Im Sozialsimulator



"So", sagt die Einzelfallbetreuerin der Neigungsgruppe Kummer & Trunk, "bevor es dann demnächst ins Kurwochenende geht mit Heiltee und Licht aus um neun, müssen wir sehen, wie es im Hysterischen Café um die sozialen Kompetenzen bestellt ist." Das Haar streng zurückgenommen, blickt sie aufmerksam auf ihren ICD-Erfassungsbogen, stellt Fragen und trägt mit dem Bleistift irgendwelche Nummern wie F60.3 oder F80 in vorgegebene Felder, während ich auf ihre schwarzen Stiefel schaue und mir gute ehrliche Antworten ausdenke.



"Gut", sage wiederum ich. Mir mache es ja in der Regel Spaß, auf die Schnelle etwas Einfaches zu Kochen (aus meinem Buch: 37 Arten ein Käsebrot warmzumachen). Jetzt nichts mit Chichi oder Schnick und Schnack, dafür fehlt mir tatsächlich der barock gestimmte Sinn. Schlicht wie ein Ringelstrumpf, simples Muster, maximale Wirkung. Wir essen und bieten uns dabei das Du an.

Der Trunk soll eine Grundlage haben, soviel Sorgfalt ist bei den streng strukturierten Seminaren von Kummer & Trunk eine ehrenvolle Pflicht. Statt Hirschgeweihschnaps gibt es diesmal ein Getränk namens Haide-Küßchen, diese Namen sind ja schon ein Thema für sich. Die Neigungsgruppe informiert: Der mit gemäßigten 20 Umdrehungen (biologisch) ranbützende Trank kommt gut auf Zunge und ist zart zur Speiseröhre - schmeckt aber, und hier haben wir wieder unser Problem, wie ein in Doppelkorn aufgelöstes Hustenbonbon. Vielleicht ein Tipp für die zahlreichen mit Erkältungen und Stimmverlust geplagten Blogger. Oder Gäste.

Muß man mögen, also. Ähnlich wie den Schlaf auf zu kurzen Sofas. Im Morgengrauen, zartneblige Stimmung im Dämmerlicht, die Musik ist lange aus, stelle ich fest, so richtig gut ist das Hermetische Café nicht für Übernachtungsgäste geeignet. Zum Glück gab es nicht allzuviel davon - weder von Schlaf noch von Gästen. Muß man alles nachholen. Ruhig atmen. Puls kontrollieren. Die Intensität der Zukunft schenken.

Ein Wochenende fast ohne Internet, das mir in letzter Zeit viel schlechte Träume und schlechte Laune beschert hat. Die fragilen Verbindungen. Die plötzlichen Wandel, das Nicht(mehr)verstehen. Das ferne und doch merkwürdig betont überlaute Getöse. Wie dunkelrote Vorhänge vor einem großen Fenster, die sachte im Wind wehen und nur geisterhafte Blicke freigeben. Auf staubige Kisten, zerborstene Erinnerungen und einen Traum, den wir irgendwann nicht wagten.

Homestory | 22:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
modeste - Montag, 18. Februar 2008, 01:00
Das sind sehr nachdenkliche Momente: Wenn man einmal ein paar Tage so ganz ohne Netz vor sich hin lebt, am besten auch ohne Telefon, und am allerbesten ohne andere Leute, und sich großartig fühlt dabei, und sich fragt, ob es nur die Abwechslung gegenüber unserem vielfach verdrahteten, ständig klingelnden, klopfenden, singenden und zwischenden Alltagsexistenzen ist, oder tatsächlich jenseits des Betriebs ein anderes, neues, besseres Dasein wartet.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 10:17
Das Wochenende war sehr schön, ich hatte aber auch Besuch. Mich alleine "großartig" fühlen - da reden wir in einer Zeit noch einmal drüber.

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giardino - Montag, 18. Februar 2008, 02:45
Mit F60.3 kenne ich mich jetzt nicht so aus. Aber F80 kann man wohl getrost ausschließen.

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pappnase - Montag, 18. Februar 2008, 08:31
F70.1 wird mir nachgesagt, drum brauch ich auch das alles nicht zu verstehen ;o)

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 10:14
Nein. Ich muß irgendwie undeutlich reden.

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wimpernschlag - Montag, 18. Februar 2008, 08:22
Die fragilen Verbindungen. Die plötzlichen Wandel, das Nicht(mehr)verstehen.
wahrscheinlich liegt die kunst des umgangs mit dem internet, mit den menschen und mit dem leben darin, zu sehen, wie es wirklich ist und nichts hineinzuglauben, das man gern darin sehen möchte.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 10:14
Ja. Nichts hineinglauben und nichts hineinfürchten. Und vielleicht gibt es auch keine plötzlichen Wandel, sondern es war einfach nur immer schon so. Vielleicht ein Erwachen.

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gaborone - Montag, 18. Februar 2008, 10:24
das "es" ist wie ich mir es mache, wen ich suche, wie ich aufschlage, darin.
fragil ist einiges und zuckt zurück aus respekt und vorsicht. und manches mal sind die hofschranzen so laut, das tost und man will darin nicht untergehen, summt lieber aus der entfernung.
eines meiner zuhause ist "es", nur mit meinem mut geworden aus dem entfernten eine hand zu bieten und einen augeneinblick in natura zu gewähren.
genau dadurch wandelt "es" jetzt real in meinem freundeskreis, yeah und es macht freude!!
es sind auch sie.
huch - ein kompliment und ich bin noch nicht richtig wach, es wird schon ankommen wie es soll.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 12:37
Guten Morgen!
Keine Frage: Auch das Schöne, was gerade passiert, hat häufig mit Kontakten aus dem Netz zu tun. Es gibt viele Showbühnen, und nicht überall wird derzeit ein Stück gespielt, das mir gefällt.

Komplimente im Halbschlaf sind oft wahrer als solche, die man nachts in Bars erhält. ;-)

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twoblogs - Montag, 18. Februar 2008, 11:31
Eben – dieses Fragile, das ist zugleich aufregend und traurig machend. Sie wissen nicht, wie Sie dran sind. Sie werden von Wörtern berührt, deren Urheberinnen und Urheber Sie nur phantasieren. Kein kontinuierliches kontrollierbares Hin und Her, keine Mimik, kein Gestik, alles tonlos. Das Getöse, so scheint mir, kommt von woanders her – aus dem eigenen Inneren; oder von draus-sen, von der Autobahn, von Rettungshelikoptern, vom Baulärm. Der unerfüllte Traum – ist das nicht das Einzige, das vorantreibt in über die Tage kaskadierenden Hoffnungen? Audrii

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 12:44
Die Sehnsucht treibt weiter, ja. Aber man muß den Traum irgendwann auch wahrmachen, handeln, nicht nur von ihm schwelgen. Manche großen Worte werden manchmal leicht geführt, und oft auch leichtfertig. Worte, die berühren, ja. Beschworene Phantasien vielleicht. Ich habe irgendwann den Helikopter genommen. Eine Rettung? Vielleicht auch Notwehr.

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derherold - Montag, 18. Februar 2008, 11:51
"Mir mache es ja in der Regel Spaß, auf die Schnelle etwas Einfaches zu Kochen..."

Da fällt mir ein: Ich kann alles kochen, was die Mikrowelle hergibt ... und das ist nicht wenig !

Ich finde ja generell, daß das Internet "die Mikrowelle der zwischenmenschlichen Beziehungen" ist. Ich wollte diesen Gedanken im übrigen Niklas L. mitteilen aber der ist ja nun auch schon nicht mehr unter uns.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 12:46
Schnell heiß. Schnell auch wieder kalt. Manches wird in diesen Kreisläufen zu Asche.

Ich bin ein Freund der Langsamkeit. Auch beim Essen.

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derherold - Montag, 18. Februar 2008, 12:53
Ja, in unserem Alter sollte man sich Zeit lassen.

... irgendwie muß ja auch die Zeit zwischen Abendbrot (17:00) und Winter-Grandprix der Volksmusik totschlagen sinnvoll gestalten. Langsam kauen könnte helfen.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 13:02
Ja. Jetzt übe ich das Runterschlucken.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 16:13
Ich soll nachtragen, erfahre ich soeben: F60.8.

Man merkt, das ist keine reine Kuschelgruppe. (Ich habe mich entsprechend revanchiert.)

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novesia - Montag, 18. Februar 2008, 18:57
Hab jetzt diese ganzen F´s doch mal gegugelt. Verliebheit und Liebe zeigen ja bekanntermaßen genau dieselben Symptome wie diverse "Verhaltensauffälligkeiten" und so, also alles vorübergehend (im Guten wie im Schlechten). Ich wüsste gerne was Hilfreicheres beizutragen, bin aber leider in einem ganz ähnlichen "Zustand" und wünsche einfach gute Genesung oder sowas.

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kid37 - Montag, 18. Februar 2008, 19:22
Leider kann ich nicht alles auf meine emotionale Achterbahnfahrt schieben.

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reyamm - Dienstag, 19. Februar 2008, 09:22
Das berührt mich ziemlich. Nicht nur der Beitrag selbst, auch die Wortmeldungen darunter. "Der Intensität die Zukunft schenken" und die Frage, ob das nicht eher alles Wahre da draussen liegt. Wenn ich als quasi Unberührbarer durch einen Wald oder am Strand entlang laufe, dann habe ich ein grosses Gefühl der Verbundenheit, ja sogar von Heimat, alle Natur die nicht menschlich ist suche und finde ich gerne ohne WLAN mit den eigenen Sinnen. Bei der menschlichen Natur bin ich ohne Rat und feste Meinung. Tendenz sehr vorsichtig und mit jeder Enttäuschung rechnend. Bitter aber nötig. Wie ein Hustenbonbon im Doppelkorn. Es grüsst F33.2

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gaborone - Dienstag, 19. Februar 2008, 09:54
wir sind doch eine mischung aus allem, mit einer kleinen option einiges hinzu zu fügen und einiges versuchen abzuwählen. wir sind natur. so wie wir sind.

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kid37 - Dienstag, 19. Februar 2008, 13:11
Man muß immer wieder vertrauen. Das Risiko eingehen, verletzbar zu werden. Enttäuscht zu werden. Das funktioniert natürlich nur, wenn man den Schein der glitzernden Diskokugel auch einmal verlassen will. Die Lala-Orte, wo alles einfach ist. Natur spiegelt eine andere Ruhe wieder. Sehr erholsam, aber auf echte, meinetwegen auch schmerzhafte Nähe will man doch nicht verzichten oder? Ein bemooster Stein mag sich loyaler zeigen. Aber auch sehr kalt.

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jammernich - Dienstag, 19. Februar 2008, 23:39
Die Ringelsöckchen sind süüüüß!

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kid37 - Mittwoch, 20. Februar 2008, 01:06
Der Knaller. Ein sehr schönes Schwarz-Grau. (Strümpfe.)

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