Formicabel



Wenn ich als Kind bei meiner Großmutter war, gab es dort einen Schwung zerlesener und obskurer Kinderbücher, ein kleiner Schatz für neugierige Kinderaugen . Andererseits waren die wirklich obskur, denn sie kamen mir damals schon äußerlich und innerlich verstaubt vor. Es waren viele dieser Göttinger Jugendbücher darunter, ein Verlag, der sich auf Kinderbuchversionen von (Erwachsenen-)Klassikern (Der letzte Mohikaner und Der weiße Wal), Mädchenbüchern (Barbara, dir winkt das Glück oder Sonja braucht 400 Mark), Weltraumabenteuern (Mondrakete E4 überfällig) und eine Reihe "Für Jungen" (Störtebeker, der Seeräuber) spezialisiert hatte. Zu Hause besaß ich später noch einen Band Das Abenteuer kommt ungerufen, ein Titel, der mich damals schon wenig begeisterte. "Ungerufen?" dachte ich. Wie doof. Was, wenn gerade Daktari im Fernsehen läuft? Oder man draußen, mit den anderen kleinen Lesern der Göttinger Jugendbücher (ein paar versnobte Schneider-Buch-Leser waren auch darunter) zum Nachspielen vom Lederstrumpf verabredet war? Kann sich so ein Abenteuer nicht lieber anmelden? Das Buch war allerdings recht spannend, irgendwas mit einem Jungen, der in Indien wilden Tigern begegnet. Wie das halt so war, damals nach dem großen Krieg.

Ein Autor ist mir im Gedächtnis geblieben, das war der Gubener Kurt Knaak. Seine Bücher hießen Ferien im Forst oder eben Formica die Emsenkönigin. Hinten gab es immer ein kleines Glossar mit Jagdausdrücken (äsen = "fressen"), was meinem naturkundlichem Interesse zu dieser Zeit immensem Auftrieb [!] gab. Überhaupt, eine recht faszinierende Welt mit ganz vielen toten Tieren. Staatenbildende Insekten hatten es mir damals schon angetan, Ameisen zumal. Mich beeindruckten die wie Sandhügel aufgetürmten Bauten, die selbst in Bewegung zu sein schienen, je näher man an sie herantrat. Die geschäftigen Ameisenstraßen, auf denen selten bloß zu Späßen aufgelegte Arbeiter ächzend und schnaufend ihr viel zu schweres Zeug umherschleppten. Die unterirdischen Bauwerke können, wie jedermann weiß, gigantisch sein, es ist wie bei einem Eisberg: unter dem Tannennadelhaufen liegt eine Megalopolis mit Wolkenkratzern, Schächten, Stollen und Schnellstraßen.

Natürlich besitze ich zu Studienzwecken Sim Ant, die (insgesamt enttäuschende) elektronische Ameisenkolonie. Vor ein paar Jahren, ein wunderbares Geschenk, fiel mir das Buch von Bert Hölldobler (zusammen mit Edward O. Wilson) in die Hände. Ein spannendes Werk, gefüllt mit hochinteressanten (und damals) neuesten Studien und Erkenntnissen zum Thema "Superorganismus".

Jetzt, zurück zu den Göttinger Jugendbüchern, habe ich - Achtung, aufpassen jetzt! - antiquarisch spottbillig eines dieser alten Bücher ergattern können, das ich zuletzt vor Jahrzehnten bei Frau Großmutter gelesen habe. Formica die Emsenkönigin, ein Titel aus reinem Klang, ihr seid da sicher ganz bei mir. Packende Abenteuer, Regen, Räuber und Rabauken, die den kleinen Staat bedrohen, kriegerische Beutezüge und vielleicht sogar eine Hochzeitsszene. Daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Ich werde das emsig nacharbeiten. Was für ein Abenteuer.

Ex Libris | 12:11h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Dienstag, 25. Januar 2011, 13:41
Faszinierende Tiere, deren Zielstrebigkeit beeindruckt und beängstigt. Heinerus der Geißlervermittler kann ich mir bei denen jedenfalls nicht so recht vorstellen.

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kid37 - Dienstag, 25. Januar 2011, 14:05
Da kann man noch mal meditieren über gelenkte Schwarmintelligenz.

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nnier - Dienstag, 25. Januar 2011, 18:41
Es sieht so masterplangesteuert aus, irgendwo muss doch da die geheime Königin sitzen und Stuttgart 21 telepathieren. Dann wieder meint man, dass einfache rekursive Algorithmen ausgeführt werden:

function buddeln() {
    bringErdeWeg();
    if (nochGenugErdeDa()) {
    buddeln()
    }
}

Womöglich sehen sich irgendwo grüne Männchen auch gerade ein Zeitrafferfilmchen an; Gecko , Regenwald - vielleicht gar nicht so ein großer Unterschied.

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kid37 - Dienstag, 25. Januar 2011, 20:59
Ich glaube, nach einer ähnlichen Formel funktionierte auch das FlowTex-Verfahren.

Das Gecko-Video ist super, das war mir heute morgen auch aufgefallen. Ratzfatz, wie sonst nur bei hungrigen Essern beim Hühner-Hugo.

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nnier - Mittwoch, 26. Januar 2011, 13:15
Am Ende wird's ja geradezu Slapstick, wenn das Skelett in Einzelteilen durchs Bild getragen wird. Ameisen trainieren, dann kann man sich die mühsame Stop-Motion-Fummelei künftig sparen.

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jean stubenzweig - Dienstag, 25. Januar 2011, 19:33
Glücklich, wer bereits zu Kindheitstagen sanft in die wilden Abenteuer der Naturwissenschaften eingeführt wurde. Wem das, wie mir, nicht gegeben war, der sollte sich später in der Regel schwer damit tun. Aber vielleicht lag's einfach daran, daß ich keine Großmutter hatte, die ich mal eben besuchen konnte.

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kid37 - Dienstag, 25. Januar 2011, 21:08
Keine Tierbücher? Ach. Dabei kann man so vieles aus ihnen lernen. Im Kapitel "Das Dasein zwingt zum Kampf" (sag ich doch) heißt es (es geht angeblich um Blattläuse):

"Bald hatte die Späherin die Gesuchten entdeckt. Den süffigen Trank witternd, trat sie zwischen die lässig sich ergehenden Tiere und begann ihre Hinterleiber gar zärtlich mit den Fühlern zu beklopfen, zu streicheln und zu kosen, als gälte es, einen unsichtbaren Quell mit der Wünschelrute aus der Verborgenheit hervorzulocken."

Und ja, das Buch ist empfohlen für "Jungen und Mädchen 10 - 14 Jahre". Ein Reifedrama.

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jean stubenzweig - Mittwoch, 26. Januar 2011, 14:15
Meine Güte. Das liest fast wie aus Mirabeaus ausgewählten Schriften. Demnach hätte ich also doch tierische Bücher zuhause gehabt. Aber das habe ich erst später erfahren, weil mir als Kind dieses Zimmer verbotene Zone war. Giftraum sozusagen.

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vert - Mittwoch, 26. Januar 2011, 15:34
als satiere gar nicht übel.

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kid37 - Mittwoch, 26. Januar 2011, 16:46
Gestern beim Blättern noch eine Stelle gefunden, in der ein um eine Häsin balgender Hase ("Rammler") mit dem Hintern im Ameisenhügel landet. Na, da war aber was los!

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vert - Mittwoch, 26. Januar 2011, 16:54
wie heißt es so schön im pott: "da hat der arsch kirmes!"

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jean stubenzweig - Mittwoch, 26. Januar 2011, 17:27
Ich sehe das schon – dringend muß ich meine Kindheit nachholen. Mit der ist ohnehin was falsch gelaufen.

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monnemer - Mittwoch, 26. Januar 2011, 17:43
Mit der Hintern-im-Hügel-Szene war wohl die Idee zu Rehe sehen dich an geboren.

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prieditis - Mittwoch, 26. Januar 2011, 17:44
Im Nachhinein ist das ein großer Jammer, daß mir dieses Buch fehlte.
So konnte ich meine Kenntnisse über Ameisen nur erwerben, indem ich rote Ameisen im Garten lichtarmen, bemoosten Hinterhof und schwarze Ameisen unter hervorgehobenen Gehwegplatten der Straßenseite herausbuddelte. Die beiden Völker ließ ich dann getrennt, in unterschiedlichen Einmachgläsern (von Omma), gedeihen. Fein, wie die so ihre Tunnel gruben.
Dann habe ich beide Völker zusammengeführt, bilateral, sozusagen. Meine Omma fragte mich, was ich denn da täte und ich sagte ihr: "Ich spiel Belgien..."

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jean stubenzweig - Mittwoch, 26. Januar 2011, 18:32
Ach Prieditis, geht es um Ihr Lieblingsland, reicht es völlig aus, Ihnen ein Ameisenei als Bällchen zuzuspielen. (Eben klingelte es bei mir, und die Nachbarin fragte besorgt, ob ich mittlerweile Hühner halte im Büro, sie habe so ein lautes Gackern gehört.)

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kid37 - Mittwoch, 26. Januar 2011, 23:32
Es gibt nicht nur Flamen und Wallonen, es gibt auch Wespen. Ein solcher Kampfflieger setzt der armen "Formis" im Kapitel "Formis bleibt auf der Strecke" fatal zu:

Als die Strahlen der Abendsonne verblichen, richtete sie sich noch einmal auf, um ihr Lebenwohl zu sagen. Dann fiel sie kraftlos zurück, beschied sich und war tot. Ihr kleines unscheinbares Leben aus dem großen Formicageschlechte hatte so im Kampfe für die ihrigen seine Erfüllung gefunden...

Fast meint man, einen jüngeren Ameisenbeobachter ein Glas grauen Burgunder, in dem noch Erdbeeren schwimmen, zum Gruße heben zu sehen.

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vert - Donnerstag, 27. Januar 2011, 12:10
heldentod im landservokabular - gar nicht mal so vorteilhaft, wie die deutsche minderheit hier dargestellt wird.
ganz schön nachtragend, diese ameisen!

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prieditis - Donnerstag, 27. Januar 2011, 12:47
wenn schon, dann die "Strahlen der Atomstromsonne™..."
Und wer weiß, vielleicht zierte die Stelle des Vorfalls ein Schild:
"Nicht ärgern - nur wundern"

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kid37 - Donnerstag, 27. Januar 2011, 12:50
Gestern beim weiteren Blättern festgestellt, es ist überhaupt viel vom "Daseinskampf" und vom Kampf gegen die Schädlinge des Waldes die Rede. Da gibt es Szenen, in denen der freundlich besorgte Förster mit grimmiger Freude das jagende Tun seiner gepanzerten Soldaten Emsen betrachtet. Ich weiß nichts über Knaak, vielleicht eine Art jüngerer Bruder eines anderen bekannten insektenforschenden Schriftstellers. Man sollte das mal stilistisch vergleichen, wäre ein schönes Thema für eine Magisterarbeit.

"Beschied sich" indes ist eine hübsche Wendung die mir schon lange nicht mehr begegnet ist. Mal wieder die Klassiker lesen.

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prieditis - Donnerstag, 27. Januar 2011, 13:10
Die Sache mit den Bienen und den Blümchen Hornissen findet man bei Waldemar Bonsels. Eine ähnliche, der damaligen Zeit (1915?) geschuldete Rhetorik.
Achso, der Titel: "Die Biene Maja und ihre Abenteuer"

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monnemer - Montag, 14. Februar 2011, 16:17
Beim Auspacken einer Bücherkiste unbekannten Inhalts streift gerade ein eiskalter Hauch meinen Nacken:



Hallo Herr Knaak, ich versichere Ihnen, dass ich nie wieder über Ihr Werk spötteln werde.

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kid37 - Montag, 14. Februar 2011, 17:43
Geben Sie's zu: Sie fühlen sich, als säßen Sie mit dem Hintern in einem Ameisenhügel.

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monnemer - Montag, 14. Februar 2011, 18:26
Ich wünschte es wäre damit abgegolten. Aber, was man auf dem Foto nicht sieht: in den Einband ist mit einer Zirkelspitze ein kleiner Galgen eingestanzt.

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kid37 - Dienstag, 15. Februar 2011, 11:32
Oh. Eine subliminale Botschaft. Die könnte etwas zu bedeuten haben. Things are not what they seem.

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