Der gefundene Satz, 10

Die Menschen können nicht stillsitzen und über ihr Schicksal in dieser Welt nachdenken, ohne verrückt zu werden. Deshalb erfinden sie Methoden, um sich von dieser Horrorvision abzulenken. Sie arbeiten. Sie genießen ihre Freizeit. Sie häufen jenes aberwitzige Nichts an, das sie "Eigentum" nennen. Sie streben nach jenem schüchternen Augenaufschlag, den sie "Ruhm" nennen. Sie gründen Familien und dehnen ihren Fluch auf andere Menschen aus. Und die ganze Zeit über ist es ihr dringendstes Bedürfnis, sich selbst zu verlieren, sich zu vergessen, der Tragikomödie, die sie selbst sind, zu entrinnen.

(H. L. Mencken, 1926.)

Ex Libris | 02:55h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
ella - Sonntag, 7. November 2004, 02:59
;-)

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michael blasius - Sonntag, 7. November 2004, 03:28
Klingt nach Pascal.

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onlystardust - Sonntag, 7. November 2004, 21:06
"Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - Alles mit mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu ..."

Georg Büchner, Leonce und Lena, 1. Akt, 1. Szene (1836?)

Übrigens 1: "Sie häufen jenes aberwitzige Nichts an ... ": Schöne Formulierung. Man könnte glatt eine Diskussion entfachen und fragen: Oxymoron oder nicht?

Übrigens 2: Schon Büchner wusste, dass das Nichts nicht möglich ist ... Wortspiele sind natürlich erlaubt. Oder mit Nietzsche: "gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch sein" ...

Viele Grüße
Christian

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kid37 - Montag, 8. November 2004, 15:08
Letzten Endes ist es eben auch ein Vanitas-Motiv.
Ich denke nicht, daß Mencken - als pragmatischer Amerikaner - ein existentiell-philosophisches "Nichts" meinte. Er wird wohl eher eine "konkrete" Nichtigkeit (also ein Oxymoron ;-)) im Sinn gehabt haben. Nach dem Motto, das letzte Hemd hat keine Taschen. Die Kritik ist dennoch eine scharfe, wendet sie sich doch gegen die tiefe puritanische Überzeugung, daß die Anhäufung irdischer Güter ein Beweis für große Gottgefälligkeit darstellt.

Ein Aberwitz.

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onlystardust - Montag, 8. November 2004, 22:40
"Ich denke nicht, daß Mencken ..."

Ich selbstverständlich auch nicht. Ich wollte nur ein wenig "mehr" als einen Sinnlos-Kommentar hinterlassen. :-)

Das nächste mal nehme ich eine Stufe weniger ...

Viele Grüße
Christian

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kid37 - Montag, 8. November 2004, 23:37
Nein nein, das war genau richtig so. Wir wollen uns hier ja alle weiterbilden. Nachher plapper ich hier nur rum.
Ich wollte nur Mencken etwas zur Seite springen.

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delacruze - Mittwoch, 10. November 2004, 17:50
Da es NICHTS nicht gibt, kann es auch kein Bestandteil eines Oxymorons sein. Es ist nur ein Name, der die Abwesenheit einer Sache oder was auch immerbeschreibt, eine Konvention aber bei weitem kein Axiom. So ähnlich wie Blau irgendwann einmal als Blau definiert wurde. Alles Konventionen im Zeichen der Kommunikation.

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kid37 - Mittwoch, 10. November 2004, 18:20
Na, dem muß ich aber doch ein wenig widersprechen. Selbstverständlich gibt es ein "Nichts" oder sogar verschiedene Arten davon. Man kann das natürlich auf eine sophistische Spitze treiben und sagen, gleich der Unendlichkeit bleibt das Nichts nicht begreiflich. Dennoch läßt sich - auch im Rahmen einer sprachlichen Volte - trefflich darüber sprechen.
Sonst sähe ich schwarz.

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delacruze - Donnerstag, 11. November 2004, 00:26
Wohl an mein lieber Herr kid37. Den von Ihnen so eloquent dargebotenen Federhandschuh bin ich nur allzu gern bereit aufzunehmen. Ich folge Ihnen sowohl auf eine sophistische, wie tumbe oder jede andersgeartete Spitze. Aber bevor wir nun zu der, wie von Ihnen, alter Freund, so exzellent beschriebenen Volte schreiten, lassen Sie mich eines fragen. Welcher Art ist Ihre Einschätzung, bezüglich der von mir soeben erworbenen Ramones CD. Das würde mich doch sehr interessieren. ;-)
Auch wenn ich mich an dieser Stelle wiederhole, Nichts ist ein Mythos und erfährt seine Berechtigung einzig und allein dadurch, dass wir damit lediglich das Fehlen bestimmter Dinge zum Ausdruck bringen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Dinge spiritueller, körperlicher oder jedweder Art sind. Und weil Nichts nicht existent ist, könnte die Bezeichnung hierfür auch Tikki Takki lauten und es würde, sofern es sich in der Gesellschaft als allgemeingültige Benennung durchsetzt, gerade eben gereichen, den oben beschriebenen Umstand auszudrücken. Das ist keine Nigromantie, denn gäbe es ein Nichts, so hätte es einen Namen und wäre somit existent und in unserem Bewusstsein fest verankert. Ergo kann es auch die von Ihnen propagierte Mannigfaltigkeit des Nichts nicht geben, denn das eine bedingt das andere. Ich befürchte fast, Sie hängen einer veralteten Fragestellung an:
Wenn das Nichts nichts ist, wieso ist es dann da, wo nichts ist?

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kid37 - Donnerstag, 11. November 2004, 01:04
Ach, Sie sind ein ungestümer, junger Geist und reiten einen wilden, ungezähmten Hengst. Einen Mustang, der es liebt über eine weite Prärie zu preschen und dabei stolz seine Freiheit und Kraft ausprobiert. (Nächste Woche: "Was ist überhaupt "Freiheit"?)

Was ist Nichts, wiehert dieser reine Muskel aus Lauffreude und Gedankenkraft. Nichts ist nichts, nicht existent. Ein WikiTiki, so wie die weite Prärie, auf der ich laufe!

Da aber erschienen drei Gestalten am Horizont. Jean-Paul Monty-Roberts, der Pferdeflüsterer, Albert Kamu-Kamu, ein christianisierter Navajo und weiser Schamane, der mittels Kopromantie das Schicksal eines Wesens aus Pferdeäpfeln lesen kann, und The Kid, der gefährlichste Caféhausbetreiber westlich von Baltimore.

"Seht das sophistische Pferd am Horizont", flüsterte Jean-Paul Monty-Roberts (mehr als flüstern konnte er nicht). "Es flieht das Nichts", raunte Alber Kamu-Kamu. "Wir werden es bändigen und ihm schon zeigen, was es heißt, das Nichts", versetzte der Kid mit rauchiger Stimme und spuckte Tabak knapp neben seine Stiefelspitze.

Und so fingen die drei das Pferd aus dem Nichts. Der Kid ritt es zu, Jean-Paul gab ihm eine Existenz und Albert den Glauben. "Du kamst aus dem Nichts und fandest eine Existenz", riefen die drei. Der Mustang konnte nun als Postpferd reiten, Kutschen ziehen, Verantwortung tragen und war nicht mehr nichts. "Nun bin ich etwas, früher war ich nichts. Da ich aber früher auch schon war, nur unbestimmt, gibt es das Nichts!" wieherte das Pferd voll Freude und Lebenserkenntnis.

Die drei verkauften es Sisyphos, der wohl einen Job zu vergeben hatte, der irgendwas mit einem großen Stein zu tun hatte.

In die untergehende Sonne aber ritt das Trio und sang:
"We are three lonesome Cowboys, and it's a long way to Tippernothingness."

Das Nichts ist vor-existentiell und nicht in Begriffe zu fassen. Auf ähnliche Weise läßt sich auch jede gesellige Party mit der Suche nach einer brauchbaren Erklärung von "Unendlichkeit" in Fahrt bringen. Man kann es eben nicht fassen. Dieses aber lernt man bereits auf jedem anständigen Kindergeburtstag, wenn es darum geht, einen Apfel aus einer Schüssel mit Wasser nur mit dem Mund zu fassen. Es sind die Dinge, die man besser erfahren als erklären kann. Hat man es erfahren, weiß man, daß es da ist.

Ihre Ramones-CD scheint auch irgendwie "da" zu sein. Könnte ich nun in Ihren CD-Player schauen, wüßte ich auch welche Sie da haben. Spökenkiekerei aber kann ich nicht anbieten. Sie wissen ja, hier handelt es sich um ein hochseriöses Unternehmen. Gabba-Gabba-Hey!

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delacruze - Donnerstag, 11. November 2004, 11:51
Hossa mein staubiger Freund, ich zeige mich beeindruckt angesichts Ihrer starken Worte und ich danke für die positive Einschätzung meiner Person. Sie haben ganz recht, ich zeige mich gern kämpferisch, wenn es um Überzeugungen, speziell der Meinen, geht. Keine schlechte Eigenschaft (wie ich meine) in Zeiten wo political correctness, Konformismus und Angepasstheit zum Mass der Dinge erkoren wird und mehr über die formale Richtigkeit denn der Inhalte von Thematiken gefochten wird. Ich sehe Sie da als Bruder im Geiste. Vielen Dank auch, dass Sie so generös den Federhandschuh überlasen, denn richtig muss es natürlich Fehdehandschuh lauten. Ich könnte dieses auch erklären, tue ich aber nicht- mea culpa.
In der Wahl Ihrer halbseidenen Kumpane hatten Sie indes kein glückliches Händchen. Ein Scharlatan und ein Nepper, die Benennung ist beliebig. Freunde hätten Sie darauf aufmerksam gemacht, dass das Pferd bereits existent war und sie es nur und ausschließlich domestizierten. Da wo es herkam gab es etwas, nämlich ein Pferd oder auch viele. Insofern war das Nichts - in diesem Fall - ein Pferd oder eine Herde von solchen. Und gestatten Sie mir eine Frage, wie und wodurch macht es sich bemerkbar, das mir gerade NICHTS wiederfahren ist?
Ich schließe diese, mich verwirrenden Gedanken, mit den versöhnlichen Worten der weisen Königen, wonach Unglaubliches zu glauben nur eine Frage der Übung ist. Ich werde gleich damit beginnen.
Anthology heisst das Prachtstück. Mein Fehler, dass ich nicht darauf achtete, dass die Bewertung des Ganzen vom Gehalt des Einzelnen abhängig ist.
P.S. Ich liebe Ihr hochseriöses Unternehmen seit dem Anbeginn seiner Zeit. Kopromantie hat mir bisher am besten gefallen und fand Eingang in meiner Sammlung, Worte die keiner braucht, aber gut zu wissen sind.

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kid37 - Freitag, 12. November 2004, 20:51
Hej!
Sie meinen, ich stehe unter Beobachtung? Oha. Muß ich meine Worte also wägen, demnächst. Anthology klingt so, als seien da relevante Titel drauf. Gibt bestimmt Schwung. Ich war nie sooo ein Ramones-Fan, obwohl ich früher dünn genug gewesen wäre (ein Nichts sozusagen), um dort mitzuspielen.
Es gibt übrigens von den Cramps ein hübsches Zitat auf "Sheena Is A Punkrocker" - "Sheena (?) Is A Goth-Rocker". Muß ich nochmal raussuchen, nach all dem "Doll"-Gebastel ist mir grad danach.

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delacruze - Samstag, 13. November 2004, 01:08
Hej!
Wo haben Sie es denn ausgegraben, das Hej? Wieso nur beschleicht mich, mein lieber, sehr souverän Stilblüten treibender Freund, dass Gefühl, dass Sie sich stets und immer nur zur Hälfte zuerkennen geben. Sie sind ein gefährlicher Bursche.
Seit längerem schon, folge ich Ihren Pfaden, es war allerdings die wunderbare Cassandra, durch die ich mich leicht gerdängt fühlte, meine selbstgewählte Position des stillen Mitlesers aufzugeben, denn sie hat da etwas, dessen ich mir tikki takki im klaren bin.
Die Kompromanti hinterliess, sozusagen, ihre Spuren, als ich die Produktionsplanung selbiger bezichtigte. Amüsant, in der Tat.
Und was die CD betrifft, so ist diese eigentlich eine Doppelte und das sogar nahtlos. Sie enthält alle wichtigen Songs. War mehr so eine Art Spontankauf für 89,-SKR in der Krabbelbox, denn auch ich war nie sooo ein Ramones-Fan. Es freut mich aber, dass Ihr Urteil, wenn nicht begeistert, dann doch wenigstens nicht so vernichtend ausfiel, wie es zu erwarten war;-))

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kid37 - Samstag, 13. November 2004, 03:22
Stilblüten? Das sagen Sie mit dem "Federhandschuh"?
Das ist ja allerhand. ;-)

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delacruze - Montag, 15. November 2004, 09:08
Sei sollten die Stilblüte nicht als Affront betrachten, war es doch vielmehr als Kompliment aus tiefstem Herzen gemeint, denn die Stilblüte ist die Königin unserer Sprache. Immerhin existiert ein ganzer, hoch angesehenerBerufsstand, der sich nur mit dem Erstellen, Verbreiten und Rezitieren von solchen beschäftigt. Und einen Stilblütenkönig gibt es auch, alle 4 Jahre.
Weswegen ich mich allerdings melde, ist die Tatsache, dass ich, als selbstkritischer Mensch, mein Tun stets hinterfrage (einmal die Woche, nur um mir zu bestätigen, dass ich toll bin) und dabei auf einen Fehler in meine Argumtentation stiess. Ja, so etwas passiert.
Ich verbrachte mein WoE auf einem Baugerüst, welches ich selber erbaute, was ich als schöpferischen Akt verstehe, ähnlich dem Kinderzeugen, wobei bei Zweitem so Tun-als-Ob mehr Spass macht, als Erstes tatsächlich zu tun, die Folgekosten hier allerdings geringer sind und der Name auch schon fest steht. Baugerüst. Oder Melkschemel. Das hängt halt davon ab. Wie dem auch sie, als ich den possierlichen Schrauben beim Verschwinden zu sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen oder Spachtel an die Wand.
Lass Sie es mich wissen, wenn Sie geneigt sein sollten, meinen Ausführungen zu lauschen.
Bezüglich des Federhandschuhs muss ich Ihnen, meinen lieben filtertütenknickenden Freund, eine Rüge erteilen. Man tritt nicht nach Leuten, die schon am Boden liegen. Sei`s drum: mea maximum culpa! Aber das war es dann. Mehr gibt´s nicht zu diesem Thema. Auch nicht zukünftig.

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kid37 - Montag, 15. November 2004, 12:33
Das scheint mir jetzt etwas geschraubt.

Um die Zukunft werden wir alle noch ringen müssen. Stilvoll oder nicht. Und nun erstmal einen Kaffee.

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delacruze - Montag, 15. November 2004, 13:19
Meiner war auch nicht Schlecht. Der Kaffee.
Wenn Sie zu sehr um sie ringen, dann ziert sie sich. Einfach mal sein lassen und eine bisschen der Etikette fröhnen und es war auch geschraubt, sowohl als auch und mit was für einem drive....

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mcwinkel - Montag, 8. November 2004, 12:24
erstaunlich zeitlos...

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yvonnesonne - Montag, 8. November 2004, 12:30
vielen dank.

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richie - Donnerstag, 11. November 2004, 23:46
Etwas
Für Nichts, ob existent oder nicht, ist es doch so präsent, dass sich offensichtlich herrlich darüber palavern lässt. Schon ganz hübsch für Nichts.
Mit scheint, sobald wir etwas benennen, und Nichts wurde als Nichts benannt, existiert es.

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delacruze - Freitag, 12. November 2004, 09:35
Tikki Takki,Richie
"Nicht im Geringsten dasselbe!" sagte der Hutmacher. "Wie, du könntest eben so gut behaupten, daß "ich sehe, was ich esse" dasselbe ist wie "ich esse, was ich sehe."

"Du könntest auch behaupten," fügte der Faselhase hinzu, "ich mag, was ich kriege" sei dasselbe wie "ich kriege, was ich mag!"

"Du könntest eben so gut behaupten," fiel das Murmelthier ein, das im Schlafe zu sprechen schien, "ich athme, wenn ich schlafe" sei dasselbe wie "ich schlafe, wen ich athme!"

aus Alice im Wunderland

Hätte übrigens gern mal Ihren Zeitsprung gesehen:-)

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