreue selbst moralisch bewertbar ist. Gelegentlich mögen Verbote völlig veraltet sein und in wichtigen Angelegenheiten ohne schlechtes Gewissen übertreten werden. Ich wehre mich aber gegen die sich ausbreitende Auffassung, Gesetzesbruch sei in allen moralischen Angelegenheiten gerechtfertig. Dieses Denken geht über in die unmoralische Auffassung einiger, es dürfe bedenkenlos genutzt werden, was rechtlich erlaubt ist, und was man selbst außerhalb der Gesetze ohne schlechtes Gewissen tue, sei ganz allgemein moralisch gerechtfertigt. Ein gewisser Verzicht auf persönliche Entfaltung kann in einer demokratischen Gesellschaft durchaus moralisch gefordert sein.
Auf die Inzestfrage möchte ich nicht weiter eingehen, weil sie in allgemeine Überlegungen eine gewisse Abstrusität bringt. Die Seltenheit der einen, hier emotional überhöhten Inzest-Variante macht Argumente in die eine und die entgegengesetzte Richtung plausibel. Das lenkt nur ab von der interessanteren Anfangsfrage, ob Moral wie zuvor das Schamgefühl im Abnehmen begriffen oder nur ein Tabuthema geworden ist.